Nächstenliebe und Sozialismus

Nächstenliebe und Sozialismus

Der christliche Sozialist ist ein Missverständnis (Gerd Habermann)

Der christliche Sozialismus hat eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert reagierten die  „religiösen Sozialisten“ wie Christoph Blumhardt, Hermann Kitter und Leonhard Ragaz auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft. Im folgenden Jahrhundert ragten Karl Barth („Christen müssen Sozialisten sein“), Helmut Gollwitzer und Eberhard Jüngel als Fürsprecher einer Vereinbarkeit von christlichem Glauben und Sozialismus heraus. Vor einigen Jahren meinte Oskar Lafontaine in der “Welt am Sonntag”: „Ich halte wenig von öffentlichen Glaubensbekenntnissen. Sehr viel aber davon, die Kernbotschaft des Evangeliums, die Nächstenliebe, ernst zu nehmen. Adolf Grimme hatte recht: Sozialisten können Christen sein. Christen müssen Sozialisten sein.“ In den USA mieden die Vetreter des „social gospel“ wie Walter Rauschenbusch den Begriff Sozialismus in der Regel, äußerten sich aber ganz ähnlich wie die Europäer (s. auch Washington Gladden, Christianity & Socialism, 1905).

Die Auflösung der sozialistischen Volksrepubliken hat den Sozialismus keineswegs für alle Zeiten diskreditiert. Grundlegende Kritik der kapitalistischen oder marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung ist immer noch gang und gäbe. Im reformierten „Bekenntnis von Accra“ (Accra Confession) heißt es, unsere demokratische kapitalistische Ordnung sei ein „außerordentlich komplexes und unmoralisches [!] Wirtschaftssystem“. In einem Dokument des Weltkirchenrates aus dem vergangenen Jahr wird „die Herrschaft des globalen freien Marktes“ wieder scharf kritisiert, ein „globales vom Mammon bestimmtes System“ wird erwähnt, ja es ist vom „Götzendienst in der freien Marktwirtschaft“ die Rede.

Manche Evangelikale wollen da nicht zurückstehen. Der Südamerikaner Rene Padilla schreibt in seinem Beitrag „God’s call to do justice“ in The Justice Project (2009), einer der wichtigsten – „wenn nicht der wichtigste“ – Grund „für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich“ in der Welt sei „das globale ökonomische System“. Die „Globalisierung des neoliberalen kapitalistischen Systems“ nennt er „tyrannisch“. Auch in der „Micha-Erklärung“ (Micah Declaration) ist zu lesen, es sei „vielleicht die wichtigste[!] soziale Aufgabe der Kirche“ „überzeugende Alternativen“ für die aus dem Gleichgewicht geratene „ökonomische Weltordnung“ zu finden. Fast schon revolutionär ist von „Widerstand gegen ein globales System der Ausbeutung“ die Rede. Schließlich wird auch in der Gerechtigkeitsbibel, an Gal 3,28 anknüpfend, der Kapitalismus in einer Reihe mit Rassismus und Sexismus genannt und als Diskriminierung bezeichnet – er müsse überwunden werden.

Sätze wie von Barth (s.o.) sind heute kaum zu hören. Meist outet man sich nicht als Sozialist, es wird subtiler argumentiert. So schrieb ein leitender Evangelikaler Deutschlands auf seinem Blog, und zwar zum Tag der deutschen Einheit („Warum wir am 3. Oktober Grund zur Trauer haben“): „Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwanden nicht nur eine Reihe diktatorischer Systeme von der Weltkarte, sondern nach und nach auch die soziale Marktwirtschaft mit ihrer breiten Mittelschicht…“ Die Systemkonkurrenz hätte dafür gesorgt, dass sich der Kapitalismus nicht so wild gebären konnte und rücksichtsvoller gestaltet werden musste. Ein Kommentator bringt es auf den Punkt: „Im Rückblick wird klar, dass wir der Arbeiterbewegung (deren letzter Ausläufer der Kommunismus war) die Zähmung des Monsters für eine begrenzte Zeit verdanken.“ Der Kommunismus als Teil der guten Vorsehung Gottes – solche steilen Thesen (und ich verkneife mir hier einmal jeden scharfen Kommentar) sind nur denkbar auf dem Hintergrund eines geistigen Klimas, das den Sozialismus durch die  wahrlich rosarote Brille sieht.

Vom Leben in zwei Welten

Viel wäre nun natürlich zur Kritik des Marxismus zu sagen, denn viele seiner Lehren sind erschreckend langlebig. Aber das grundlegende Problem ist noch älter als Marx, und so begingen schon die Frühsozialisten einen entscheidenden Fehler, der bis heute aber zur Attraktivität des Sozialismus entscheidend beiträgt. Dieser Fehler ist ein falsches Verständnis des Gebots der Nächstenliebe.

Eingangs sei hier auf einen zentralen und in unserem Zusammenhang sehr hilfreichen Gedanken Friedrich August von Hayeks (1899–1992) hingewiesen. Der aus Österreich stammende und später nach England emigrierte Ökonom und Sozialphilosoph unterstrich, dass wir gleichsam in zwei Welten leben. Einmal im Klein- oder „Mikrokosmos“, in der face-to-face-Gesellschaft: hier kann der Einzelne die Umständen und Folgen seines Handelns mehr oder weniger gut überblicken. In der Großgesellschaft ist dies aber nicht mehr der Fall. Liebe, Hilfsbereitschaft, Mitleid sind gleichsam in der kleinen Welt zuhause, in der Welt der Familie, der Freunde, der Kollegen und der Gemeinde. Hier gelten, so der Katholik und Hayek-Schüler Roland Baader, „die Regeln des Teilens, der liebevollen Zuwendung, der persönlichen Sorge und Fürsorge“ („Vom christlichen Glauben zur Sozialreligion“, in: Mehr als man glaubt, Hrsg. I. Resch). In der „anonymen und arbeitsteiligen Welt der modernen Großgesellschaft und der Zivilisation“ gelten dagegen die abstrakten Regeln des Vertrags, des Tausches und der Arbeitsteilung; dort sind die Kooperationspartner teilweise unüberschaubar viele und wechseln permanent.

In The Constitution of Liberty führte Hayek aus: „Allgemeiner Altruismus ist… sinnlos. Niemand kann sich wirklich um alle anderen kümmern; die Verantwortungen, die wir übernehmen können, müssen immer partikulär sein; sie können nur jene betreffen, von denen wir konkrete Tatsachen wissen und mit denen wir uns entweder durch Wahl oder durch besondere Umstände verbunden fühlen. Es gehört zu den fundamentalen Rechten und Pflichten eines freien Menschen, zu entscheiden, welche und wessen Bedürfnisse ihm am wichtigsten erscheinen.“

Heute populäre Begriffe wie „globale Nächstenliebe“ hätte Hayek demnach sicher als unglücklich formuliert betrachtet. Denn wie kann ich mich den Menschen weltweit, den Menschen im Allgemeinen, liebevoll zuwenden? Hayeks Hauptargument ist, dass wir dafür die nötigen Kenntnisse nicht besitzen – Wissen um persönliche Not und persönliche Möglichkeiten der Hilfe. Dieses Wissen ist immer partikulär. Der barmherzige Samariter wusste kaum etwas über das Opfer der Räuber, aber was er wusste war spezifisch, konkret genug und reichte daher (s. Bild o.). Sein Beispiel zeigt deutlich: Nächstenliebe ist persönlich, individuell oder partikulär, und zwar von ihrem Wesen her.

Das heißt nun nicht, dass die Grenzen so eng gezogen werden, dass uns nur das etwas angeht, was direkt vor unseren Augen, im direkten Umfeld, geschieht. „Konkrete Tatsachen“ kann ich auch über AIDS-Waisen in Sambia oder über Erdbebenopfer in Haiti oder vertriebene Christen in Mossul in Erfahrung bringen und mich so mit ihnen verbunden fühlen. Über die verschiedenen Medien (und Organisationen  und Werke) werden sie alle gleichsam Teil einer erweiterten face-to-face-Gesellschaft. Mit dem Slogan „wir müssen etwas gegen die Armut tun“ sind wir, so provozierend das auch klingt, noch gar nicht in den Bereich der Nächstenliebe vorgedrungen. Die Nächstenliebe fragt eben konkret: Was kann ich für diesen Armen mit meinen Möglichkeiten tun?

Brüderlichkeit, selbstloses Teilen, Altruismus, Solidarität und Nächstenliebe sind auf der Ebene der ‘kleinen’ Welt beheimatet, d.h. hier werden sie zuerst und ihrem ganz Wesen nach verwirklicht. Denn hier können wir uns konkret um das Wohlergehen anderer Menschen kümmern. Hier kennen wir wirklich den Mitmenschen – wenn natürlich auch begrenzt und unvollkommen.

Der Begriff „Heimat“ ist dabei bewusst gewählt; er erlaubt eine klare Akzentsetzung, aber auch fließende Grenzen. Denn z.B. die Solidarität strahlt gleichsam von der kleinen Welt auf die große ab: es gibt ja – besonders in Katastrophenfällen in anderen Ländern – eine gewisse Art des ‘kollektiven Mitleids’ bei internationaler Hilfe in Not. So sprach sich auch Hayek immer für humanitäre Hilfe in Notsituationen aus. Das ändert aber nichts daran, dass das wirklich großzügige und mitunter radikale Teilen nicht in erster Linie dort verwirklicht wird – schließlich halbiert der deutsche Finanzminister nicht sein Budget, um die Not in Afrika zu beheben, und er erhöht noch nicht einmal den Entwicklungshilfeetat auf 10%.

Oft wird liberalen Denkern wie Hayek nun jedoch der pauschale Vorwurf gemacht, sie kümmere nicht das Schicksal anderer Menschen; sie würden einen egoistischen Individualismus pflegen; sie verachteten die Gemeinschaft und ihre Werte. Dies ist Unsinn. Hayek war ein philosophischer Individualist, aber er sah durchaus, dass das Individuum nicht ‘nackt’ und isoliert bleiben kann; er erkannte genau die Wichtigkeit von freiwillig eingegangenen Kooperations- und Gemeinschaftsformen wie vor allem der Familie oder der Kirche. Der wahre Individualist muss, so Hayek, ein „enthusiastischer Anhänger der freiwilligen Zusammenarbeit“ sein („Wahrer und falscher Individualismus“, in: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung).

Er erkannte aber gleichfalls genau das Kernproblem allen sozialistischen Denkens, zu dem Hayek auch in seinem letzten Buch (Die verhängnisvolle Anmaßung / The Fatal Deceit) Stellung nahm: die Regeln und Verhaltensweisen der kleinen Welt werden der großen übergestülpt. Um gleich ein biblisches Beispiel zu gebrauchen: Der ‘Sozialismus’ (oder „Ur-Kommunismus“) der Urgemeinde in Apostelgeschichte 4 – radikales, selbstloses Teilen, Gütergemeinschaft, Brüderlichkeit – funktionierte auf dieser Ebene des Kennens von Angesicht zu Angesicht durchaus. Auch ein Liberaler wie Hayek hatte hier sicher keinerlei Einwände. Hier kannten die Menschen die Bedürfnisse der anderen und die eigenen Möglichkeiten; hier herrschte ein Geist der Liebe und der Freiheit, denn die einzelnen Gemeindeglieder trafen persönliche und freie Entscheidungen über ihr Teilen (und sicher kann dieses Prinzip auch über die Ortsgemeinde hinaus erweitert werden, s. 2 Kor 8).

(Ludwig von Mises ergänzte in Gemeinwirtschaft ganz richtig, dass die in Apg 4 beschriebenen Verhältnisse kein Sozialismus im eigentlichen Sinne waren, „kein Produzieren mit Produktionsmitteln, die der Gemeinschaft gehören. Er ist nichts als eine Verteilung von Konsumgütern unter die Angehörigen der Gemeinde, ‘nach dem Bedürfnis, das ein jeder hatte’. Es ist ein Kommunismus der Genußgüter, nicht der Produktionsmittel; es ist eine Gemeinschaft des Verzehrens, nicht des Erzeugens. Erzeugt, gearbeitet und gesammelt wird von den Urchristen überhaupt nichts. Sie leben davon, daß die Neubekehrten ihr Hab und Gut veräußern und den Erlös mit den Brüdern und Schwestern teilen. Solche Zustände sind auf die Dauer unhaltbar. Sie können nur als vorläufige Ordnung der Dinge angesehen werden“. Ich würde nun nicht so scharf formulieren, dass die Urchristen gar nichts erzeugt hätten; aber es stimmt sicher, dass sie keine sozialistische Gemeinwirtschaft aufgebaut haben.)

Der fatale Fehler besteht nun, wie gesagt, darin, diese Prinzipien auf die Großgesellschaft zu übertragen. Da der Einzelne nun nicht mehr in Freiheit die Entscheidung des Teilens treffen kann, wird hier mit Zwang gearbeitet. Gütergemeinschaft, persönlich und freiwillig gewählt, ist ein legitimer Weg; doch von oben für alle mit Zwang vorgeschrieben ist sie nur zu verwerfen, da Menschen, Individuen, so ihrer Rechte, ihres Eigentums usw. beraubt werden. Schon Frédéric Bastiat begriff in Auseinandersetzung mit den frühen Sozialisten, dass sich Brüderlichkeit nicht per Gesetz verordnen lässt; die Nächstenliebe, mit dem Zwang des Gesetzes durchgesetzt, hört auf, wirkliche Nächstenliebe zu sein.

Aus diesem Grund ist z.B. staatliche Katastrophenhilfe nicht ein Ausdruck der Nächstenliebe im eigentlichen Sinne. Denn die Kanzlerin bzw. der Bundestag verteilt eben nicht eigenes Geld, sondern Steuergelder, die von den Bürgern mit Zwang eingetrieben worden sind. 100 Millionen für Notleidende statt für Autobahnen auszugeben, kann daher moralisch lobenswert sein; ein freiwilliges Teilen hat nur auf ganz indirektem Wege stattgefunden, weil die Regierung sich der wohlmeinenden Zustimmung der Bürger gewiss sein kann.

Der Sozialismus ist deshalb so attraktiv, weil er in Aussicht stellt, die Brüderlichkeit auf einer weiteren und höheren Ebene tatsächlich durchzusetzen – in ganzen Nationen, ja in der ganzen Welt. Es ist durchaus angebracht, den Sozialismus als eine Art System der kollektivierten oder verstaatlichen Nächstenliebe zu bezeichnen. Aber noch einmal: diese Nächstenliebe ist überhaupt keine Nächstenliebe, sondern führt letztlich zu einem menschenverachtenden System der Zwangsbeglückung. Hayeks Freund Karl R. Popper sagte einmal (an die Adresse des Kommunismus gerichtet, die brutalste Variante der Umsetzung der sozialistischen Vision in der Realität): „Natürlich soll man sich bemühen, seine nächsten Freunde glücklich zu machen, aber nicht ‘die Menschheit’. Der Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, produziert stets die Hölle.“

(S. auch hier die Aussagen von Gerald Götting; in “Der Christ sagt Ja zum Sozialismus” meint der langjährige Vorsitzende der CDU in der DDR: “Im Sozialismus werden die gesellschaftlichen Grundanliegen des Christentums verwirklicht: Frieden — Nächstenliebe — Freiheit”.)

Individualismus gleich Egoismus?

Die Versuchung des Sozialismus ist so groß, weil meist die Karte der universellen Werte gezogen wird – im christlich geprägten Europa immer noch ein Trumpf. Hier sei als Beispiel der Publizist Christian Felber genannt, führende Stimme der Globalisierungsgegner in Österreich und Mitgründer des „Attac“-Zweiges in dem Land. Er schlägt als Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus die „Gemeinwohl-Ökonomie“ vor (so auch der Titel seines Buches aus dem Jahr 2010). Dem Streben nach Gewinn des Kapitalismus wird das Gemeinwohl entgegengesetzt. Nicht Egoismus, Konkurrenz und Materialismus sollten gefördert werden, sondern Kooperation, Selbstverwirklichung und ökologische Verantwortung. Es soll nicht mehr vorrangig um Geld und Eigennutz gehen, sondern um Sinn und Beziehungen.

Sein Ausgangspunkt: In der Wirtschaft sollen dieselben „humanen Werte“ gelten wie in zwischenmenschlichen Beziehungen. Felber bedauert gleich zu Beginn von Gemeinwohl-Ökonomie, dass „heute in der Wirtschaft ganz andere Werte als in unseren alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen“ gelten. „Vertrauensbildung, Ehrlichkeit, Wertschätzung, Respekt, Zuhören, Empathie, Kooperation, gegenseitige Hilfe und Teilen“ seien die gelebten Wert der Alltagwelt. Die freie Marktwirtschaft beruhe dagegen auf „Gewinnstreben und Konkurrenz“; diese fördere „Egoismus, Gier, Neid“ usw. Dieser Widerspruch sei „katastrophal“.

Nun wird hier schon begrifflich vieles wild durcheinandergewürfelt – Normen, Tugenden, konkrete Handlungen. Es ist nun modisch, fast schon alles zu „Werten“ werden zu lassen, was in der Praxis oft wenig weiterhilft und viel Verwirrung stiftet. Aber wir konzentrieren uns hier auf Felbers Kernthese, mit der er Hayek grundsätzlich widerspricht: Die Ideale der kleinen sollen genauso auch in der großen Welt gelten.

Diese Karte sticht aber nur, wenn trickreich gearbeitet wird wie auch bei Felber gleich ersichtlich ist. Vertrauensbildung, Ehrlichkeit, Wertschätzung, Respekt – die ersten vier „Werte“ in der Reihe: Sind sie wirklich der heutigen Wirtschaft fremd? So pauschal ist dies nichts anderes als eine üble Unterstellung. Die Firmenleitungen von Daimler-Benz und Volkswagen haben sicher Respekt füreinander, schätzen die Arbeit der anderen in vielerlei Hinsicht; wir können auch davon ausgehen, dass sich die Konzerne weitgehend ehrlich verhalten – zumindest nicht prinzipiell unehrlicher als die Menschen in ihrer Alltagswelt. Und das Vertrauen ist schon heute Schmiermittel der freien Marktwirtschaft, denn Unternehmen sind in vielfältige Vertrauensnetze eingebunden, ohne die die Wirtschaft nicht einen Tag funktionieren würde.

An diese Reihe hängt Felber „Zuhören, Empathie, Kooperation, gegenseitige Hilfe und Teilen“ – ‘Werte’, die eher in der kleinen Welt zuhause sind (wobei „Kooperation“ dort nicht so recht hinein passt; Felber vereinnahmt sie geschickt für die kleine Welt). Was Felber nun jedoch bedauert, klingt einleuchtend, hat aber mit dem gesunden Menschenverstand kaum etwas zu tun. Soll sich die Konzernleitung von Volkswagen gegenüber Daimler oder BMW wirklich empathisch zeigen? Soll sie bedauern, dass die Wettbewerber so wenig Gewinn gemacht haben? Soll es ihr leid tun, wenn ein Konkurrent verschwindet? Und zum gegenseitigen Teilen: Soll der mit Milliarden entwickelte geniale Elektromotor großzügig auch anderen Konzernen angeboten werden – und zwar umsonst? Natürlich läuft es in der Wirtschaft nicht so! Wir würden keine Autos bei Firmen kaufen, die nach diesen Prinzipien handeln.

Aber dies bedeutet doch nicht, dass Herren und Frauen dort pauschal den „Wert“ der Nächstenliebe verachten würden. Nächstenliebe ist eine persönliche Tugend, und wiederum nur in ganz indirektem Sinn im Mechanismus der Wirtschaft verankert. (In gewisser Weise dienen ein Unternehmer und seine Mitarbeiter den Menschen, indem sie gute Produkte herstellen und den Kunden verkaufen; sie tun Menschen also Gutes, was eine Art des Ausdrucks der Liebe ist. Hier sollte jedoch der Begriff des Dienstes am Menschen und nicht Nächstenliebe bevorzugt werden.)

Die Nächstenliebe „kann niemals Konstitutionselement einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ sein, so Roland Baader. Dies klingt provozierend, ist aber offensichtlich, denn – um das berühmte Beispiel Adams Smith aus Der Wohlstand der Nationen zu gebrauchen – ich kaufe nicht beim Bäcker, weil er mir so wohlgesonnen ist und er mich als seinen Nächsten so liebt, sondern weil er sein Eigeninteresse verfolgt. Smith folgend ist unbedingt zu begreifen: die Nächstenliebe im eigentlichen Sinne (barmherzige Hilfe in Not) ist nicht dazu da, alle Probleme auf der Welt zu lösen wie z.B. konkret das Problem der Schaffung von Wohlstand.

Wir haben’s doch gewusst!, so wenden Felber und die Sozialisten aller Jahrhunderte ein: der Bäcker darf seinem Egoismus frönen; Gier werde so in diesem System großgeschrieben und gefördert. Damit diese Empörung Sinn macht, muss Individualismus (und die Verfolgung der eigenen Interessen ist eine Ausdrucksform des Individualismus) mit Egoismus gleichgesetzt und in den Gegensatz zu Gemeinnutz und Nächstenliebe gesetzt werden. Dies ist ein wesentliches Element des sozialistischen Tricks. Hayek zeigte im zitieren Aufsatz, dass schon die Schöpfer des Begriffs Sozialismus, Henri de Saint-Simon und seine Anhänger, vor zweihundert Jahren diesen falschen Kontrast aufgebaut hatten: der Sozialismus ist um das Soziale, das Gemeinwohl, bemüht, und im Gegensatz dazu steht der Individualismus. Sie verpackten die zentral gelenkte Wirtschaft und Gesellschaft in einen wohlklingenden Begriff, und das edle Wort Individualismus diskreditieren sie.

Bastiat sah dies schon Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Anhänger des Individualismus, der Marktwirtschaft und der Liberalität, werden „der Starrheit, der Kälte, der Härte, der Trockenheit“ bezichtigt; die Worte der Sozialisten dagegen sind „voll Selbstlosigkeit und Wohltätigkeit“ („Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“). An diesem Reaktionsmuster hat sich bis heute wenig geändert. Diese Zuordnung war ungeheuer einflussreich, und dieses Echo reicht bis heute, denn man suche einmal nach christlichen Veröffentlichungen, in denen „Individualismus“ eindeutig positiv gebraucht wird.

Anhänger des Individualismus sind nun gezwungen, diesen zu verteidigen und einen wahren von einem falschen Individualismus abzugrenzen (s. Hayeks Essay). Auch Karl Popper  widmete sich dieser wichtigen Frage in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. In der kritischen Diskussion von Platon, Hegel und Marx stellt Popper dar, dass der wahre Individualismus im Gegensatz zum Kollektivismus steht, nicht aber zum Altruismus (oder Uneigennützigkeit, eine Art Synonym von Nächstenliebe). Der Gegensatz zum Altruismus ist viel treffender als Egoismus und Selbstsucht zu bezeichnen. Der Kollektivismus behauptet, „dass das Individuum den Interessen des Ganzen dienen solle, sei dies das Universum, der Staat, der Stamm, die Rasse oder irgendein anderer Kollektivkörper“; dass also die Gemeinschaft dem Individuum übergeordnet und also wichtiger als dieses ist. Popper geht es in diesem Buch vor allem um die Rechte des Individuums, die dem Staat, der Nation oder anderen ‘höheren’ Zielen und Zwecken nicht geopfert werden dürfen.

Der britische Philosoph zeigte, dass die Gleichsetzung von Individualismus und Egoismus schon eine Kernthese (und eine propagandistische Lüge) bei Platon war. An einer Stelle nennt er auch die Nächstenliebe, und hier zu Recht sehr kategorisch: „Der mit dem Altruismus vereinigte Individualismus ist die Grundlage unserer abendländischen Zivilisation geworden. Er ist die zentrale Lehre des Christentums. (‘Liebe deinen Nächsten’, sagt die Heilige Schrift, und nicht ‘Liebe deinen Stamm’.) Und er ist der Kern aller ethischen Lehren, die aus unserer Zivilisation erwuchsen und sie anregten.“

Diese Ausflüge in die Sozialphilosophie sind unbedingt nötig, denn es muss begriffen werden: wahrer Individualismus und echte Nächstenliebe gehören zusammen. Werden diese Zusammenhänge ignoriert, tappt man nur zu schnell in die sozialistische Falle.

 „Wer allzu viel besitzt, wird besessen“

Sehr konkret und geradezu brisant wird dies bei der Steuerpolitik. Steuern seien „als Dividende an die Gesellschaft [zu] begreifen, als Ausdruck tätiger Nächstenliebe“, so Markus Meinzer in „Armut aus der Oase: Systematische Steuerhinterziehung und christliche Ethik“. Meinzer, der sich auch in der Micha-Initiative engagiert und diese berät, schreibt: „Meinen Nächsten wie mich zu lieben ist kaum möglich, wenn ich grundsätzlich Eigentum gegen andere Menschen verteidige und nicht gutheiße und zulasse, dass auch andere von meinem Eigentum abbekommen und selbst Eigentümer werden.“ Hier sehen wir eine aktuelle Variante des sozialistischen Tricks. Es geht Meinzer um Steuerhinterziehung, die bei ihm aber auch nicht klar von der Steuervermeidung abgegrenzt wird. Und mit dem ‘Argument’ im Zitat kann jeder ins moralische Abseits geschoben werden, der sich klar für niedrige Steuersätze einsetzt; jeder, der Eigentum, Verdienst, Erbe usw. vor dem zugreifenden Staat bewahren will. Wer „grundsätzlich“ sein Eigentum schützt, wird hier implizit als Egoist bezeichnet, dem das Gemeinwohl nicht kümmere, und natürlich würde so das Gebot der Nächstenliebe gebrochen.

Ist nur derjenige dem Gemeinwesen wohlgesonnen und folgt dem Gebot der Nächstenliebe, der ohne Murren die höchste Steuerlast erträgt? Oder sie fordert? Das Argument, dass man sich immer für Steuern, ja für möglichst hohe Steuern einsetzen muss, wenn einem das Gemeinwohl am Herzen liegt, ist Unsinn.

Wozu diese Logik führt, sehen wir bei Felber. Dieser träumt davon, dass „ab dem Zehnfachen des Mindestlohns der Spitzensteuersatz auf hundert Prozent“ steigt. Warum eigentlich nicht, wo doch auf diese Art so viele Mittel für praktizierte Nächstenliebe frei werden? Der ganze Zynismus offenbart sich ein paar Sätze später: „Wer allzu viel besitzt, wird besessen“. Dies heißt jedoch nichts anders als dies: Wir, ein Kollektiv, und seien es auch die felberschen „demokratischen Konvente“ (die jedoch irgendwie an die frühen Sowjets erinnern), wir nehmen die Nächstenliebe in unsere Hand, denn du, das Individuum, bist ja selbst viel zu sehr durch Egoismus gefährdet. Und wir tun dir dabei auch noch etwas Gutes, bewahren dich vor dem besitzergreifenden Mammon!

Vom liberalen Paradigma aus ist Meinzer, Felber und anderen zu entgegnen: Belasst den Bürgern möglichst viel Geld, damit sie dem Gebot der Nächstenliebe überhaupt nachkommen können! Der reflexhafte vorgebrachte Einwand, dass freie Menschen oft auch ihren selbstsüchtigen Zielen folgen, beweist gar nichts. Natürlich tun sie dies in einer gefallenen Welt! Es müsste viel mehr gezeigt werden, dass Kollektive wie auch der Staat als solche weniger selbstsüchtig handeln und in der Summe für mehr Gutes sorgen, als Individuen und auf Freiwilligkeit basierende Gemeinschaften. Doch wieviel Gutes hätten die Bürger bewirken können, wie viele Werke der praktischen Nächstenliebe hätten sie und ihre Vereinigungen tun können, wenn die Milliarden wie z.B. durch den Staat am neuen Berliner Flughafen verpulverte Steuern in ihren Taschen geblieben wären? Der Staat soll seine Aufgaben durchführen, aber unter dem Deckmantel „lasst uns möglichst viel Gutes tun!“ wird tatsächlich viel Gutes, das die Bürger (ob nun einzeln oder vereint) oftmals selbst tun könnten, verhindert.

70 Jahre reale sozialistische Besserwisserei – wir, das Kollektiv, der Staat, wissen besser als du, das egoistische Individuum, wie man das Gemeinwohl und die Liebe zum Nächsten umsetzt – haben absurderweise dazu geführt, dass in den Ländern mit dem Etikett „sozial(istisch)“ das ‘Gen der Nächstenliebe’ immer weiter zurückmutierte. Wird die Nächstenliebe kollektiviert, werden ihr langfristig die Grundlagen genommen und sie verkümmert. Sehen Christen dies nicht, werden sie auch weiter munter gegen den ach so egoistischen Kapitalismus polemisieren und der Versuchung des Sozialismus erliegen.

Prof. Gerd Habermann fasst das bisher Gesagte im kurzen Beitrag „Christentum und Sozialismus“ gut zusammen: „Zwei sich ausschließende Welthaltungen: Das Christentum lehrt die moralische Pflicht frei zu geben, der Sozialismus lehrt das Recht, dem anderen – zur Not mit Gewalt – wegzunehmen, sofern er mehr hat. Nächstenliebe und die Beraubung von wohlhabenden Minderheiten sind unvereinbar. Die Zehn Gebote enthalten überwiegend Imperative zur Sicherung von Eigentum und Leben des Nächsten (,,Du sollst nicht töten”, ,,Du sollst nicht stehlen”, ,,Du sollst nicht begehren”, usw.). Der urchristliche ,,Kommunismus” bestand in einer freien Konsumgemeinschaft liebevollen Teilens und hatte nichts mit einer zwangsweisen ,,Verstaatlichung der Produktionsmittel” zu tun.  Der christliche Sozialist ist ein Missverständnis. Christus hat sich für sein Ideal der Gewaltlosigkeit widerstandslos ans Kreuz nageln lassen. Die radikalen Sozialisten nageln dagegen ihre Gegner ans Kreuz. Christlicher Sozialismus ist einfach ein Irrtum, wenn er in der Verstaatlichung der Nächstenliebe besteht. Durch die Unterstützung der allumfassenden staatlichen Sozialpolitik berauben sich die Kirchen ihrer Substanz und ihres besonderen sozialen Auftrags.“