Ablass der Nachhaltigkeitsschuld

Ablass der Nachhaltigkeitsschuld

Abschließendes zur „Micha-Initiative“

Der Name der Micha-Initiative leitet sich von Micha 6,8 aus dem Alten Testament ab: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.“ Vor zehn Jahren wurde die Initiative in Deutschland als Arbeitskreis der Evangelischen Allianz gegründet. Inzwischen ist „Micha“ ein eingetragener Verein (aber immer noch unter dem Dach der Allianz) und hat seinen Sitz nach Berlin verlagert.

Die Micha-Initiative will „Christen zum Engagement gegen Armut und für Gerechtigkeit motivieren“ und „das Erreichen der Millenniumsziele einfordern und unterstützen“. Diese wurden mittlerweile von den sog. Nachhaltigkeitszielen der UNO ersetzt. Nun soll danach bis 2030 „weltweit Armut beseitigt werden“. Seit einem knappen Jahr ist Stefanie Linner Deutschlandkoordinatorin der Initiative. In den Podcasts „Hossa-Talk“ #46 und 47 sprach sie ausführlich mit Jay und Gofi über „Micha“.

Eine Welt in Bedrängnis   

Laut Linner geht es der Micha-Initiative um „Glaube, Lebensstil und Politik“. Sie sei „generell für Gerechtigkeit zuständig“. Ausgangspunkt sind „Gottes Gedanken für Gerechtigkeit“, schließlich waren Christen „immer schon berufen für globale Gerechtigkeit“ (kritisch zum Gerechtigkeitsbegriff der Initiative vom Autor hier). „Micha“ will dabei keine Hilfsorganisation im klassischen Sinne sein, sondern jedem Christen „helfen, den eigenen Handlungsspielraum abtasten zu lernen“. Bewusstsein soll geschaffen, Horizonte erweitert werden. Es gehe der Arbeit der Initiative immer auch um sehr grundlegende Fragen wie „Was glauben wir eigentlich, was gutes Leben ausmacht?“ oder „Was macht mein Leben gut, erfolgreich und schön?“ „Micha“ habe dabei viel mit „innovativem Denken“ zu tun.

Viele große Worte und große Themen. Im ersten Teil des Podcasts wird es selten richtig konkret. Man erfährt noch, dass die Initiative einen Bildungs-Arm in die Gemeinden und einen Advocacy-Arm in die Politik hat. Warum nun aber „Micha“?

„Die Welt ist an einem ganz besonderen Punkt angekommen“, so Linner. Wir leben in einer „sehr verketteteten Welt durch unseren Konsum“; es seien „viele Entwicklungen passiert, die unsere Planeten ordentlich zugesetzt haben“. Die Welt ist „in Bedrängnis“.

In Teil 2 geht es dann endlich voll zur Sache. Wir könnten heute sogar 12 Milliarden Menschen ernähren, aber wegen „struktureller Gegebenheiten, die auch mit unserem Konsum zusammenhängen“, hungern immer noch 800 Millionen. Gofi daraufhin: „Willst du damit sagen: Unser Konsum in der westlichen Welt ist mitverantwortlich dafür, dass 800 Millionen Menschen in Armut leben?“ Linner bejaht dies noch bei der Fragestellung mehrfach und endet mit einem klaren „Ja. Punkt.“ Und weiter: „Weil wir ein Verhalten an den Tag legen und zwar jeden Tag, und ich sag da ganz bewusst wir, das absolut unnachhaltig ist und ungerecht. Weil es auf dem Rücken der Ärmsten in der dritten Welt ausgetragen wird. Dadurch, dass wir so ein überbordendes Luxusleben haben, und da muss ich keine Millionen im Jahr verdienen…“ Auch mit ihrem früheren bescheidenen Gehalt gehörte sie zu den Top-8%-Verdienern der Welt. Man müsse alles im Vergleich sehen.

Dem Podcast sei Dank wurde hier eine Kernvorstellung von „Micha“ formuliert, die offensichtlich grundlegend für die ganze Arbeit der Initiative ist: Der Buhmann, das große Übel und die Ursünde ist unser westlicher Konsum. Wir Reichen leben auf Kosten der Armen. Linner und die ganze Initiative hauen hier natürlich in eine altbekannte Kerbe: Stichworte Konsumismus, Liebe zum Mammon, „ich kaufe, also bin ich“ usw. usf. Ich würde Linner an dieser wichtigen Stelle jedoch eindeutig widersprechen und sogar das Gegenteil behaupten: Unser Verbrauch ist nicht das Grundproblem, und allen Einfachheitspropheten zum Trotz: unser Konsum ist letztlich auch ein Segen für die Welt.

Ja, ein Segen. Wenn der Durchschnittsdeutsche nicht Unmengen von Kaffee (und im historischen Maßstab sind es riesige Mengen) trinken und nicht weniger riesige Berge von Schokolade essen würde, gäbe es im Süden viel weniger anzubauen und zu produzieren. Wenn der neu zu Wohlstand gekommene Chinese nicht mit Vorliebe deutsche Autos kaufen würde, sehe es in den Fabriken in Wolfsburg und anderswo nicht nach Vollbeschäftigung aus. Wenn wir nicht gerne bei H&M und C&A und Marks&Spencer einkaufen würden, stünden in China und anderswo viele Bänder still. Nachfrage ist ein Produktions- und Wohlstandsmotor.

„Was ist das gute Leben?“, fragt Linner. Das wissen die meisten Leute auf der ganzen Welt – ohne dabei von schlauen Experten beraten zu werden. Jeder will sein Leben verbessern, angenehmer gestalten, sich von vielen Mühsalen befreien, schneller reisen, mehr kommunizieren usw. Und darin steckt an sich – trotz aller Rhetorik des „auf dem Rücken der Armen“ –  nicht Unmoralisches.

„Sollen alle so leben wie wir?“ Bei Linner ist dies eine rhetorische Frage. Ich würde entgegnen, und zwar weniger paternalistisch: Was wollen denn die Menschen weltweit? Und hier gibt es – „Micha“ hin, „Micha“ her – nur eine Antwort: Die allermeisten wollen so leben, wie wir im reichen Norden heute leben. Oder zumindest ähnlich. Die Entwicklung in China in den vergangenen drei Jahrzehnten zeigte dies. Von den verbalen Wohlstandsasketen, die im Grunde genauso leben wie ‘alle’, aber nun eben „bewusster“ oder „ganzheitlicher“, werden sie sich keine Vorschriften machen lassen. Wer im reichen Norden hier gleich oberkritisch einhakt, sollte auch den hunderten Millionen (Frauen) im Süden, die immer noch mit der Hand waschen, auch eine Waschmaschine zugestehen. Oder allen ein motorisiertes Verkehrsmittel.

Der mythische Fußabdruck

„Wenn alle so leben wie wir, dann ist das absolut erdzerstörerisch“, so die Hauptbegründung der Konsumkritik. Das „berühmte Modell vom ökologischen Fußabdruck“ wird von Linner genannt. Damit wird „wird die Fläche auf der Erde verstanden, die notwendig ist, um den Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen (unter den heutigen Produktionsbedingungen) dauerhaft zu ermöglichen.“ (Wikipedia) Es wird gemessen, wieviel Erdfläche ich mit meinem Lebensstil verbrauche bzw. in Anspruch nehme. Wenn die ganze Weltbevölkerung so leben würde wie die Deutschen, dann benötigten wir drei Erden. Man kann den persönlichen Fußabdruck hier feststellen. Mein persönlicher liegt demnach bei einem hochgerechneten Verbrauch von 2,9 Erden.

Der Konsum sei also das Problem, denn er zerstört die Erde. Also könne mehr Produktion, mehr Konsum usw. nicht die Lösung sein, im Gegenteil. „Haut den Entwicklungsländern ordentlich Wirtschaftswachstum vor die Haube, und dann gedeihen sie schon vor sich hin“, war die Devise, doch dann, so Linner, leidet dummerweise das Ökosystem; so könne man Wachstum nicht definieren und „die Welt nicht ansetzen“ – als „wirtschaftliches Entwicklungsmodell“.

Also kein Wirtschaftswachstum? Oder einzig das „nachhaltige“? Und was ist nun mit unserem Konsum? Ich hätte Respekt vor allen, die einen radikalen und konsequenten Asketismus und Konsumverzicht predigen und auch wirklich leben. Dies kann aus verschiedensten Gründen eine Option sein. Tatsächlich käme man nur mit sehr radikalen Maßnahmen im reichen Norden von 2,9 Erden auf 1,9 Erden. Oder gar auf eine. Auch bei „Micha“ wissen sie natürlich, dass kaum jemand dies will; die Christen in Deutschland wollen ihren Segelschein machen, in die Alpen zum Skifahren und mit dem Auto quer durchs Land fahren – und shoppen gehen. Wenn auch die etwas bescheideneren Varianten unseres Lebensstils ein „überbordendes Luxusleben“ seien, absolut ungerecht und daher absolut unmoralisch, dann müsste der moralische Schluss eigentlich lauten: schleunigst damit aufhören, aber wirklich aufhören. Doch es ist immer wieder dasselbe: Allen wird ein schlechtes Gewissen gemacht ohne die dem entsprechende Handlungsanweisung hinterherzuschieben (zum Gewissen auch im Beitrag „Sünde Smartphone?“).

Dabei ist das hohe Wohlstandsniveau kein grundlegendes Problem. Linner gibt – wie so viele – zu verstehen, dass die Armen arm sind, weil die Reichen reich sind; weil wir im reichen Norden uns im Wohlstand suhlen und diesen überbordenden Lebensstil haben, geht es anderen dreckig. Dies ist der Kern des „Nullsummenspiels“ – ein Denkfehler, der wohl nicht auszurotten, aber dennoch schlicht falsch ist. Hier mehr dazu. Die Logik des Nullsummenspiels führt dazu, dass die globale Armut primär als Verteilungsproblem gesehen wird; diejenigen, die ein größeres, zu großes Kuchenstück haben, müssen denen mit einem kleineren abgeben. Dieses Paradigma wird immer in die Irre führen.

Auch der Logik des ökologischen Fußabdrucks folgt man ähnlich schnell wie dem falschen Bild des einen Kuchens im Nullsummenspiels, der aufgeteilt wird; und da bekommen die einen ungerechterweise ein großes Stück ab und die anderen ein viel kleineres. Doch auch dies Konzept ist verfehlt. Es stimmt natürlich, dass hier und heute nicht alle sieben Milliarden exakt den Lebensstil der westlichen Welt praktizieren können. Ja, dafür bräuchten wir mehrere Erden. Aber was folgt daraus? Hat der reiche Norden einen gigantischen Fehler begangen, indem er sich gleichsam egoistisch auf den Weg zum Wohlstand begeben hat, um auf Kosten anderer zu leben?

Auto ist nicht gleich Auto

Die allermeisten Erdbewohner lebten bis zu Industrialisierung recht ähnlich, nämlich recht erbärmlich, auch in Europa. Man überlebte grad so, hatte ein Dach über dem Kopf, etwas Kleidung und freute sich über das tägliche Brot (oder den pampigen Getreidebrei). Doch dann änderte die Kohle in England alles. Seit dem 18. Jahrhundert lassen die Menschen immer mehr Maschinen für sich arbeiten, die von fossilen Energieträgern angetrieben werden. So konnten immer mehr Produkte immer billiger hergestellt werden. Dank Maschinen sind Fabriken entstanden, und Dank beweglicher Maschinen können Produkten über weite Entfernungen befördert werden. Wer diese Entwicklung als grundsätzlich falsch ansieht, ist – nebenbei bemerkt – auch ein Frauenverächter, denn Hans Rosling zeigt in seinem wunderbaren Waschmaschinen-Clip, welche Erleichterung diese Neuerung in der Familie seiner schwedischen Mutter und Großmutter mit sich brachte.

Der ökologische Fußabdruck wuchs im Norden also schon um 1800 gewaltig, und in der zweiten Hälfte des  19. Jahrhunderts wurde er immer breiter. Die Eisenbahn trat damals ihren Siegeszug an, angetrieben natürlich durch Kohle. Hätte man die Entwicklung damals stoppen sollen? Man hätte einwenden können: Wir können schließlich nicht die ganze Welt in ein Schienennetz verwandeln! Wo soll das hinführen, wenn alle mit der Eisenbahn fahren? Wird nicht die ganze Welt verpestet? Und heute wären wir so schlau und wüssten um den CO2-Ausstoß. Also besser keine weltweiten Eisenbahnen?

Der Grundfehler des Fußabdrucks ist, dass nicht richtig in die Zukunft geschaut wird, d.h. der technologische Wandel und Fortschritt wird nicht berücksichtigt (das war auch schon der Fehler von T.R. Malthus, der es aber kaum besser wissen konnte – anders als die Experten heute; hier mehr zu Malthus). Mit der Ausbreitung von Technologien, Produkten und Wohlstand wandeln sich auch die Produktionsbedingungen, d.h. es macht wenig Sinn, einfach von den „heutigen Produktionsbedingungen“ auszugehen. Eisenbahnen fahren allermeist nicht mehr mit Kohle, einige mit Diesel, aber sehr viele mit Strom. Dieser wird zum Teil auch noch mit Kohle produziert, aber eben nur zum Teil. Kohle hat noch große Bedeutung bei der Gewinnung von Elektrizität, aber im Verkehr und beim Heizen ist sie auf dem Rückzug. Energie wird immer stärker aus nichtfossilen Quellen gewonnen. Um 1850 hätte es absolut nichts gebracht, hätte man aus vermeintlich prophetisch-ökologischer Einsicht auf die Weiterentwicklung der Bahn verzichtet. Der richtige Weg war und ist, diese Technologien zu nutzen und weiterzuentwickeln und damit auch umweltverträglicher zu machen.

Ähnliches gilt ja für das Auto. Die ganze Welt vertrüge es nun wirklich nicht, wenn alle Erdbewohner sich so wie wir heute im Norden fortbewegen. Natürlich nicht! Doch wenn einst die ganze Welt in einer abgeschlossenen Kiste fahren wird, dann wird dies wohl keine Dieselschleuder sei, sondern ein Elektroauto oder sonst ein innovatives Produkt. Vielleicht tatsächlich von Google? Es werden nie alle Menschen genau so leben, wie wir heute. Wenn viele früher Ärmere ein höheres Wohlstandsniveau erreicht haben werden, wird dies anders aussehen als noch heute. Noch einmal zu den Autos: sie waren vor einhundert Jahres aus heutiger Sicht wahre Dreckschleudern. Hätte man damals hochgerechnet, was passiert, wenn Milliarden (wie nun) einen Pkw besitzen, hätte man sich dies nicht vorstellen können. Heute sehen wir, dass Massenmotorisierung durchaus möglich ist.

Was soll ich persönlich tun? Darf ich ein Auto kaufen? Darf ich einen Billigflieger nutzen? Gern und oft? Aber was macht das mit meinem Fußabdruck? Der muss doch schließlich klein bleiben. Es bringt den Armen allgemein nichts, aber auch gar nichts, wenn ich asketisch Ryanair, easyJet und Eurowings boykottiere, im Gegenteil. Das immer weiter steigende Flugaufkommen drängt die Flugzeughersteller zu immer verbrauchsärmeren Fliegern. Ohne Nachfrage und Wachstum gäbe es keinerlei Mittel, um in Forschung und Entwicklung zu investieren. Zurzeit droht der Lkw-Verkehr in Mitteluropa Überhand zu nehmen. Aber auch hier ist schon absehbar, dass dereinst (wie in diesen Tag auf einer Teststrecke in Schweden) die Laster unter Oberleitung mit Strom fahren werden – oder was immer sich schlaue Ingenieure in der Zukunft ausdenken werden.

Durch technologischen Fortschritt und Massenfertigung wird alles tendenziell immer billiger. Wir können uns immer mehr leisten und immer mehr konsumieren. Diese Entwicklung ist im Grund positiv und in keiner Weise moralisch verwerflich. Schließlich nimmt unser Konsum nicht einfach an Masse zu, sondern wird qualitativer, gleichsam intelligenter. Dass alles, was wir tun, und damit auch unser Arbeiten, Erfinden, Produzieren, Verbrauchen usw. in Teilen auch negative Auswirkungen hat, sollte jedem klar sein. Diese Folgen können wir aber ebenfalls dank unseres Erfindungsreichtums oftmals bewältigen, auch wenn es unter Umständen lange dauert. So verschlechterte sich ja in den europäischen Großstädten durch das geradezu explosive Wachstum, Fabriken, Verkehr usw. die Wasserqualität drastisch. Epidemien wie Cholera waren die Folge. Heute kann dort das Wasser aus dem Hahn getrunken werden.

Der ökologische Fußabdruck ermahnt indirekt zum drastischen Runterfahren des Lebensstils. Denn man mache sich nichts vor: Transfairkaffee kaufen, auf Ökosiegel achten, öfter mal auf den Markt gehen und saisonale Produkte kaufen, mehr Radfahren und bei IKEA die Herkunft der Möbel untersuchen – all das bringt letztlich für die erhoffte Fußabdruckverkleinerung kaum etwas. Es geht hier vielmehr vor allem um Gewissenskosmetik. „Everything must change“ (B. McLaren) klingt ja noch gut, aber für den eigenen Lebensstil gilt dies ja meist nicht. Auch Linner bedrängt die Welt immer noch fleißig mit ihrem Konsum, der vielleicht nur ein bisschen nachhaltiger als der des Durchschnittsdeutschen ist, und auch der evangelikale Vorzeige-Asket Shane Clairborne hat wohl einen nicht zu kleinen Fußabdruck, jettet er doch für seine Vorträge durch die Gegend…

Konsumreduzierung auf breiter Front und als moralische Grundforderung wird uns nicht weiterhelfen. Die angesprochenen globalen Probleme werden dadurch nicht gelöst. Es ist eben ganz und gar nicht problematisch, wenn ich Produkte vom anderen Ende der Welt kaufe. Was haben die Industriearbeiterinnen in Ostasien davon, wenn ich ihre Kleidung, ihr Spielzeug und ihre Elektronik aus hohem ethischem Antrieb nicht mehr kaufe? So gut wie gar nichts. Die immer intensiveren internationalen Handelsströme sind ein Kern unser Wohlstandsmaschine. Und der Fußabdruck des internationalen Fernverkehrs ist auf die einzelnen Produkte runtergerechnet inzwischen so klein geworden, dass man ihn fast schon vernachlässigen kann.

Fazit: Die ganze Welt kann und wird so leben wie wir, aber sie wird dies auf andere, ‘bessere’ Weise tun. Tatsächlich nähern sich die Lebensbedingungen weltweit weiter an, die globale Ungleichheit nimmt nicht zu (s. dazu „Vom Dromedar zum Kamel zum Dromedar“).

Das reduzierte Leben?

Verzicht ist damit nicht bedeutungslos geworden und für Christen in mancher Hinsicht geboten. Wir sollen von unserem Wohlstand abgeben. So fordert auch Artikel 9 der Lausanner Verpflichtung zum Geben auf: Wir sollen „großzügiger zur Hilfe und Evangelisation“ beitragen. Es heißt dort aber auch, dass wir zu einem „einfachen Lebensstil“ verpflichtet sind. Ich glaube jedoch nicht, dass die natürliche Konsequenz des Gebens und Teilens automatisch und immer ein wirklich einfacher Lebensstil sein muss. Wer viel von seinen Gütern an die Notleidenden abgibt, wer seinen Besitz aufteilt, der wird ganz einfach nicht sehr reich bleiben. Doch stimmt dies tatsächlich? In gewisser Weise hat ein z.B. Schwerreicher, der spendet und abgibt, dann etwas weniger zum Konsumieren, doch begibt er sich damit auf ein niedrigeres, gedrosseltes Wohlstandsniveau? Vielleicht im Einzelfall. Ist er aber dazu verpflichtet? Ich bezweifle es. (Mehr dazu hier.)

Jeder Christ ist zu Zufriedenheit, Großzügigkeit und Dankbarkeit berufen. Für die meisten von uns ist es das Allerbeste, sich mit einem einfachen, d.h. normalen Wohlstandsniveau zufrieden zu geben und sich nicht gierig nach mehr zu sehnen. Doch ich kann nicht erkennen, dass das „einfache und reduzierte Leben“ (Linner) ein wirkliches Gebot an alle Gläubigen ist. Dennoch ist es nur zu loben, wenn Christen auf eine Urlaubsreise oder das dickere Auto oder die neuste Mode freiwillig verzichten, um Anderen etwas Gutes zu tun. Unsere Gesellschaft, unsere Kirchen leben von diesem Geist des freiwilligen Abgebens. Aber auch hier gilt: Ein hohes Wohlstandsniveau macht auch mehr Abgeben möglich. Sicher könnten z.B. deutsche Christen noch mehr helfen, aber man kann ja auch einmal positiv festhalten, dass sicher noch nie in der Weltgeschichte global anderen, an sich ja völlig fremden Menschen so viel geholfen wurde.

Die Ethik geht vor die Hunde

„Wer ist mein Nächster?“ Laut Linner sei diese Frage „noch nie so relevant und auch gefährlich wie heute“. Durch die „globalisierten Lieferketten“ sei „jeder mein Nächster“, was eine „komplett neue Art, die Welt zu verstehen und zu sehen“ darstelle. Wenn „jeden Tag Leute verrecken und ich da unmittelbar mit dranhänge“, dann sind viele Dinge, die uns auch in den Gemeinden wichtig sind, nur Randfragen.

Linner weiter: „Wenn Gott das wirklich mit seiner Ebenbildlichkeit so gemeint und so gemacht hat, dann muss dies heißen – immer der Ernstfall und die Frage: Haben die Menschen, die sonst irgendwo auf den anderen Erdteilen leben, den gleichen Zugang zu den Ressourcen wie ich? Haben die die Möglichkeit, ihre basalen Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen?“ Wenn das nicht so ist, müsse man sich zuerst nach dem eigenen Lebensstil fragen. Das „einfache und reduzierte Leben muss sich immer beziehen auf das große Ganze.“

Sind wir im reichen Norden „unmittelbar“ verantwortlich für das Sterben im Süden, weil wir durch globale Vernetzung da „mit dranhängen“? Wenn wir alle „auf dem Rücken“ (s.o.) der Armen sitzen, müssten wir dann nicht sofort runter von diesem Rücken? Mit dem Morden aufhören? Wenn wir denn einen verbrecherischen Lebensstil pflegen, sollten wir dann nicht schleunigst eine richtige Kehrtwende hinlegen? Es gehe aber nicht um „Öko-Dogmen“, so Linner. Die Micha-Koordinatorin fordert nur, dass man sich auf den Weg mache und mit der gemeindlichen Praxis der kleinen Schritte beginnt.

Von dieser Art der Ethik halte ich überhaupt nichts, ja ich würde sogar behaupten, dass dadurch die Ethik durch Überdehnung vor die Hunde geht. Bin ich persönlich tatsächlich in diesem umfassenden Sinn global verantwortlich, ist wirklich „jeder“ mein Nächster, dann müsste ich eigentlich entsprechend handeln (zur Verantwortung mehr hier). Wenn jedoch jeder mein Nächster ist, ist gar keiner mehr mein Nächster; wenn ich ‘überall’ handeln müsste, tue ich am Ende so gut wie gar nichts mehr. Die Sozialethik in der „Micha“-Couleur hat den edlen Begriff der Verantwortung verhunzt, so dass nunmehr kaum noch jemandem klar ist, was wirklich persönlich zu tun ist. Außer Transfairkaffee kaufen. Und sich um eine „ökofaire Beschaffungspraxis“ in den Gemeinden zu kümmern. (Mehr zur Frage des Nächsten bzw. der Nächstenliebe hier und hier.)

Ich kann daher nicht erkennen, dass „Micha“ den Christen in den Gemeinden wirklich helfen würde, klare Verhaltensmaßstäbe im Hinblick auf Armut zu lernen. Im Gegenteil. Auch die Gerechtigkeitsbibel hilft hier ja wenig weiter (Kritisches hier). Was habe ich davon, dass ich nun weiß, dass die Bibel an X-Stellen von diesem und jenem spricht, von Armut und Reichtum, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit? Natürlich tut sie das. Interessant sind doch aber die entscheidenden Zwischenschritte: Welche Ethik ist daraus für uns heute abzuleiten? Und Ableiten meint nachvollziehbar begründen.

„Micha“, so scheint mir doch, ist leider auf der völlig falschen Fährte. Man hat dort nicht erkannt: Armut ist ein Produktions-, kein Verteilungsproblem. Was schafft Wohlstand? Und was hat bisher schon dazu geführt, dass der Planet nicht nur eine Milliarde, sondern sage und schreibe sechs Milliarden gut ernährt? Wie ist es denn zu diesem Wunder gekommen? Es ist recht einfach: Arbeit, Fleiß, Unternehmertum, Investitionen und gute Ideen und nochmals gute Ideen. Unsere menschliche Kreativität, unser Reichtum an Ideen, braucht einen Raum der Freiheit, in dem die Ideen sich untereinander befruchten und sich aneinander reiben können; und am Ende stehen neue Produkte, die auf Märkten getestet werden, so dass die weniger guten ausgeschieden werden. Das ist eine Skizze des demokratischen (rechtsstaatlichen) Kapitalismus. In den freiheitlich geprägten Ländern des Nordens konnte er sich durchsetzen. (Mehr über die „Große Transformation“ hier.)

Anreize zum fleißigen und intelligenten Arbeiten – das, was uns wirklich voran bringt, wird bei „Micha“ so gut wie gar nicht thematisiert. Daneben steht natürlich das großzügiges und freiwillige Abgeben von erworbenem Reichtum, Taten der Barmherzigkeit, Nothilfe, gemeindliche Diakonie, Spenden an Hilfswerke, doch leider wird über das englische „charity“ in „Micha“-Kreisen fast schon die Nase gerümpft. Das sei ja wohl zu wenig; man müsse doch an die Strukturen und die globalen Zusammenhänge ran. Diese Wohltätigkeit, die schon eine lange Geschichte in der westlichen Welt hat, wird nur zu oft schlecht gemacht. Dabei hat sie mitunter Großartiges bewirkt – ohne dass man sich die „Weltgemeinschaft“ auf die Fahnen geschrieben hat. Neben „charity“ darf die gegenseitige Hilfe in Selbsthilfe- und Arbeitervereinen nicht unerwähnt bleiben. Vor der Etablierung des modernen Wohlfahrtsstaates gab es in einigen Ländern eine Wohlfahrtsgesellschaft, in der Hilfe zivilgesellschaftlich z.B. in den „friendly societies“ organisiert wurde (s. Stephen Davies‘ Vortrag dazu hier).

Als dritte Säule der christlichen Antwort auf das Armutsproblem sind Institutionen oder Ordnungen Gottes zu nennen. An erster Stelle stehen hier die Familie und die Kirche, denn sie reichen die Werte und Tugenden weiter, die Menschen zur Kultivierung, Weiterentwicklung und Bewahrung der Schöpfung und zum Abgeben von Reichtum anhalten.

Das Kerngeschäft der Kirche

„Micha“ hat  einen Advocacy-Arm, der sich an die Politik richtet („machen Sie mal was“; hier mehr dazu), und einen Gemeinde-Arm. In die Kirchengemeinden trägt die Initiative letztlich nur Verwirrung über ihre Aufgaben, so muss man leider befürchten. Man betrachte z.B. nur, wie mit Aussagen von Rolf Hille im zweiten Teil des Talks umgegangen wurde.

Hille hat vor zwei Jahren bei einer Vorlesungsreihe zum Thema Transformationstheologie an der STH in Basel die Verkündigung des Evangeliums für zentral in den Gemeinden erklärt. Im Talk wird Hille aus einer TOPIC-Meldung zitiert: „Nur Christen können evangelisieren, soziale Arbeit können alle machen. Prediger dürfen nicht von politischen Maßnahmen aufgesogen werden. Die Verschiebung von Verkündigung zur sozialen Arbeit ist eine Verführung von Theologen.“

An diesen Aussagen lassen Linner und die beiden Talker kein gutes Haar. Eine „kognitive Hemmschwelle, wenn’s um das sowohl-als-auch geht,“ wird bei Hille und anderen diagnostiziert. Warum ist es so schwierig, in der frommen Welt politisch zu sein? Warum wird der Welt von vielen Evangelikalen keine Hoffnung mehr gegeben? Gehören Verkündigung und verantwortliches Handeln nicht zusammen? Linner wendet sich gegen Arroganz derer, die behaupten, man wisse doch genau, wie es in der Bibel steht.

Es ist beeindruckend, mit welcher Arroganz Linner und Gesinnungsgenossen den prominenten Evangelikalen Hille hier runterputzen. Man macht sich nicht die Mühe, ihn auch nur im Ansatz verstehen zu wollen. Hille, immerhin ehemaliger Vorsitzender der Evangelischen Allianz und immer tiefschürfender, solide argumentierender Autor, hat überhaupt nichts gegen soziales Handeln, politische Aktivität, Armenhilfe usw. Er wollte einfach nur unterstreichen, dass die Hauptaufgabe der Kirche als Einrichtung Gottes die Verkündigung des Evangeliums ist. Nicht alles, was gut und notwendig ist, kann und muss von der Kirche getan werden. Im Talk und sonst bei „Micha“ wird kaum unterschieden zwischen den Aufgaben, die einzelne Christen (und in Interessengruppen zusammengeschlossene Christen) tun sollen, und dem Dienst, der der Kirche als Organisation oder Institution anvertraut ist. Christen sollen in die Politik gehen, aber die Kirche soll keine Politik machen. Natürlich ist diese Unterscheidung nicht scharf; auch die Kirche kann sich politisch äußern. Aber Politik ist eben nicht ihr Kerngeschäft.

Moderner Ablass

„Micha“ suggeriert den Christen: Wir sind schuld. „Wo kann man bei uns eigentlich guten Gewissens einkaufen?“ ist eine dieser suggestiven Fragen (meine Antwort: wir können fast überall mit gutem Gewissen einkaufen). Wir konsumieren grundsätzlich falsch. Wir laden Nachhaltigkeitsschuld auf uns. Die ist viel passender als noch die Armutsschuld, denn die extreme Armut verschwindet nach und nach. Und da fast keiner seinen Lebensstill so radikal reduziert, dass er oder sie von dieser Schuld freikommt, muss ein Ablass her.

Ist es Zufall, dass Teil 1 des Talks mit Finanzen und Unterstützung beginnt – für „Hossa“. Und am Ende des zweiten Teils: „Ihr [von „Micha“] braucht Geld“. Linner ergänzt unverblümt: und das „nicht zu knapp“. Weil auch „Hossa“-Talker und „Micha“-Mitarbeiter nicht auf Hartz IV-Niveau leben wollen und gewiss unter den „Top-8%-Verdienern der Welt“ bleiben wollen; weil sie im Prinzip ähnlich wie die anderen Deutschen leben wollen, mit einem zu dicken Fußabdruck und auf dem Rücken der Armen.

„Wenn es Euch wichtig ist, dass Christen politische und soziale Arbeit machen, dann unterstützt Micha!“ Politischer und sozialer Einsatz von Christen ist gut und zu fördern, aber wozu braucht es da die Micha-Initiative? Bringt sie den Gemeinden konkreten Nutzen? „Verstehen lernen, wie’s gedacht, wie’s gewollt ist von Gott“ (Linner) – ja, darum geht’s. Doch „Michas“ Analyse der Probleme halte ich für im Kern falsch. Und es gibt gute Alternativen! „PovertyCure“ des Acton Institutes setzt genau die richtigen Akzente. Auch Wayne Grudems Buch zeigt wahre Wege aus der Armut auf. Diese Liste ließe sich problemlos verlängern.

In der vergangenen Woche postete Allianz-Generalsekretär Harmut Steeb auf Facebook: „intensiven Gesprächsaustausch mit der Micha-Koordinatorin Stefanie Linner, in Berlin.“ Armut und Gerechtigkeit, Politik und Soziales, globale Probleme und globaler Segen – es wird höchste Zeit, dass die deutsche Allianz auch einmal intensiven Gesprächsaustausch mit Fachleuten aus dem christlichen und evangelikalen Spektrum führt, die an die wichtigen Themen ganz anders als Linner herangehen. „Micha“ braucht im deutschsprachigen Raum dringend Konkurrenz! Wann wird endlich das Monopol von „Micha“ für Fragen der Armut und Gerechtigkeit gebrochen? Und warum nicht auch mal kreativ (innovativ!) weiterdenken: „Micha“ dichtmachen und die freiwerdenden Mittel an gute Hilfsprojekte weiterleiten? Ich wäre für eine solche Reformation wider die die Ablasshändler der sozialen Gerechtigkeit.

Hier noch ein guter Beitrag zum Thema von Steven Horwitz: