„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!“

„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!“

Jeremy Black ist einer der bekanntesten Historiker in Großbritannien. Im BBC-Film „The Industrial Revolution“ führt er durch die Geschichte Englands des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Ein sehenswerter Abriss der Erfindungen, die durch ihre industrielle Anwendung nicht nur ein Land, sondern schließlich die ganze Welt veränderten – so stark, wie nur zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Eher nebenbei gibt uns die BCC eine Lehrstunde in Volkswirtschaft. Ziemlich genau in der Mitte des einstündigen Films erläutert Black, warum die Franzosen gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Erkenntnisse der Wissenschaftler wesentlich schlechter nutzten als die Briten. Er macht dies an einem augenscheinlichen Vergleich deutlich, und dabei gibt er die vielleicht wichtigste Lektion der modernen Ökonomie mit auf dem Weg. Die Franzosen konnten Erfindungen nicht ausnutzen und daraus Profit machen, weil sie an einer mehr und mehr veralteten Weltsicht festhielten. Und weiter:

„Wir können es auch so sagen: Stellen Sie sich vor, dass der ganze Reichtum der Welt durch diesen Kuchen dargestellt wird [ein Kuchen steh vor ihm]. Die französische Regierung im 18. Jahrhundert nahm an, dass dieser Kuchen endlich [d.h. fix] ist. Sie hatten ihren Anteil an ihm. Aber wenn sie einen größeren Anteil wollten, hatten sie eins zu tun: durch Eroberung diesen Anteil von anderen Ländern an sich reißen [teilt ein weiteres Stück des Kuchens ab]. Aber was, wenn Sie glauben, dass die Summe des Reichtums in der Welt nicht begrenzt ist? Dann können Sie tatsächlich eine Vielzahl von Kuchen herstellen. [Zwei Kuchen werden aufgetragen] In Großbritannien entwickelte man diese Idee im späten 18. Jahrhundert. Die Menschen glaubten, dass man durch die neuartige Industrieproduktion bis dahin nie gekannten Reichtum schaffen konnte; dass es mehr Kuchen geben konnte. Und die britische Regierung glaubte, dass es ihre Verantwortung war, auch sicherzustellen, dass dies stattfindet.“

Die berühmte katholische Aktivistin Dorothy Day (1897–1980) hatte diese Lektion offensichtlich nicht verstanden und meinte daher: „Wer zwei Mäntel hat, der hat einen den Armen gestohlen“. Nun kann es natürlich sein, dass im Einzelfall der Besitzer von mehreren Mäntel jemanden beraubt hat. Dies muss aber nicht so sein; und meistens ist es auch nicht der Fall. Days Spruch hat nur dann moralische Zugkraft, wenn vorausgesetzt wird, dass die Menge der Mäntel begrenzt ist und gleichsam von Natur her jedem einer und nur einer zugeteilt ist. Natürlich würde dann niemand seinen Mantel freiwillig abgeben; also muss ein zweiter Mantel geraubt sein.

Shane Claiborne zitiert in Ich muss verrückt sein, so zu leben diesen Satz von Day zustimmend. Und er fügt seine Version des Mantel-Arguments hinzu: Auf der Welt besitzen 20 Prozent der Menschen 80 Prozent der Dinge. Die Minderheit muss also der Mehrheit etwas weggenommen haben. Fast genauso sagte dies schon der brasilianische Kardinal Dom Helder Camara (1909–1999) vor dem ÖRK im Jahr 1970: „Es ist eine traurige Tatsache, dass 80% der Ressourcen der Welt von 20% der Einwohner kontrolliert werden.“ Eine weitere Variante präsentierte jüngst der frischgewählte EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm am Buß- und Bettag: Die reichsten 85 Menschen auf der Erde besitzen so viel, wie die ärmsten 3,5 Milliarden zusammen. Und dies sei natürlich nicht akzeptabel.

Man hat sich schon lange an diese und ähnliche ‘Argumente’ gewöhnt. Sie haben auf den ersten Blick die Moral auf ihrer Seite. Dass hier etwas nicht stimmt, würde ein Versuch deutlich machen, bei dem es auch um Moral geht: Claiborne und Bedford-Strohm sollten sich einmal mit Bill Gates an einen Tisch setzen und ihm konkret klarmachen, warum er ein böser Mantelräuber ist bzw. auf einem viel zu großen Anteil von Reichtum sitzt. Die Vorwürfe lösten sich schnell in Luft auf, und schuldig wäre am Ende wohl nur ein diffuses „System“ oder ähnliches.

Gates gibt bekanntlich Milliarden für wohltätige Zwecke aus – und wird trotzdem nicht wesentlich ‘ärmer’. Man kann wieder nur an Blacks Kuchen erinnern: Er erläutert uns damit die wichtigste ökonomische Tatsache der letzten zweihundert Jahre: Wohlstand bzw. Reichtum wird geschaffen, ständig neu, ständig weiter. Alle Ökonomien bis zu industriellen Revolution waren mehr oder weniger statisch. Seitdem werden jedoch dank neuer Produktionstechniken immer mehr Kuchen und Mäntel hergestellt – und tausend andere Dinge, an die man vorher noch nicht einmal im Traum gedacht hat. Wenn man diese Tatsache nicht begreift, ist man auch in der Sozialethik auf dem falschen Gleis.

Ursache der meisten wirtschaftlichen Irrtümer, so Milton Friedman in Free to Choose, ist die „Neigung anzunehmen, dass es einen begrenzten Kuchen gibt und dass daher eine Partei Gewinn nur auf Kosten der anderen machen kann.“ Ursache ist der Mythos vom Nullsummenspiel (nur ein andere Name für den begrenzten Kuchen), den auch Michael Hörl in Die Finanzkrise und die Gier der kleinen Leute ins Visier genommen hat. Er zitiert uns bekannte Sprüche wie „Die Armen werden ärmer!“, „Die (wenigen) Reichen dafür immer reicher“, „Die Mittelschichten schrumpfen!“, „Die Kluft wird größer“ und „Der Wohlstand ist ungerecht verteilt!“. Der Publizist aus Österreich weiter:

„Und tendenziell wird alles schlechter, unfairer und vor allem ungerechter. Wer als Fremder noch nie in Deutschland oder Österreich war und die Länder nur aus hiesigen Medien kennt, der könnte meinen, hier würden Millionen Arme in stinkenden Straßen hungern. Dabei konnte sich keine Gesellschaft je zuvor in einem vergleichbaren Massenwohlstand sonnen – auch wenn sie sich im Schatten wähnen. Unser Land verzehrt sich in einer lähmenden Armutsdebatte, kaum etwas beherrscht den Alltag so wie die (geschürte) Angst vor dem sozialen Abstieg.“

Die Ursache solch eines Denkens: „das unselige Prinzip des ‘Nullsummenspiels’… Es besagt: Die Summe aller Dinge auf der Welt ist immer Eins. Hat einer von irgendetwas mehr, muss im Gegenzug dafür ein anderer wohl etwas weniger haben. Doch das Gegenteil ist wahr…“

In vorindustriellen Gesellschaften hatte das Mantelargument eine gewisse Berechtigung: „Da es kein Wachstum gab, musste der Reiche sein Geld ja jemand anderem gestohlen haben“. Die Folge: „Nach Tausenden Jahren der Stagnation und Depression hatte es eine Gesellschaft verinnerlicht, dass man nur reicher werden konnte, wenn man jemand anderem etwas dafür vorher weggenommen hatte, wenn man es stahl oder jemandem betrog.“

Dies änderte sich jedoch grundlegend mit der industriellen Revolution. Vereinfacht gesagt: Alle wurden reicher, und trotzdem wurde niemandem etwas weggenommen. „In weniger als 300 Jahren hat sich unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. In den Köpfen vieler Menschen leben wir aber immer noch wie zu Zeiten Jesu… Der Kapitalismus hat die biologisch perfekten Wachstumsbedingungen für uns Menschen geschaffen: Jährlich leben wir noch länger, werden unsere Kinder immer größer und schwerer… und trotzdem sehen viele Kontinentaleuropäer vor allem Armut, Depression und Niedergang. Denn mangels Wirtschaftsbildung lebt Europas mainstream noch immer in der antiken Welt des Nullsummenspiels, und es warnte schon der Kommunist Bert Brecht: ‘Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!’ [aus einem Gedicht von 1934] Will heißen: Der, der mehr hat als ein anderer, hat nicht etwa mehr gearbeitet, sondern hat es ihm gestohlen.“

Das Brecht-Zitat ist beliebt, auch Sarah Wagenknecht hat damit die Rubrik „Armut und Reichtum“ auf ihrer Homepage überschrieben. Brecht mag ein guter Dramatiker gewesen sein, von Wirtschaft hatte er jedoch keine Ahnung (er war eben Kommunist).

Auch Ludwig von Mises kämpfte in Die Wurzeln des Antikapitalismus (1958) gegen den Mythos vom Nullsummenspiel an. Dieser ist eng verknüpft mit dem Glauben an einen Naturzustand, in dem jeder Mensch seinen gerechten Anteil von der Fülle der Güter der Erde hat. Konkret: Jeder hat also schon seinen einen Mantel. Dummerweise denken Christen gleich an eine angeblich gleichmäßige Verteilung der von Gott gegebenen Reichtümer. In einer gewissen Weise gilt dies sicher für unsere Schöpfungsumwelt. Aber alle tatsächlichen Güter müssen erst einmal hergestellt werden – sie liegen ja eben nicht auf der Erde zur Verteilung herum. Mises:

„Die Menschen, in ihrem Zusammenwirken unter dem System der Arbeitsteilung, haben all den Reichtum geschaffen, den die Träumer für ein Geschenk der Natur halten. Was die ‘Verteilung’ dieses Reichtums betrifft, so ist es unsinnig, sich auf das sogenannte göttliche oder natürliche Prinzip der Gerechtigkeit zu berufen. Worauf es ankommt, ist nicht die Zuweisung von Anteilen aus einem Vorrat, der dem Menschen von der Natur geschenkt worden ist. Das Problem besteht vielmehr darin, diejenigen sozialen Institutionen zu fördern, die dem Menschen die Fortsetzung und Erweiterung der Produktion derjenigen Dinge, die er braucht, ermöglichen.“

Er zitiert den Weltkirchenrat, der bei seiner Gründung 1948 Kommunismus wie Kapitalismus gleichermaßen verurteilte: „Die Gerechtigkeit verlangt, daß die Bewohner von Asien und Afrika zum Beispiel die Vorteile vermehrter Maschinenproduktion genießen sollen.“ Mises bissiger Kommentar: „Danach müßte man annehmen, daß Gott die Menschheit mit einer gewissen Anzahl von Maschinen beschenkt hat und erwartet, daß diese Erfindungen gleichmäßig unter den verschiedenen Nationen verteilt werden sollen. Doch waren die kapitalistischen Länder böse genug, sich viel mehr von diesem Quantum anzueignen, als die ‘Gerechtigkeit’ ihnen zugeteilt hätte, und somit sind die Bewohner Asiens und Afrikas ihres redlichen Anteils beraubt worden. Welch eine Schande!“

Von Mises stellt alles vom Kopf auf die Füße: „In der Tat ist die Ansammlung von Kapital und dessen Investierung in Maschinen, die die Quelle des verhältnismäßig größeren Reichtums der westlichen Völker bildet, ausschließlich dem laissez faire-Kapitalismus zuzuschreiben, den das gleiche Kirchendokument leidenschaftlich entstellt und aus moralischen Gründen verwirft. Es ist nicht die Schuld der Kapitalisten, daß die asiatischen und afrikanischen Völker die Ideologie und Politik nicht angenommen haben, die die Entwicklung eines eigenständigen Kapitalismus ermöglicht hätten, noch ist es die Schuld der Kapitalisten, daß die Politik dieser Nationen die Versuche der ausländischen Investoren, ihnen ‘die Vorteile der vermehrten Maschinenproduktion’ zu verschaffen, vereitelte.“

Der berühmte Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie: „Es gibt aber nur ein einziges Mittel, ihre Not zu lindem – nämlich die uneingeschränkte Übernahme des laissez faire-Kapitalismus. Was sie brauchen, ist: Privatunternehmen und die Ansammlung von neuem Kapital durch Kapitalisten und Unternehmer… Das richtige Heilmittel ist nicht ‘Gerechtigkeit’, sondern die Anwendung von gesunder, das heißt von laissez faire-Politik an Stelle der ungesunden Politik. Es waren nicht die eitlen Abhandlungen über einen unbestimmten Begriff der Gerechtigkeit, die das Lebensniveau des gewöhnlichen Menschen in den kapitalistischen Ländern zu der heutigen Höhe brachten, sondern die Tätigkeit derjenigen, die man ‘rohe Individualisten’ und ‘Ausbeuter’ titulierte… Alle diejenigen, die den Kapitalismus aus moralischen Gründen als ein unredliches System verwerfen, werden irregeführt durch ihr Unvermögen, zu verstehen, was Kapital ist, wie es zustande kommt, wie es erhalten wird und welche Vorteile durch seine Anwendung im Produktionsprozeß gewonnen werden.“

Vor gut zweihundert Jahren wurden die gewaltigsten Transformationsprozesse in Gang gesetzt, die die Erde je gesehen hat. Der BBC-Film geht auf die ideengeschichtlichen Hintergründe nicht tiefer ein, aber hier muss natürlich Adam Smith genannt werden. In seiner Traditionslinie stehen natürlich auch Hörl und von Mises. Der schottische Moralphilosoph überwand das damalige System des Merkantilismus und wurde zum Begründer unsere modernen Wirtschaftswissenschaften. Mit seinem zweiten Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) gab er Impulse wie kaum ein anderer Denker in der Menschheitsgeschichte. Der Titel seines Werks sagt es schon: Wir müssen verstehen, was das Wesen des Wohlstands ist, wie er entsteht und wächst, oder im Bild: auf welche Weisen mehr Kuchen entstehen.

Dieses neue Verständnis führte auch zu einer neuen Sicht des Problems der Armut. Sie muss nicht mehr als unabwendbar hingenommen werden. Armut kann auf breiter Front reduziert werden, weil Wohlstand geschaffen wird.  Peter Heslam aus Cambridge: „Es war nicht die Make Poverty History-Kampagne von 2005, die als erste die Öffentlichkeit zum Nachdenken darüber brachte, was gegen die weltweite Armut getan werden kann. Es war Smiths Buch The Wealth of Nations, veröffentlicht 1776, zu einer Zeit, als auch im Westen die meisten Menschen noch arm waren.“ (www.licc.org.uk) Heslam zu Smith, Armut und Wohlstand s. auch hier.

Es ist letztlich auch Smith zu verdanken, dass wir das Ein-Kuchen-Paradigma überwunden haben und nun eine Vielzahl von Kuchen hergestellt haben und immer weiter herstellen. Leider wird er von christlichen Leitern viel zu wenig, ja fast gar nicht studiert oder seine Ideen verzerrt und nur in negativem Licht dargestellt. Dabei ist der „schnellste Rückgang der Armut in der Geschichte der Menschheit“ (Ban Ki Moon) nicht zuletzt auch sein Verdienst. Es wird Zeit, Smith statt Day zu zitieren

(Zu Smith s. diese sehr gute einführende Vortrag von Lawrence Reed: „Adam Smith and the Birth of Economics“, dort ab etwa der 15. Minute auch zum fixen Wohlstand im Gegensatz zum geschaffenen.)