Vom Dromedar zum Kamel zum Dromedar

Vom Dromedar zum Kamel zum Dromedar

Auf den Prüfstand!

Mitte Januar ist es alle Jahre wieder soweit. Pünktlich zum Weltwirtschaftsforum in Davos verkündet „Oxfam“, ein Verbund von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, eine neue Statistik, die schockieren soll. „62 Menschen besitzen inzwischen genauso viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – noch vor einem Jahr waren es 80“, so die aktuelle Version des Themas „Soziale Ungleichheit nimmt weltweit dramatisch zu“.

So ein anschaulicher Vergleich kommt natürlich in die Schlagzeilen aller wichtigen Medien. Unter der Überschrift „Christliche Hilfswerke kritisieren weltweite Ungerechtigkeit“ berichtete vor einigen Tagen auch „idea“ über das Echo der diesjährigen Zahlen im Raum der Kirche. Nach dem Oxfam-Bericht „wird die Kluft zwischen Arm und Reich in fast jedem Land der Welt immer größer. So besaß 2015 das reichste Prozent der Weltbevölkerung – rund 70 Millionen Menschen – mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen. Wie die Referentin der Micha-Initiative der Deutschen Evangelischen Allianz, Stefanie Linner (Berlin), der Evangelischen Nachrichtenagentur idea sagte, zeigt die Studie einen dramatischen Trend: ‘Soziale Ungleichheit verstärkt sich stetig und solange Menschen danach streben, ungebremst Reichtum anzuhäufen, um dadurch ihren gesellschaftlichen Status und Wert zu begründen, wird sich diese Fehlentwicklung weiter verschlimmern.’“ Linner weiter: „Solange nicht jeder Mensch auf Gottes Erde ein menschenwürdiges Leben führen kann und wir in Deutschland ein solch privilegiertes Leben führen, gehört unser eigenes Verständnis eines selbstverdienten Wohlstands und Lebensstandards auf den Prüfstand.“

Ungleichheit“, verstärkt noch durch das Adjektiv „sozial“, ist einer der Begriffe, die man heute nur zu nennen braucht – und schon hat man sich auf die richtige Seite gestellt. Niemand muss begründen, was an Ungleichheit eigentlich so schlecht und an Gleichheit so gut ist. „Gleichheit gehört für mich nicht zu den Dingen, die an sich und um ihrer selbst willen gut sind“, so C.S. Lewis vor über 70 Jahren. Gleichheit ist für ihn vor allem im politischen und rechtlichen Bereich zuhause und bedeutsam. Ansonsten unterscheiden sich Menschen in so vielerlei Hinsicht, dass die Lebensverhältnisse als Ergebnis ihrer Aktivitäten ebenfalls nicht einheitlich sein können.

Menschen streben danach, ihr Leben zu verbessern, es angenehmer zu gestalten und Wohlstand zu erwerben. Jeder Deutsche und Europäer, auch der bescheiden Lebende, ja sogar der relativ Arme, hat viele Reichtümer angehäuft. Es ist auch nicht abzusehen, dass dieser Prozess irgendwo enden wird – wo sollte die von Linner angemahnte Bremse installiert werden? Hätte man sie besser schon nach der Eisenbahn einführen sollen? Wer braucht schon Automobile? Oder nach der Erfindung von Vinyl-Platten? Wozu Musik in digitaler Qualität? Oder nach dem Elektroherd? Mikrowellen sind doch Luxus! Und ein Strippentelefon tut‘s doch wohl auch! Oder doch nicht? Ein Smartphone in jeder Tasche – man kann wohl Gift darauf nehmen, dass auch Linner selbst sich den Auswüchsen dieses ungebremsten Reichtums hingibt.

Unser Wohlstand und unsere Lebensverhältnisse gehören auf den „Prüfstand“. Natürlich! Jeder ist aufgerufen sich zu prüfen und selbstkritisch zu fragen, woran er oder sie „gesellschaftlichen Status und Wert“ knüpft. Die Menge des Reichtums und das Wohlstandsniveau führen jedoch keineswegs automatisch dazu, dass man hier falsche Entscheidungen trifft. Diese Herausforderung hat die Menschheit schon immer begleitet und wird sie immer begleiten. Natürlich nehmen mit der Zunahme der Dinge um uns herum auch die Versuchungen zu – wie könnte es anders sein? Viele positive Dinge nehmen aber auch zu. Der Zusammenhang, den Linner wie viele andere offensichtlich nicht verstanden haben, ist doch recht einfach: Mit der Zunahme unseres Wohlstands nehmen auch unsere Handlungsmöglichkeiten und allgemein unsere Freiheit zu; aber je mehr Freiheit ich habe, desto mehr kann ich diese Freiheit auch missbrauchen. Sollten wir deshalb in eine primitive Existenzweise auf niedrigem Niveau zurückkehren??

Der Wohlstand wird unter Generalverdacht genommen. Dabei sollten wir uns selbst unter Generalverdacht nehmen. Betrachten wir das Beispiel des Automobils. Jeden Tag kommen Menschen um, weil andere im Straßenverkehr unverantwortlich gehandelt haben. Ist das Auto selbst das Problem? Sicher nicht. Ursache des Übels sind unsere Rücksichtslosigkeit und Lieblosigkeit. Und das war schon immer so. Das Auto ist heute ‘nur’ der Auslöser, der uns erneut zeigt, wer wir sind oder immer schon waren.

Statistischer Müll

Auf den Prüfstand gehören vor allem die Oxfam-Statistiken selbst, denn sie müssen nun wirklich untersucht werden. Leider werden sie meist nur nachgeplappert. Thilo Spahn hat hier die Zahlen ins rechte Licht gerückt; Frank Schäffler und Clemens Schneider vom Berliner „Prometheus-Institut“ schreiben hier bzw. hier dazu. Das englische „Institute for Economic Affairs“ (iea) nimmt hier Stellung. Was Thomas Sowell, bekannter Ökonom aus den USA, zu den „1%“ der Superreichen an der Spitze zu bemerken hat, wird hier zusammengefasst.

Viele wäre zur Methode zu sagen, denn Oxfam misst Vermögen und nicht Einkommen und tatsächlichen Lebensstandard. Ein hoch verschuldeter Amerikaner ist da schnell viel ärmer als ein fleißig sparender Chinese. Außerdem sagt uns die plakative Gegenüberstellung der Spitze mit der unteren ‘Hälfte’ herzlich wenig, ja für die eigentlich interessanten Fragen ist dies so gut wie irrelevant.

Nehmen wir das Beispiel Venezuelas. In der Regierungszeit von Chavez und seinem Nachfolger nahm die soziale Ungleichheit deutlich ab. Hurra! Hurra? Alle wurden in dem an Öl reichen Land durch eine völlig verfehlte Politik ärmer – vor allem die Mittelschicht; und die richtig Reichen haben sich ganz aus dem Staub gemacht, damit ihr Vermögen nicht gleich konfisziert wird. Durch Sozialgeschenke wurden die Armen, die Unterschicht, von dem Trend weniger betroffen. In der statistischen Summe herrscht dort nun mehr Gleichheit, denn „Oben“ und „Unten“ haben sich angenähert.

Oder man betrachte Litauen oder andere postkommunistische Staaten. Vor 25 Jahren waren – vereinfacht gesagt – alle gleich arm. Wunderbare soziale Gleichheit! Mit dem Einzug der Marktwirtschaft entstand in einem Vierteljahrhundert eine große Spanne zwischen ganz Reichen und Ärmeren. Man könnte nun auch hier die Vermögen der reichsten zehn Litauer zusammenzählen; man käme wohl auf einige Milliarden Euro. Und dann rechnet man, wie viele Hunderttausend am unteren Spektrum zusammen so ein Vermögen haben. Welche Schlüsse soll man aus solchen Rechenspielen ziehen? Dass unter Bedingungen der Freiheit die einen wohlhabender werden als die anderen. Was denn sonst! Wo soll hier, bitteschön, der große Skandal sein?

Die Oxfam-Zahlen sind PR-Zahlen und für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den wirklich interessanten Themen nicht zu gebrauchen. Sie sind, um es klar zu sagen, statistischer Müll. Und dies ist keinesfalls übertrieben. Es geht ja letztlich um die möglichst hohe Besteuerung der „Superreichen“. Dieser soll emotional der Boden bereitet werden. Nehmen wir aber einmal an, Frankreich zieht die Schraube weiter deutlich an, und viele Tausende machen sich à la Depardieu aus dem Staub. Das Land erreicht allein damit schon mehr soziale Gleichheit, da die Vermögensspitze geschleift wird. Oder ein deutscher Multimilliardär oder gleich die ganze Quandt-Familie mit ihren 31 Milliarden (dank BMW-Aktien) setzt sich in einem kleinen Land wie Litauen nieder. Nach der Oxfam-Logik steigt die soziale Ungleichheit schon damit rasant an. Ohne dass es auch nur einem Bürger des Landes damit schlechter geht. Wem ist nun damit geholfen, wenn man diesem Milliardär weite Teile seines Vermögens wegnimmt?

(Zur Situation in Deutschland Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund, in diesem Beitrag: „die Kluft zwischen arm und reich hat sich leicht vergrößert. Aber die Armen haben trotzdem heute mehr, und zwar erheblich mehr als vor zehn oder 20 Jahren. Das heißt, wenn man über Armut redet, muss man erst mal gucken: Geht es den Armen besser? Nicht, geht es den Reichen besser. Um über Armut zu reden, muss man die Reichen außen vor lassen und nur gucken: Wie kommen die Leute über die Runden, die am unteren Ende der Einkommenspyramide leben? Und wenn es denen besser geht, nimmt die Armut ab, Punkt. Ohne Wenn und Aber.“)

Die Große Transformation

Die Pseudo-Wahrheit von Oxfam verdeckt vor allem, dass die Ungleichheit bei der Verteilung des reellen Einkommens weltweit nicht dramatisch zunimmt, im Gegenteil. Wir sind in einem gigantischen Transformationsprozess, einem der wichtigsten in der Menschheitsgeschichte, der zwei große Schritte umfasst: von Gleichheit zu Ungleichheit zu Gleichheit. Der „dramatische“ Trend führt in Wahrheit von Massenelend noch vor zweihundert Jahren zu breitem Wohlstand für viele Milliarden heute.

Vor der Industrialisierung herrschte weltweit die extreme Armut vor. Wer die frühere bäuerliche Existenz zu einem „Leben im Einklang mit der Natur“ o.ä. idealisiert, weiß nicht, wovon er spricht. Zu Luthers Zeiten rang der normale deutsche Bauer jedes Jahr ums Überleben. Dem durchschnittlichen Europäer ging es lange ähnlich wie dem durchschnittlichen Chinesen oder Inder. Hans Rosling hat in einer seiner anschaulichen Grafiken (hier der ganze Film) die Verteilung des verfügbaren Einkommens pro Kopf und Tag dargestellt. Um 1800 befand sich die große Masse der Weltbevölkerung (rot: Asien, blau: Afrika; gelb: Europa; grün: Amerika) links von der Armutsgrenze. Allen ging es gleich schlecht. Ein Höcker wie bei einem Dromedar.

Rosling poverty 1

Der eine Höcker des Dromedars

Dank Erfindungen und Industrie, technologischem Wandel und globalem Handel, dank also dem „demokratischen Kapitalismus“, machten sich zuerst „gelb“ und „grün“ auf gen Wohlstand, was durch viel Plackerei der Arbeiter erkauft war; „blau“ und „rot“ hingen zurück. So bildeten sich vor einigen Jahrzehnten zwei Höcker: der durch starkes Bevölkerungswachstum gewaltige hohe linke Höcker des ärmeren Südens, und der kleinere rechte Höcker des reicheren Nordens. Wie bei einem Kamel. „The great divergence“ nennen Wirtschaftshistoriker dieser Entwicklung.

Rosling poverty 2

Zwei Höcker des Kamels

In den letzten Jahrzehnten begann nun die große Aufholjagd des Südens. War China um 1970 das große Armenhaus der Welt (nach Maos katastrophalem „Sprung nach vorne“ und der „Kulturrevolution“), so überschwemmen heute nicht nur Waren aus China die Welt. Die Chinesen selbst sind nun dabei, die extreme Armut in ihrem Land zur Geschichte werden zu lassen und überschwemmen Europa als wohlhabende Touristen. Der linke Höcker bewegt sich nach rechts und überlagert mehr und mehr den rechten.

Rosling poverty 3

Heute wieder ein Höcker, der noch zu breit ist

Auf der „Our World in Data“-Grafik von Max Roser ist die Situation von 1988 festgehalten. Asien ist gerade dabei, sich mit seinen Bevölkerungsmassen über die Armutsgrenze hinweg zu schieben. Gut zwanzig Jahre später ist China schon in der Mitte angekommen; nun macht sich langsam Indien auf den Weg.

Income 1

Income 2
Bei Rosling ist noch besser zu sehen, dass wir inzwischen wieder bei einem Höcker eines Dromedars angelangt sind. Das „blaue“ Afrika hinkt bei ihm noch hinterher; dort lebt nun die Masse der weltweit Armen. Aber auch hier geht der Trend nach rechts, gen Wohlstand.

Hat in Ländern wie China oder Südkorea oder Vietnam die soziale Ungleichheit zugenommen? Natürlich, und zwar gewaltig! Es gibt immer noch genug Chinesen, die in ärmlichen Verhältnissen leben, und wir haben bekanntlich steinreiche Chinesen und Vietnamesen und Malaien usw. Wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstandszuwachs führt gerade in der Anfangsphase zu großen Abständen zwischen Arm und Reich. Denn Märkte sind weitgehend ungesättigt, der Appetit von Produzenten wie Konsumenten in jeder Hinsicht groß. Unternehmern bieten sich oft große Chancen und Gewinnspannen.

Vor zwanzig Jahren gab es z.B. in Litauen keine bedeutende Einzelhandelskette. Ein paar junge Medizinstudenten bauten in ein paar Jahren die heutige „Maxima“-Gruppe auf. Sie hatten in vielerlei Hinsicht Glück, und sie boten vor allem das, was die Menschen wollten und wollen: ordentliche Einkaufmöglichkeiten. Der Hauptaktionär der Gruppe, heute 48 Jahre alt, ist schon seit Jahren der reichste Litauer mit einem Aktienvermögen von mehr als einer Milliarde. Worin er seinen Status begründet sieht und woran er sein Herz hängt, ist eine Frage seiner persönlichen Moral. Haben er und seine Kollegen sich an der Verschlimmerung der sozialen Ungleichheit beteiligt und so allein dadurch schuldig gemacht? Ist es in jedem Fall verdächtig, wenn man so ein Vermögen anhäuft?

Während die erklärten Freunde der Armen die soziale Ungleichheit beklagen, vollzieht sich eine von ihnen weitgehend ignorierte Große Transformation zu mehr Gleichheit in der Welt. Der Skandal ist nicht die dramatische Zunahme der Ungleichheit. Der Skandal ist, dass die angeblichen Armutsbekämpfer den Mechanismus ignorieren, der Armut tatsächlich beseitigt. Sie sehen den Reichtum als Problem; und die Lösung sei, dass man über möglichst hohe Steuern weite Teile des Reichtums wegnimmt, um ihn durch den Staat angeblich gerechter zu verteilen. Wird auf diese Weise Armut auf breiter Front reduziert? Funktioniert dieser Ansatz? Steht er hinter dem großen schon jetzt wirkenden Transformationsprozess? Und wie ist er biblisch zu begründen? Es ja reicht nicht, immer nur die Stichworte Gerechtigkeit, Würde und Armut zu nennen.

Wohlstand für alle

Das Problem ist nicht Reichtum. Denn jeder, wenn er denn ehrlich ist, wird zugeben: je mehr Wohlstand, desto besser. Vielleicht sind wir nicht gierig dabei und streben ihn nicht in unmoralischer Weise an und wissen auch, dass es andere wichtige und wichtigere Dinge im Leben gibt. Aber wer sagt schon bei einer angebotenen Gehaltserhöhung: „Nein, danke! Ich bin auch so zufrieden. Überweisen Sie das mal dem Staat.“

Das Problem ist die Armut. Und es wird einzig dadurch gelöst, dass etwas produziert wird; dass mehr produziert und so mehr Wohlstand geschaffen wird. Und auch wenn man etwas verteilen will, muss erst einmal etwas zum Verteilen da sein, das zuvor erwirtschaftet worden ist. Wie die letzten zweihundert Jahre gezeigt haben, ist Armut nur durch wirtschaftliche Dynamik auf breiter Front überwindbar. Diese Dynamik wird immer zu Ungleichheiten führen. Aber die gute Nachricht ist eben, dass der „Bourgeois deal“ (Deidre McCloskey) funktioniert: Lasst uns, die Unternehmer, in Freiheit produzieren, und am Ende wird Wohlstand für alle das Ergebnis sein. In den Industrieländern zog sich die Einlösung dieses Deals über mehrere Generationen hin; in China und anderen Ländern brauchte man nur eine. Den Armen wird also nicht dadurch geholfen, dass man die Reichen arm macht; vielmehr muss man den Armen erlauben, für sich selbst pro­duktiv zu werden. Dem stehen meist nicht die Reichen entgegen, sondern der Staat, der mit seiner Bürokratie (oder teilweise sogar mit den Räubern an seiner Spitze) die Schaffung von Wohlstand behindert.

Die Oxfam-Statistiken bringen nichts außer Schlagzeilen – für die eigene Organisation und alle in ihrem Schlepptau. „Micha“-Leiterin Linner, die Verantwortlichen in den 40 unterstützenden christlichen Hilfs- und Missionswerken sowie die Ev. Allianz in Deutschland sollten damit beginnen, nüchtern und selbstkritisch (ist das nicht ein Zeichen der in Mch 6,8 angemahnten Demut?) zu fragen: Was bringt den Armen wirklich etwas? Dafür muss endlich über Wohlstand und Armut intensiv nachgedacht werden. Doch leider ist die Micha-Initiative eben kein think tank und konzentriert sich ganz auf „advocacy“. Sehr viel „hängt davon ab, ob wir begriffen haben, worum es geht“, so John Stott unter der Überschrift „Komplexe Zusammenhänge – Können wir konsequent denken?“ in Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit. Oxfam trägt zu diesem Begreifen kaum etwas bei.