Müssen wir einen „einfachen Lebensstil“ praktizieren?

Müssen wir einen „einfachen Lebensstil“ praktizieren?

Wie sollen wir unser Leben gestalten? Welches wirtschaftliche und finanzielle Niveau streben wir an? Wir reich wollen wir werden – oder sollten wir gar doch Armut vorziehen? Dies sind für jeden aktuelle Fragen. Es sind vor allem neue Fragen, denn Jahrhunderte, Jahrtausende lang gab es für die allermeisten Menschen keine große Diskussion darüber. Man wurde in einen bestimmten Stand (oder Klasse) hineingeboren, und dieser Stand bestimmte dann recht umfassend das weitere Schicksal. Soziale Mobilität nach oben und damit eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards waren die absolute Ausnahme. (Mobilität nach unten, Abstieg in die absolute Armut oder auch Sklaverei und Hörigkeit, gab es bedingt durch Krankheit, Behinderung und Krieg dagegen immer.)

Auch die christlichen Denker des Mittelalters bis hin zu den Reformatoren beantworteten die Eingangsfragen in der Regel noch so: lebe entsprechend deiner Standeszugehörigkeit. Was das Notwendige zum Leben und was das Überflüssige ist, das man als Almosen weggeben soll – das entscheidet sich an den Standespflichten (so waren für einen Adeligen viel mehr Dinge ‘lebensnotwendig’ als für einen Bauern). Man konnte natürlich die prinzipielle Armut wählen und Mönch werden, doch dies blieb die Berufung und der Weg einiger weniger.

Heute dagegen sind unsere Gesellschaften von großer Mobilität gekennzeichnet. Auch wenn immer noch soziale Herkunft einen großen Einfluss auf berufliche Karriere und Weiterkommen hat – prinzipiell stehen jedem wesentlich mehr Türen offen als in den vergangenen Jahrhunderten. Damit ist jedoch auch die Notwendigkeit verbunden, sich wirtschaftlich-sozial ‘anzusiedeln’, sich persönliche Ziele zu setzen: Was will ich erreichen mit meinem Leben? Wo will ich hin? Und Gläubige fragen sich: Gibt es einen christlichen Lebensstil?

Hinzu kommen nun die großen Nöte in der Welt. Auf die Konsequenzen für das persönliche Leben der Christen wies in großer Deutlichkeit wohl zum ersten Mal der erste „Internationale Kongress für Weltevangelisation“ in Lausanne 1974 hin. An die 3000 Leiter der weltweiten evangelikalen Bewegungen trafen sich zu der bis dahin größten Konferenz dieser Art. Im Art. 9 der Lausanner Erklärung heißt es: „Die Armut von Millionen erschüttert uns alle. Wir sind verstört über die Ungerechtigkeit, die diese Armut verursacht. Wer im Wohlstand lebt, muß einen einfachen Lebensstil entwickeln, um großzügiger zur Hilfe und Evangelisation beizutragen.“ (All of us are shocked by the poverty of millions and disturbed by the injustice which cause it. Those of us who live in affluent circumstances accept our duty to develop a simple lifestyle, in order to contribute more generously to both relief and evangelism.)

In einem wichtigen Dokument fand sich hier erstmals die Selbstverpflichtung zu einem „einfachen Lebensstil“ als persönliche Antwort auf das Elend in der Welt. Doch so klar der 9. Artikel auch formuliert ist – die Diskussionen und Debatten um seinen Inhalt gingen danach erst richtig los. Denn wie lässt sich dieser einfache Lebensstil konkreter umschreiben? In der Abgrenzung nach oben bedeutet er: kein Luxus. Die Autoren der „Londoner Verpflichtung“ von 1980 erörterten, was das Lausanner Prinzip genauer bedeuten könne, und führten zum persönlichen Lebensstil aus:

„Wir legen weder für uns noch für andere Regeln oder Vorschriften fest. Jedoch beschließen wir, auf Verschwendung zu verzichten und der Extravaganz im persönlichen Leben, in Kleidung, Wohnung, bei Reisen und Kirchenbauten zu widerstehen. Ebenso bejahen wir die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Luxus, kreativen Liebhabereien und leeren Statussymbolen, gelegentlichen Feiern und normalem Alltag.“

Hier scheint noch etwas der alte Grundsatz z.B. von Thomas von Aquin durch, dass alles, was über das Notwendige hinausgeht, der Überfluss eben, den Armen gehört. Im Mittelalter und noch lange darüber hinaus hatte man recht eindeutige Antworten darauf, was Luxus ist. So regelten auch in Genf zu Calvins Zeiten Luxusgesetze, was ein Bürger redlich erwerben durfte und wo die Grenze des Maßhaltens beim Gütergebrauch überschritten wurde. Heute ist es weitaus schwieriger, ja unmöglich geworden, klare Grenzen zu setzen. In unseren sich dynamisch entwickelnden Gesellschaften macht so ein prinzipielles Ablehnen des Luxus kaum noch Sinn. Ludwig von Mises schreibt in Liberalismus (1927): „Die Vorstellung von dem, was Luxus ist, ist daher durchaus an die Zeit gebunden. Vieles von dem, was uns heute als notwendig erscheint, erschien einst als Luxus“. Er nennt zahlreiche Beispiele wie Besteck, Badezimmer, Autos und Fernreisen. Der Ökonom gibt zu bedenken: „Luxus wirkt beispielgebend“, weshalb er in entwickelten Volkswirtschaften durchaus eine wichtige Funktion ausübt. Spontan mag man moralische Einwände dagegen erheben, doch die Zusammenhänge sind kaum zu leugnen: der Luxuskonsum von heute ist der Massenkonsum von morgen.

Nur Wasser und Brot?

Wie wird ein einfacher Lebensstil nach unten abgrenzt? Calvin bemerkte treffend gegenüber denen, die zur Eindämmung von Gier und Maßlosigkeit nur die Befriedung der Notdurft zulassen wollen: „Das ist nun gewiß ein frommer Rat; aber seine Urheber waren doch bei weitem zu streng. Denn sie taten etwas höchst Gefährliches: Sie legten dem Gewissen schärfere Fesseln an, als die, mit denen sie des Herrn Wort bindet. Unter ‘Notdurft’ verstehen sie nun weiter, der Mensch solle sich alles dessen enthalten, was er entbehren kann; nach ihrer Meinung kann man also außer Brot und Wasser kaum etwas genießen.“ (Inst. III,10,1)

Calvin und die Reformatoren hatten wieder die biblische Lehre entdeckt, dass alle von Gott geschaffenen Güter für unseren Gebrauch, ja unseren Genuss gemacht sind. Ein einfacher Lebensstil kann daher in keinem Fall bedeuten, dass z.B. die menschliche Leiblichkeit als solche gering geschätzt wird. Die platonische Verachtung des Leibes und ein scharfer Dualismus zwischen Leib und Seele waren jedoch bald in die frühe Kirche eingedrungen und hatten mit zur Hochschätzung der Askese geführt. Nun ist gr. askesis als Übung (des Sportlers) und im übertragenen Sinne geistliche Übung „der sittlichen Fähigkeiten hin auf die Vollgestalt des christlichen Menschen“ (Karl Hörmann, Lexikon der christlichen Moral) natürlich nichts Negatives. Es ist auch nicht zu bezweifeln, dass so berühmte Asketen wie Antonius ehrenwerte Motive hatten, dem Teufel widerstehen und Gott suchen wollten. Problematisch ist es jedoch, wenn man durch die asketische Beherrschung des Körpers meint, wahrhaft geistlich zu werden und Gott mehr zu gefallen. Da die Bibel jedoch die Sünde weniger im Körper, sondern vielmehr in Zentrum unserer Person, im Herzen, ansiedelt, führt dieser Weg ins Leere.

Askese als radikaler Verzicht ist an sich nicht wertvoll und schon gar nicht heilsbringend und vor Gott verdienstvoll. Trotz des frommen Scheins ist sie keine „Erscheinungsform des Gottesdienstes“ (Calvin). Denn Gott geht es zuerst um die die richtige Herzenshaltung ohne die jedes Fasten wertlos ist. Schon Paulus musste sich mit diesem Problem auseinandersetzen. Da den Kolossern manche gnostisch-asketischen Lehrer ein „schlechtes Gewissen“ machten „wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages“ (Kol 2,16) entgegnete er überraschend scharf. Die vermeintlich Super-Geistlichen, die den Körper, das Fleisch, unterdrücken, haben vielmehr einen „fleischlichen Sinn“ (V. 19) und „befriedigen das Fleisch“ (V. 23), d.h. verharren in Sünde. Ihre „selbsterwählte Frömmigkeit und Demut“ ist „nichts [!] wert“ (V. 23). Das katholische Lexikon der christlichen Moral fasst daher zusammen: „Der Verzicht ist nicht mehr christl., wenn er mit einer  gnostischen Verteufelung gottgeschaffener Werte begründet (vgl. Kol 2,20‑23; 1 Tim 4,1‑4; Tit 1,14f) od. als Selbstzweck od. zur Selbsterhöhung des Menschen geübt wird.“

„Eine Frage des Gehorsams“?

Trotz dieser Gefahren besteht aber sicher Einigkeit darin, dass Christen ein Leben in relativer Armut freiwillig wählen können. Und wie sieht es am anderen Spektrum aus? „Sollten wir also reich bleiben?“ fragt John Stott in Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit / Issues Facing Christians Today. Seine Antwort: „Nein, das wäre nicht nur wegen der Gefahr des Stolzes und des Materialismus unweise, sondern in der Tat unmöglich, weil wir ja großzügig geben sollen, was unseren Reichtum automatisch verringern wird“. Er meint, dass „es wohlhabenden Christen nicht möglich sein wird, reich zu bleiben, zumindest nicht in dem Sinne, dass sie ihren bisherigen wirtschaftlichen Lebensstil unverändert beibehalten. Wir können nicht gleichzeitig ein ‘gutes’ – sprich: verschwenderisches – Leben führen und ein gutes Gewissen haben. Wir müssen das eine oder andere opfern. Entweder wir behalten unser gutes Gewissen und drosseln unseren Wohlstand, oder wir behalten unseren Wohlstand und erdrosseln unser Gewissen. Wir müssen zwischen Gott und dem Mammon wählen.“

Stott beruft sich auch auf 1 Tim 6,17–19, wo die Reichen zum großzügigen Geben aufgefordert werden. Er schließt daraus aber weiter, dass es den Reichen nicht erlaubt sei, reich zu bleiben. In seinem letzten Buch The Radical Disciple gibt Stott die „Londoner Verpflichtung“ (o. Erklärung) wieder, die sich ebenfalls recht kategorisch ausdrückt und den einfachen Lebensstil „eine Frage des Gehorsams“ nennt, also nicht nur eine Möglichkeit; jeder andere Lebensstil sei heute nicht zu begründen (die deutsche Übersetzung der Lausanner Verpflichtung spricht in Art .9 ja auch strenger als im Englischen von einem müssen).

Trotz viel Sympathie für diese Position kann ich Stott und den anderen Autoren der Londoner Verpflichtung (wie Ronald Sider) nicht folgen. Gewiss gilt den Reichen die Aufforderung zum Geben. Die physische und geistliche Not der anderen Menschen darf in keinem Fall aus den Augen verloren werden. Und tatsächlich sollten die recht reichen Europäer insgesamt sicher mehr geben. Dabei gilt die Reihenfolge: zuerst den Glaubensgeschwistern, dann allen Menschen. Paulus: „Last uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (Gal 6,10). Doch ich glaube nicht, dass die natürliche Konsequenz des Gebens und Teilens automatisch und immer ein wirklich einfacher Lebensstil sein muss. Wer viel von seinen Gütern an die Notleidenden abgibt, wer seinen Besitz aufteilt, der wird ganz einfach nicht sehr reich bleiben. Doch stimmt dies tatsächlich? In gewisser Weise hat ein z.B. Schwerreicher, der spendet und abgibt, dann etwas weniger zum Konsumieren, doch begibt er sich damit auf ein niedrigeres, gedrosseltes Wohlstandsniveau? Vielleicht im Einzelfall. Ist er aber dazu verpflichtet? Ich bezweifle es.

Man denke an den litauischen Geschäftsmann und Mäzen Juozas Kazickas (1918–2014), der wirklich große Teile seines Vermögens in wohltätige Stiftungen gesteckt hatte, aber gewiss keinen einfachen Lebensstil praktizierte; sein Anwesen in Vilnius ist objektiv als extravagant zu bezeichnen. War er dem Mammon verfallen? Kazickas: „Das Leben ist nur dann wirklich glücklich, wenn eine Person sein Glück mit anderen teilt… Große wirtschaftliche Errungenschaften, sagenhafter Reichtum – das ist noch kein Glück. Der Mensch fühlt sich erst glücklich, wenn er nicht nur für sich, sondern für andere ein schöneres Leben schafft.“ („Veidas“, 2002/29)

Man denke auch an den Microsoft-Gründer Bill Gates, der viele Milliarden (!) aus seinem Vermögen gestiftet hat, aber ebenfalls weiterhin auf sehr hohem Niveau lebt. So manche mittelständischen Unternehmer in Deutschland oder Litauen fallen mir ein, die viel geben, aber wahrlich nicht einfach leben (z.B. Wagen aus dem Luxussegment fahren). Und schließlich sei Cliff Richard genannt, einer der bekanntesten Christen im Musikgeschäft. Richard, der selbst in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, ist zwar Multimillionär, hat sich aber bis heute das Bewusstsein bewahrt, dass Geld eben nicht glücklich macht. In einer Autobiographie: „Als wir dann später zu Geld kamen, wurden wir dadurch auch nicht glücklicher. Natürlich machte es das Leben angenehmer: wir hatten mehr Sicherheit und weniger Sorgen. Aber es hat nichts dazu beigetragen, Beziehungen zu verbessern, Freundschaften zu vertiefen oder… für jenen lebenswichtigen ‘inneren Frieden’ zu sorgen, der so schwer zu finden ist. Deshalb weiß ich, dass Reichtum nicht gleichzusetzen ist mit Glück.“

Richard begriff, dass seine soziale Verantwortung gewachsen war. Es dauerte jedoch auch bis Anfang der 70er Jahre, bevor er sich stark engagierte. Im Rückblick schreibt er: „Wir müssen alle irgendwo anfangen, und ich weiß, dass dieser Mangel an Betroffenheit nicht daher kam, dass ich mich nicht darum kümmern wollte – es war einfach Unwissenheit. Und ich wusste nichts, weil ich mich nie um Informationen bemüht hatte. Dann kam es, wie es kommen musste. Als ich mit dem Tear-Fund in Berührung kam, erfuhr ich manches. Mit dem Wissen kam die Begeisterung für die Sache, und Begeisterung führt immer zur Tat.“

Ein Besuch in Bangladesch und die dortige Not hatten ihm die Augen geöffnet. Seitdem fördert der bis heute aktive Pop-Star vor allem den britischen TEAR-Fund (The Evangelical Alliance Relief Fund), der sich auf Hilfe zur Selbsthilfe in den sich entwickelnden Ländern konzentriert hat. Anders als viele seiner Kollegen hat er es aber nicht bei einer kurzzeitigen oder gar einmaligen Hilfe belassen. Den TEAR-Fund unterstützt Richard bis heute, die Hilfe ist Teil seines Lebensstils geworden. Und nicht nur das: Er bereist selbst die Notgebiete in Haiti, Sudan, Nepal, um sich ein eigenes Bild zu machen. Und er hat auch die Probleme vor der eigenen Haustür nicht aus dem Blick verloren: In England setzt er sich z.B. für geistig Behinderte oder auch christliche Künstler ein.

All das bedeutet nun jedoch nicht, dass Richard seinen Lebensstil auf einfaches Niveau heruntergeschraubt hätte – seine Villen wie an der Algarve in Portugal und anderswo besitzt er bis heute. Wie man es dreht und wendet – zweifellos lebt er im Luxus. Macht er grundsätzlich irgendetwas falsch? Lebt er im Ungehorsam?

Kinder und der Lebensstil

Die simpel erscheinende Mathematik – wer viel gibt, wird automatisch ärmer – ist also zu hinterfragen. Sie beruht letztlich auf dem Mythos vom Nullsummenspiel (s. hier). Aber gewiss muss sich jeder fragen, ob er oder sie zur ‘Mobilität nach unten’ bereit ist, d.h. den Lebensstandard unter Umständen einzuschränken oder zu senken. Ich halte es hier nur nicht für sinnvoll, von einer allgemeinen Verpflichtung zu einem tatsächlich einfachen Lebensstil zu sprechen. Man sollte bei den konkreten biblischen Verpflichtungen bleiben. Und hier es wird früh genug sehr konkret.

So sind Ehepaare grundsätzlich aufgerufen, Nachwuchs in die Welt zu setzen. Hier besteht eine echte Verpflichtung, die nur in engen Grenzen ausgesetzt werden kann. Kinder kosten uns jedoch Geld, viel Geld. Sie sind nachgewiesen der Hauptfaktor, der den Lebensstandard einschränkt, ja für viele Jahre reduziert. Viel zu oft heißt es jedoch, dass man sich keine Kinder (mehr) leisten könne, weil die Finanzen fehlen. Übersetzt heißt dies: man ist meist nicht bereit, eine Einschränkung des Lebensstandards hinzunehmen; man ist zu einem einfacheren Leben nicht bereit und will sich durch Kinder nicht einschränken lassen. Viele sind auch in ihren besten Jahren (zwischen 25 und 35) nicht für Nachwuchs offen, weil das Leben erst einmal in vollen Zügen genossen werden soll. Liegt im geburtsschwachen Europa nicht hier die größte Herausforderung im Hinblick auf den einfachen Lebensstil?

Über Umwelt und Klima soll an dieser Stelle nicht ausführlicher die Rede sein. Hier sei nur erwähnt, dass der einfachere Lebensstil heute oft mit der Erhaltung der Schöpfung, also ökologisch, begründet wird. „Sustainable living“ lautet das Stichwort – nur dies könne uns vor der Klimakatastrophe retten. Andere fordern, der Mensch dürfe nun nicht mehr über die Natur herrschen, sondern müsse sich mit ihr identifizieren.

Tatsächlich wird Verzicht auf Konsum in Ländern im Westen langsam Mode, und das aus den verschiedensten Gründen. Manche lehnen den Glauben an den technischen Fortschritt ab; andere geben zu bedenken, dass der Verzicht doch bloß der Seufzer einer wohlhabenden und akademischen Mittelschicht sei – Asien, Afrika, Südamerika dagegen brauchen richtiges Wachstum. Außerdem schafft pauschaler Verzicht auf Wachstum und freiwillige ‘Armut’ neue Probleme wie klammere Sozialkassen für in Zukunft noch viel mehr Ältere in Europa und weniger Mittel für Investitionen in Zukunftstechnologien.

Jeder kann sich für einen einfachen Lebensstil entschieden, aber dies kann man nicht verordnen. Der Drang der Menschen in China, Indien und Brasilien nach einem besseren Leben wird sich durch den Verzicht Einiger im reichen Norden kaum bremsen lassen. Die einzige Möglichkeit, mehr Konsum im weltweiten Maßstab zur ermöglichen, sind neue, effektivere Technologien, so dass dann z.B. nicht der ganze Süden Benzinautos, sondern die Umwelt kaum belastende Elektroautos fährt. Eine grüne industrielle Revolution kann den Ausweg weisen – zwischen totaler Ausplünderung des Planeten und Rückkehr zu Selbstversorgung.

„Einfachheit“

Fazit: Ich glaube nicht, dass man den christlichen Lebensstil an ein gewisses Wohlstandsniveau binden kann oder soll. Stott nennt in The Radical Disciple eine Reihe von Kennzeichen des radikalen, d.h. konsequenten Christusnachfolgers wie Nonkonformität, Ähnlichkeit mit Christus, Reife, Abhängigkeit und am Ende provozierend „Tod“, d.h. Absterben des sündigen Menschen. Über den einfachen Lebensstil schreibt er unter der Überschrift „Einfachheit“ (Simplicity). Ich würde auch an diesem Kennzeichen festhalten, aber es jedoch nicht materiell wie Stott in dem Kapitel interpretieren. Er selbst endet sein Buch mit dem Aufruf, Christus in Allem zu folgen und seinen Geboten gehorsam zu leisten. Um diese einfache, d.h. reine und pure Geisteshaltung geht es. Arme wie Reiche können ihr Folge leisten.

Daher denke ich, dass auch ein Reichtum über dem einfachen Niveau ‘zulässig’ sein kann. Und dies auch deshalb, weil es Mittel freisetzt, um anderen Gutes zu tun. Ein Reicher kann nämlich unter Umständen viel mehr geben. Der Puritaner Samuel Willard meinte daher, dass „ Reichtum im Einklang mit der Gottseligkeit steht, denn je mehr der Mensch hat, desto mehr Vorteile hat er, um damit Gutes zu tun, wenn Gott ihm ein Herz dafür gibt“.  Willard spricht dabei das Herz an, denn dort entscheidet es sich ja, ob der Reichtum zur Gier nach mehr und zum großzügigen Geben führt.

Jeder Christ ist zu Zufriedenheit, Großzügigkeit und Dankbarkeit berufen. Für die meisten von uns ist es das Allerbeste, sich mit einem einfachen, d.h. normalen Wohlstandsniveau zufrieden zu geben und sich nicht gierig nach mehr zu sehnen. Aber Gott hat eben auch manchen bewusst mehr geschenkt – denen, die er besonders segnen will oder die den großen Gefahren des Reichtums widerstehen können oder deren Herz er prüfen will.

(Bild o.: Julien Dupre, Die Ährenleserinnen, 1880)