Wer ist mein Nächster?

Wer ist mein Nächster?

Auszug aus einer Vorlesung Holgers zur Gottes- und Nächstenliebe:

Nicht nur den Guten, Schönen und Würdigen

Wer ist nun der Nächste? „Nächster“ hat in der Bibel eine breite Bedeutungspalette, kann Verwandte, Freunde, Kameraden, Angehörige der Sippe, Mitmenschen meinen. Gerade im AT überlappen „Nächster“ und „Bruder“ oft stark. In unserem Kontext meint das Wort immer „der Mensch, der mir begegnet“, wobei das Begegnen nicht zu eng gefasst werden darf. Christen sollen grundsätzlich bereit sein, jedem Menschen Gutes tun (Gal 6,10). Ansonsten taucht die wenig konkrete Formel „liebet alle Menschen“ nicht in der Bibel auf (nur 1 Thes 3,12 geht in diese Richtung). Christen sollen ihre Geschwister in besonderer Weise lieben (Joh 13,4–15; Apg 4,32; Röm 12,10; 1 Thes 4,9; 1 Joh 3,14.16; 4,20–21; 1 Pt 1,22; 2 Pt 1,7; Hbr 13,1). Darüber hinaus kann jeder Mensch in Not, jeder Schwache oder derjenige, der meine Hilfe braucht, zu meinem Nächsten werden.

Wohl am besten ist die Nächstenliebe natürlich im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter veranschaulicht (Lk 10,25–37; s. o. Rembrandts Gemälde). Der Samariter trifft auf den Ausgeraubten, empfindet Mitleid, und er handelt. Die Geschichte zeigt, dass zur Liebe erstens das Sehen der Not des Nächsten, das Wahrnehmen seiner Bedürfnisse, und zweitens die konkrete Hilfe im Alltag mit den jeweiligen Gaben und Fähigkeiten gehört.

So auch Klaus Bockmühl: Gefordert ist die „Aufmerksamkeit für die Not des Nächsten“; und es geht um „Lebenserhaltung“ des Menschen in Not. „Wir sollen seinen Grundbedürfnissen Rechnung tragen“ und „dem Nächsten dienen mit den besonderen Gaben, mit denen Gott uns ausgestattet hat“. Er fasst zusammen: „Die christliche Liebe unterscheidet sich von ihrem antiken Gegenbild dadurch, dass sie nicht nur das Gute, Schöne, Würdige, Nützliche oder Artverwandte liebt; sie stellt überhaupt nicht zuvor eine Wertrechnung an… Sie gilt jedem Menschen, der unserer Hilfe bedarf ohne Ansehen der Person…“ (Das größte Gebot) Bockmühl betont, Luther zitierend, dass wir diese Gaben „dem Dienst der Liebe“ schulden (s. Röm 13,8): „So gehört mein Wissen nicht mir, sondern denen, die unwissend sind; ich schulde es ihnen. Ebenso gehört meine Weisheit den Törichten, meine Macht den Unterdrückten, mein Reichtum den Armen und meine Gerechtigkeit den Sündern“. Nächstenliebe bedeutet daher oft auch Verzicht und Opfer, ist das Gegenteil von Egoismus und Lustprinzip.

Heiner Geissler fasst gut (in einem sonst nicht zu empfehlenden Buch) zusammen: „Ich bin der Nächste auch für den politischen Gegner, den Andersdenkenden, den Fremden, wenn er in Not gerät: das Liebesgebot sprengt alle nationalen, rassischen und religiösen Grenzen. Die zentrale Botschaft [der Geschichte vom barmherzigen Samariter] ist die Pflicht zum Helfen, und zwar gegenüber jedem, der in Not ist.“ (Was würde Jesus heute sagen?)

Fernstenliebe statt Nächstenliebe?

Der Nächste ist der mir Nahe. Wie ist diese Nähe heute zu verstehen? Luther deutete das Gebot so: „Wer ist der Nächste? Gewiss doch mein Geselle, Obrigkeit, Vater, Schwester, Bruder, Weib und Kinder.“ Nächstenliebe sah er also vor allem als häusliche Frömmigkeit: die uns nahestehenden Menschen lieben, sowohl die jüngeren, als auch die älteren, die uns anvertraut sind. Im 16. Jahrhundert machte dies viel Sinn, denn der Horizont der allermeisten Menschen reichte tatsächlich nicht viel weiter.

Jahrhunderte später warnte Dietrich Bonhoeffer davor, es sich (Luther falsch deutend) zu leicht zu machen und sich „aus der freien Luft der Verantwortung in die Enge bequemere Pflichterfüllung“ zu flüchten. „Auch das Gebot der Nächstenliebe bedeutet also nicht eine gesetzliche Beschränkung der Verantwortung auf den räumlich, bürgerlich, beruflich, familiär Nächsten, der mir begegnet. Der Nächste kann gerade im Fernsten und der Fernste im Nächsten sein.“ (Ethik) Er nennt als Beispiel die Reaktion auf ein klares Fehlurteil gegen neun junge Schwarze in den USA, denen die Todesstrafe drohte. Ein „führender Kirchenmann“ in Deutschland sah sich jedoch mit Hinweis auf den lutherischen Berufungsgedanken leider zu keinerlei Protest herausgefordert.

Zu Luthers Zeiten bestand die ‘Welt’ der Menschen eben fast nur aus der eigenen Sippe und dem heimischen Dorf. Beginnend mit dem Telegraphen vor gut einhundertfünfzig Jahren ist die Welt immer mehr ein mediales Dorf geworden. Besonders durch Film, Fernsehen, Internet rückt uns heute die Not physisch weit entfernter Mensch mitunter auf den Leib oder genauer: vor die Augen. Die Frage nach der Identität des Nächsten stellt sich so neu. Die Grenzen der Verantwortung sind neu zu ziehen.

Doch wie weit? Nun wird gerne globale Nächstenliebe und globales Engagement gefordert. Vielfach wird heute betont, dass Nächstenliebe allen Menschen gelten soll. Der Raum der Nächstenliebe wird oft gewaltig ausgeweitet. Als Beispiel sei hier der Dokumentarfilm „58“ genannt. Er nimmt den Zuschauer hinein ins Leben von bettelarmen Menschen in Äthiopien, Indien, Brasilien und anderswo. Es wird auch geschildert, wie Christen Zeichen der Hoffnung setzen, Gemeinden Not lindern, Trost spenden, nach Auswegen aus dem Elend suchen.

Zwischen den Episoden schlägt der Leiter des US-Zweiges des Hilfswerkes „Compassion“, Wess Stafford, die Brücke zur Bibel und spitzt die Botschaft des Films deutlicher zu. Auf den Spuren Jesu in Israel erläutert natürlich auch er das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Der Steinbrucharbeiter ist wie der Verletzte an der Straße beim Samariter. „Die christlichen Gemeinden und Kirchen müssen ein barmherziger Samariter für sie sein.“ Was soll dies nun konkret für den Zuschauer heißen? Niemand will sich in der Rolle des vorbeigehenden Leviten oder Priesters wiederfinden. Bin ich also verpflichtet, den im Film gezeigten Menschen genau so zu helfen wie dies der Samariter mit dem Überfallenen tat?

Was ist unsere konkrete Verantwortung? Das Gleichnis Jesu ist da noch eindeutig. Es beantwortet die Frage „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10,29). Jeder Mensch in Not, dem ich begegne, kann dies werden, und dies gilt unter Umständen gewiss auch für einen geographisch weit entfernten Menschen. Stafford weitet den Verantwortungsbereich jedoch stark aus: Er will offensichtlich nicht nur erreichen, dass sich Einzelne durch die Geschichten ansprechen und motivieren lassen; vielmehr müssen die christlichen Gemeinden und Kirchen etwas tun. Für jeden, der so arm ist wie der indische Steineklopfer Sanjiv im Film? Aber ist das wirklich die Aussage von Lk 10,25f? Soll dort wirklich in dieser pauschalen Weise die globale Verantwortung der Kirche für die Armen bekräftigt werden?

Man sieht nun in der Regel recht klar (anders noch als der „Kirchenmann“ bei Bonhoeffer), dass wir nicht von vornherein nach Kriterien wie der Verwandtschaft, der geographischen Nähe oder dem moralischem Verhalten Menschen den Status als Nächstem verweigern können. Aber im Bemühen um globale Weite und Verantwortung verheddert man sich jedoch nur zu oft in der Frage um die konkreten Handlungsaufforderungen. Meist wird nicht beachtet, dass die Nächstenliebe im Kern ein individuelles und partikuläres Gebot ist.

Ein weiteres Beispiel. Im Referat Nr. 4 des Just People?-Kurses (der Micha-Initiative) heißt es: „Mein Nächster ist der, der ungerecht behandelt wird. Dazu ein Beispiel: Der Plantagenarbeiter in Afrika, die Kleidernäherin in Bangladesch oder der Arbeiter in einer chinesischen Computer-Fabrik wird in gewisser Weise zu meinem Nächsten, weil ihre oder seine Produkte bis zu mir gelangen. Wollen wir uns also eine Tafel Schokolade, ein T-Shirt oder einen PC kaufen, sollten wir dann nicht auch nach Herstellungsbedingungen und ökologischen Zusammenhängen fragen?“

Unter Umständen kann es tatsächlich so sein, dass ich um der Nächstenliebe willen auf ein bestimmtes Produkt verzichten sollte, weil man sich an den Arbeitern, die es unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt haben, mitschuldig macht. Doch dies werden gewiss nur Einzelfälle sein. Bei mitunter zig, ja hunderten Kaufentscheidungen täglich und teilweise äußerst komplexen Herstellungswegen ist es uns sowieso kaum möglich, diesem so breit formulierten Gebot in irgendeiner Weise konsequent nachzukommen. Denn ich bin durch den Konsum mit unter Umständen vielen tausend ‘Nächsten’ verbunden. Hier gilt es festzuhalten: mein Nächster ist nicht jeder, der ungerecht behandelt wird, und auch nicht jeder Arbeiter in Ghana, Bangladesch oder China.

Im Just People?-Kurs heißt es schließlich dort unter „100 Tipps für ein gerechteres Leben“: „Ich erweitere die Nächstenliebe zur Fernstenliebe.“ Ja, auch der geographisch Fernste kann heute zum Nächsten werden (s.o. Bonhoeffer; den Begriff „Fernstenliebe“ erfand wohl Friedrich Nietzsche). Doch dann ist er eben in mancherlei Hinsicht nicht mehr der Ferne (wenn er es auch physisch bleibt). Darum geht es ja Filmen wie „58“: Das Schicksal von weiter entfernt lebenden Armen soll uns nahe gebracht werden, so dass wir dann potentiell zu ihren Nächsten werden. Dafür sollten dann aber auch konkrete Lösungs- und Handlungsoptionen vorgelegt werden, so dass der Angesprochene abwägen kann, ob er oder sie mit den eigenen Gaben und Möglichkeiten zum Helfen berufen ist. Die Hilfe der griechischen Christen für die notleidenden Geschwister in Jerusalem (2 Kor 8) ist hier wohl ein erstes Beispiel für ‘ferne’ Nächste.

„Fernstenliebe“ im eigentlichen Sinne ist nicht möglich, denn zur Liebe gehört auch ein Element der persönlichen Affektion und Zuneigung, des Mitleids und Mitgefühls. In einem Referat des Just People?-Kurs wird gefragt: „Wie sehr nimmt es uns mit, dass alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger und damit verbundenen Krankheiten stirbt – noch bevor es seinen fünften Geburtstag gefeiert hat?“ Es wird gleich eingestanden, dass  man mit denen mehr mitfühlt, „die einem irgendwie näher stehen, mit denen man eine Lebenswirklichkeit oder einen Kulturkreis teilt.“ Und es wird gefragt: „Wie können wir mit so vielen Menschen gleichzeitig mitfühlen?“ Hier wäre es sinnvoll, klare Antworten zu liefern: Natürlich können wir es nicht. Vor solch einem Schluss schreckt man jedoch zurück – und ein diffuses schlechtes Gewissen bleibt zurück.

„Kreise der Verantwortlichkeit“ und „moralische Nähe“

Was ist nun zu tun? Zu beginnen ist sicher mit der existentiellen, persönlichen Dimension. Martin Bühlmann macht hierzu im Kapitel „Gerechtigkeit“ des Just People?-Kurses gute Ausführungen. Der Vineyard-Koordinator im deutschsprachigen Raum betont ganz richtig: „Wir müssen unsere Herzenshaltung überprüfen“. Er hält fest: „Ich bin als Einzelner herausgefordert, mich in meiner Umgebung umzusehen und auf die Not, die mir begegnet, zu reagieren. Vielleicht wohnt ja nebenan so eine alleinerziehende Mutter, die froh wäre, wenn ich ihre Kinder hüten würde. Wir sehen also, dass es darum geht, die Augen offen zu halten und berührbar zu bleiben.“ Und am Ende resümiert der Schweizer: „Das Wissen um die Not meiner Nächsten bringt Verantwortung mit sich. Ich bin nämlich herausgefordert, mich mit dieser Not auseinanderzusetzen und nach bestem Wissen und Gewissen diese meine Nächsten zu lieben – mit all meinen Möglichkeiten!“ Bühlmann konkretisiert diese Verantwortung leider nicht weiter, aber seine Betonung des individuellen und persönlichen Aspekts ist nur zu begrüßen.

Wieso habe ich aber nun Verantwortung für diese konkrete alleinerziehende Mutter? Weil, so können und müssen Christen sagen, Gott sie mir vor Augen geführt hat. Gott stellt uns in bestimmte Situationen hinein, in denen dann unser Auftrag der Nächstenliebe konkret wird. „Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu“, so in Pred 9,10. Ich bin nicht verantwortlich für ‘alles’, sondern für das, was Gott mir vor Augen und Hände stellt, vor die Füße legt. Hier ist also von seiner Vorsehung (oder seinem Ratschluss) zu reden, durch die er alles lenkt. John E. Hare spricht in diesem Zusammenhang von „providential proximity“, von Nähe, die durch Gottes Vorsehung („providence“) hergestellt wird. Gott führte z.B. den Samariter auf diese Straße zu genau diesem Zeitpunkt (die Geschichte ist natürlich fiktiv, aber so können wir es uns vorstellen). Natürlich war er nicht für alle Ausgeraubten in ganz Palästina verantwortlich; aber er war offensichtlich offen für Gottes Führung, der ihm einen von diesen tatsächlich in den Weg legte – im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Vorsehung darf natürlich nicht Faulheit oder Passivität rechtfertigen. Wir brauchen nicht nur herumzusitzen, bis neue Situationen gleichsam an der Tür klopfen. Aktives Suchen, Bereitschaft zur Veränderung usw. kann oftmals gefordert sein. Aber auch dann werden wir uns immer wieder in konkreten, einzelnen Situationen wiederfinden.

Norman L. Geisler schreibt: „Nächste sind Leute in Not, wer immer sie sein mögen und wo immer sie sich aufhalten mögen. Nächste sind in einem gewissen Sinn alle Menschen überall; denn alle Menschen brauchen Liebe.“ (Das Maß aller Dinge: Liebe) „In gewissem Sinn“, d.h. alle Menschen können potentiell zu meinem Nächsten werden. Und in diesem Sinn ist Nächstenliebe natürlich global, d.h. sie hat insofern weltweite Dimensionen, dass jeder auf dem Globus Nächster werden kann und Hilfe nun auch bis auf andere Kontinente reicht.

Geisler spricht nun aber auch konkret von „Kreisen der Verantwortlichkeit“: „Wer alle Menschen lieben will, soll mit denen beginnen, die ihm am nächsten stehen.“ Und weiter: „Wenn man entscheiden muss, wem die Liebe vor allem gelten soll, dann sind wir zunächst für unsere Angehörigen verantwortlich. Den hungrigen Kindern des Nachbarn sollte nicht das Brot gegeben werden, das die eigenen Kinder brauchen. Ein Vater hat nicht die Pflicht, Kleider für die schlecht Bekleideten in Indien zu kaufen, wenn seine eigenen Kinder nichts anzuziehen haben… Die Verpflichtung zur Liebe beginnt zuhause und breitet sich dann aus, soweit wie es möglich ist.“ Geisler erläutert hier eigentlich nur das Prinzip der Vorsehung: Gott hat es in seinem Ratschluss eben so geführt, dass wir in bestimmten Familien und an bestimmten Orten leben usw.

Auch Kevin DeYoung zeigt in What is the Mission of the Church? an Lev 19,9–18 gut die konkreten Elemente der Nächstenliebe auf: den Nächsten mit unserem Besitz lieben (V. 9–10); den Nächsten mit unseren Worten lieben (V. 11–12); den Nächsten mit unseren Taten lieben (V. 13–14); den Nächsten mit unseren Urteilen lieben (V. 15–16); den Nächsten aus unserer inneren Haltung heraus lieben (V. 17–18).

Außerdem macht der reformierte Pastor im Kapitel „Making sense of social justice“ gute Ausführungen, wer mir denn wie zum Nächsten wird. Ein Grundprinzip ist natürlich: „Je größer die Not, desto größer ist die Verpflichtung zu helfen.“ Dies allein reicht aber für die konkrete Entscheidung noch nicht aus. In Afrika ist teilweise die Not sehr groß (Kinder, die an Hunger sterben). Bedeutet dies, dass wir – jeder einzelne – im reichen Norden persönlich zur Hilfe verpflichtet sind? Ist jeder Hungernde in Afrika mein Nächster, müsste ich alles mir mögliche tun, um seine Not zu wenden – also jeden Urlaub, jeden Luxus, jedes Vergnügen streichen.

DeYoung fügt als weiteres Prinzip das der „moralischen Nähe“ (moral proximity) hinzu: je größer sie ist, umso mehr sind wir zu Hilfe verpflichtet. Sie bezieht sich darauf, wie wir mit jemandem durch verschiedene Faktoren verbunden sind. „Die Intensität unserer moralischen Verpflichtung hängt davon ab, wie gut wir die Menschen kennen, wie wir mit ihren verbunden sind und ob diejenigen, die ihnen in der Situation näher stehen, zuerst Hilfe leisten sollten.“ Schließlich haben wir tausende Nöte jeden Tag vor uns – wir müssen hier Entscheidungen treffen. Wir haben eine höhere Verpflichtung gegenüber Kindern, die vor unserer Nase sterben, als Kindern im fernen Indien. Andererseits ist diese Nähe eben nicht immer örtlich zu begreifen: Leidende Geschwister meiner Konfession am anderen Ende der Welt, von den ich erfahre, rufen mich so direkter nach Hilfe als ‘irgendwer’ in meinem Land oder meiner Stadt.

Zu beachten ist natürlich, dass diese Verbundenheit einem dynamischen Prozess unterliegt. Sie kann schrumpfen oder wachsen; die einen lassen sie verkümmern, andere suchen sie und stellen sie aktiv her. Welches Verhalten im Einzelnen zu verwerfen und zu loben ist, ist nicht immer einfach zu entscheiden. Grundsätzlich können wir nur so viel sagen, dass der Einzelne je nach Charakter, Gaben, Situation und Führung nach Nähe und Verbundenheit zu streben hat – die schon angesprochene Offenheit und das aktive Umsehen.

Außerdem gilt es zu unterscheiden zwischen Handlungen, zu denen ich tatsächlich direkt verpflichtet bin (Weigerung ist hier Sünde), und solchen aus Barmherzigkeit und Güte. Nehmen wir an, ich verfüge über ein normales Einkommen, kann meine Familie versorgen und der Gemeinde noch genug geben; viel bleibt nicht mehr übrig. Bin ich dann etwa verpflichtet, auch den bescheidenen Familienurlaub zu streichen, um mit den freien Mitteln immer noch einige Kinder in Afrika zu retten, um sie bloß nicht indirekt dem Tod auszuliefern? Nein, denn die wesentliche Hauptverantwortung dafür haben andere. Ich habe aber natürlich die Freiheit diesen Kindern aus freien Stücken und Barmherzigkeit zu helfen und kann tatsächlich auch mal die Hilfe zu einem richtig harten Opfer werden lassen. Ich hätte aber auch die Freiheit mich anders zu entscheiden und kann eine Studentenmission oder eine Drogenhilfe usw. in meinem Land unterstützen.  Es macht daher Sinn, Nächstenliebe im engeren Sinn als Verpflichtung zur Hilfe in Not von allgemeinerer Mildtätigkeit zu unterscheiden.