Das andere große Wunder

Das andere große Wunder

Eine Apologie der Konsumgesellschaft

„Tödliche Gefahren“?

Weihnachtsrummel, Einkaufsstress, Geschenkejagd – von christlicher Seite wird dem in diesen Tagen mit schöner Regelmäßigkeit die Konsumkritik entgegengesetzt. So auch jüngst im Journal „Salzkorn“ der OJC mit dem vielsagenden Titel „Konsum essen Seele auf“ (4/2016; ein Wortspiel nach R.W. Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ aus dem Jahr 1974). Konstantin Mascher, Leiter der Kommunität im Odenwald, berichtet im Editorial vom Vortrag des bekannten britischen Apologeten und Autors Os Guinness, der beim „Younger Leaders Gathering“ (YLG) der Lausanner Bewegung im Sommer in Indonesien zum Thema Konsum sprach:

csm_titel-sk-4-2016_web_927090c81f„Zusammen mit über tausend anderen engagierten Geschwistern aus über 140 Ländern hörte ich ihm betroffen zu. Er wurde nicht müde zu betonen, dass die größte geistliche Bedrohung für das Christentum heute nicht vom vorpreschenden Islamismus ausgehe, sondern vom Kult des Konsumismus. Dieser höhle den Glauben von innen aus und habe im Glauben, Denken und Handeln der westlichen Christenheit verheerende Spuren hinterlassen, wie es nicht einmal die Ideologien der letzten hundert Jahre vermocht haben.“

Mascher weiter: „Dieses Streben nach Selbstoptimierung hat durch den technischen Fortschritt und den leichten Zugang zu Waren und Dienstleistungen eine unerhörte Dynamik bekommen.“ Die Werbung wird kritisiert, und vor allem bekommt der Konsumismus sein Fett weg: „Das konsumistische Ideal verspricht alles und sofort, während die Tugenden des Wartens, Aushaltens, Maßhaltens und Verzichtens effektiv und konsequent abtrainiert werden.“

Im Heft befindet sich außerdem ein Auszug aus Guinness Buch Impossibe People: „Wahlweise fromm? Entschieden gegen den Trend leben“. „Unsere moderne Welt tendiert dazu, sich an Vorlieben statt an Autoritäten auszurichten“, so eingangs die These des Briten. Eine Hauptursache sieht er in der „Allgegenwart und Dynamik der Pluralisierung, in der sich alle Lebensbereiche stetig wandeln und Wahlmöglichkeiten sich unablässig vermehren.“ Guinness ist überzeugt, dass „die reine Wahlmöglichkeit den Kern der modernen Konsumgesellschaft“ bildet. „Unsere Freiheit ist Wahlfreiheit, egal, ob die Wahl richtig oder falsch ist, klug oder töricht. So lange wir wählen, sind wir frei, hingegen sind Wahrheit, Güte, Autorität irrelevant.“ Er glaubt, dass „das Gewählte abgewertet“ wird, und selbst „Gott schrumpft zur Konsummöglichkeit“.

Guinness ist offensichtlich besonders um die Autorität besorgt. Dies macht auch diese Stellungnahme auf dem YLG deutlich. Er spricht dort von den „tödliche Gefahren“ der Moderne. Wir haben uns von einer Haltung der Autorität hin zu Wahl und Bevorzugung gewandelt, einen cafeteria approach entwickelt, was zu religiösem und moralischem Relativismus geführt hat. „In der Konsumgesellschaft finden wir eine tiefe Krise der Autorität vor“, so die Analyse.

Ähnliche Akzente setzte Guinness auch vor ein paar Jahren im Vortrag „The Good Life, or a Life with Goods?“ des „Forum of Christian Leaders“. Durch die breite Analyse unserer modernen Gesellschaft schien die Sehnsucht nach dem dörflichen  Tante-Emma-Laden durch – früher war vieles besser. Vor dem Aufkommen der modernen Werbung vor allem; Guinness lässt kaum ein gutes Haar an ihr. Man fragt sich: Sollte, ja darf ein Christ in dieser Branche, die die Menschen nur noch weiter in den Konsumismus treibt, eigentlich arbeiten?

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Ich schätze Guinness Bücher und vor allem Vorträge, die immer gut recherchiert und rhetorisch einwandfrei (und frei) vorgetragen sind. Aber in diesem Fall kann ich der Erzählung des Briten nicht folgen. Hat die Konsumgesellschaft wirklich schlimmere Spuren hinterlassen als z.B. der Kommunismus als eine der Ideologien des 20. Jahrhunderts? Ich halte so eine Andeutung für wenig durchdacht und kann sie beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ja, der Konsumismus mag manche hässliche Begleiterscheinungen haben (zur Kritik auch ganz unten noch), und viele sind tatsächlich Warenjunkies geworden; doch Zig Millionen Tote und echte Kahlschläge in Zivilgesellschaften hat einzig der reale Sozialismus zu verzeichnen. Gilt es zwischen kommunistischen und konsumistischen Gesellschaften zu wählen, so würde sicher auch Guinness Entscheidung für letztere ausfallen.

Die Konsumgesellschaft beruht auf Wahlfreiheit, und diese ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Die große Ausweitung dieser Freiheiten in den letzten 150 Jahren ist wohl eine der größten Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte. Vieles ist für uns im Westen selbstverständlich geworden wie die freie Wahl des Ehepartners – Jahrtausende war dieser weitgehend vorgeschrieben, wurde von den Eltern oder der Sippe ausgewählt. Auch die Tatsache, dass uns im Prinzip so gut wie alle Berufe offenstehen (selbst wenn dies meist eine theoretische Möglichkeit bleibt), ist ein ungeheurer und recht junger Zugewinn an Freiheit. Wer möchte dies missen? Und warum will Guinness dies nicht positiv würdigen? Schließlich ist zu fragen, ob der Verlust von „Wahrheit, Güte, Autorität“ inhärent in der Zunahme von Wahlfreiheiten ist. Müssen wir die Wahlfreiheiten etwa zurückschrauben, um diese wiederzugewinnen?

Was brauchen wir „wirklich“? 

Was soll dem Konsumismus nun konkret entgegengesetzt werden? Neben dem Artikel einer in freiwilliger Armut lebenden Redemptoristin und persönlichen Berichten findet sich im „Salzkorn“ ein Auszug aus Richards Fosters Nachfolge feiern. Nur hier gibt es konkreter Anweisungen, was denn zu tun sei. Der amerikanische Autor diagnostiziert eine „kranke Gesellschaft“, schildert die biblische Lehre Jesu, der „radikal von der inneren Versklavung spricht, die eine Vergötzung des Reichtums mit sich bringt.“ Jesus war gegen Materialismus, und Habsucht bezeichnet die Bibel als Götzendienst.

„Gott will, dass wir angemessen leben können“, so Foster. Der Bibel folgend lehnt er Asketismus ab; dieser würde nur zu „oberflächlicher Gesetzlichkeit“ führen. Wir sollen unseren Besitz auch „anderen zur Verfügung stellen“ und erkennen, dass er „auch für andere da“ ist; seine Erhaltung ist letztlich Gottes Sache. Foster nennt Grundsätze, die teilweise durchaus gut und zu beherzigen sind: „Bewahren Sie eine gesunde Skepsis gegenüber ‘jetzt kaufen, später bezahlen’“; „Lernen Sie die Schöpfung besser kennen und wertschätzen“; „Gewöhnen Sie sich daran, Dinge zu verschenken“.

Foster fordert jedoch auch: „Lassen Sie sich nicht von der Werbung einfangen“. Wieder gewinnt man den Eindruck, dass Reklame an sich etwas Anstößiges und Anrüchiges sei; dass sie irgendwie moralisch nicht so hoch steht. Ist dies aber tatsächlich so?

Werbung will uns mit verbalen und visuellen Mitteln Produkte und Dienstleistungen attraktiv machen. Was ist daran auszusetzen? Hersteller informieren über ihre Produkte und preisen diese an. Eine freie Gesellschaft mit einer freien Wirtschaft mit den großen Möglichkeiten der Kommunikation kann nur eine intensiv werbende Gesellschaft sein. Wie sollte eine echte Alternative aussehen? In einer freien Wirtschaft hat Werbung ihren Platz, denn wir können mit unseren freien Kaufentscheidungen die Werbung bewerten und sie testen. Wenn der Staat wirbt, sieht dies schon anders aus, denn bei vielen seiner Leistungen haben wir keinerlei Wahl. Auch Werbung der Politiker ist etwas anderes, da ihre Produkte nur schwer zu testen sind (Ludwig von Mises weist in seiner Nationalökonomie darauf hin, dass „politische Propaganda und kaufmännische Werbung durchaus verschiedene Dinge [sind], mögen sie sich auch oft gleicher Mittel bedienen“.)

Es gilt außerdem zu bedenken, dass wir die allermeiste Werbung weitgehend ignorieren; wir sind tatsächlich gar nicht so dumm, dass wir jedem Spruch auf den Leim gehen. Der moderne Verbraucher ist viel mündiger, als es meist erscheint. Schließlich sind in der kommerziellen Werbung unlautere Methoden und klare Lügen gesetzlich sowieso untersagt; Werbung unterliegt wahrlich nicht zu wenigen Auflagen. Sie ständig schlecht zu machen fällt schließlich auch auf uns Christen zurück. Denn in freien Ländern sind Kirchen, Werke, christliche Aktionen werbend und anpreisend unterwegs, und auch für den Glauben überhaupt machen wir Werbung. Der Vorwurf der Manipulation, den man gerne der Werbung macht, wird hier ja auch Christen gegenüber erhoben; man denke an R. Dawkins. (Hier mehr zu Rhetorik und Werbung in einem kurzen Video mit Deidre McCloskey – „a free society is an advertising society“.)

Foster beginnt seine „zehn Grundsätze für ein einfaches Leben“ mit der Forderung „Kaufen Sie nur noch, was wirklich nötig ist. Kaufen Sie nichts aus Status- oder Prestigegründen, sondern weil sie es brauchen.“ Wenn diese Forderung nicht Asketismus bedeuten soll (und Foster grenzt sich von diesem ja deutlich ab), dann steht sie gar nicht in irgendeinem Widerspruch zur Konsumgesellschaft und läuft gleichsam ins Leere. Denn wir kaufen allermeist Dinge, die wir meinen zu brauchen. Wenn wir sie überhaupt nicht bräuchten, käme es erst gar nicht zu einer Kaufentscheidung. Irgendwie brauchen wir also alles, was wir haben und konsumieren.

Das meint Foster aber sicher nicht. Er würde nun den Akzent auf wirklich brauchen und nötig haben legen. Und er bringt das Prestige ins Spiel. Doch das macht den Grundsatz auch nicht konkreter und praktischer. Status und Prestige sind in unserer Markenwelt kaum von Kaufentscheidungen zu trennen, d.h. irgendeine Art von Status wird mit dem Konsum so gut wie immer ausgedrückt und bekräftigt – und sei es der Status „bewusster und sparsamer Verbraucher“.

Fosters Grundsatz ist ein Stück weit banal und hilft kaum weiter. Denn er zerfließt zwischen den Händen, sobald es konkret wird. Was wir brauchen, hängt sehr von den Umständen und dem Einkommen, der Situation und Kultur usw. ab. Brauchen wir zehn paar Schuhe? Zwanzig? Wozu brauchen wir einen Skiurlaub? Oder ein Wohnmobil? Brauchen wir einen „Volkswagen“, wo doch der Skoda mit derselben Ausstattung auch reicht? Brauchen wir die 25. Reise nach Israel? Oder ein Dutzend nach Teneriffa? Oder eine Sammlung von 236 CDs und Tausende Bücher? Was ist mit Tapeten, diesem doch überflüssigen Wandschmuck? Und wer braucht eigentlich ein iPhone? – Sobald die puren existentiellen Bedürfnisse erfüllt sind (Körper mit ausreichend Nahrung versorgt, Kleidung zum Schutz vor Kälte und ein Dach über dem Kopf), ist „wirklich nötig“ eine extrem relative und subjektive Größe.

Es ist die Konsumgesellschaft, die die Grenzen dessen, was wir brauchen und zu brauchen meinen ständig verschoben hat und immer noch erweitert. Heute braucht jeder elektrischen Strom. Ein Leben ohne ihn ist theoretisch vorstellbar, aber selbst die größten Fans eines einfachen Lebensstils wollen auf seine Annehmlichkeiten gewiss nicht verzichten. Elektrische Haushaltsgeräte haben erst vor gut einhundert Jahren in Deutschland ihren Siegeszug begonnen. Anfangs waren sie mehr Spielzeuge der Oberschicht. Nach und nach nahm die Ausstattung der Haushalte mit ihnen deutlich zu. Da jeder das Leben angenehmer gestalten und verbessern will, war die Nachfrage immer groß und wurden die Produkte dank Konsum immer erschwinglicher. Doch man vergesse nicht: Auch hier begann alles mit Status und Prestige, denn wer z.B. in Berlin um 1910 elektrisches Licht an der Decke hatte, der war wer.

Vollends daneben liegt Foster mit diesem Ratschlag: „Lehnen Sie alles ab, was zur Sucht werden kann.“ Und konkret: „Machen Sie Schluss mit dem Genuss von zur Süchtigkeit verleitenden Getränken oder schränken Sie wenigstens deren Verbrauch ein (Alkohol, Kaffee, Tee, Coca-Cola)… Machen Sie sich los von allen Medien, ohne die Sie nicht mehr auskommen zu können glauben.“

So gut wie alles in der geschaffenen Welt kann uns zur Sucht verleiten – müssten wir dann nicht alles meiden?? Essen und Sexualität, Spiele und Sport, Arbeit und Bildung usw. usf. – Suchtpotential liegt fast überall. Wie um alles in der Welt will Foster die doch recht kategorische Forderung biblisch und theologisch begründen, wir sollten auf die genannten Getränke verzichten? Fällt er hier nicht in den Asketismus zurück? Und ist so eine Regel nicht gesetzlich? Schluss machen mit Tee und Kaffee? Unsinn! Hier muss Foster scharf widersprochen werden. (Hätte er formuliert „machen Sie Schluss, wenn ein konkretes Getränk Sie konkret zur Sucht verführt“, wäre dies etwas ganz anderes.) Und Medien, ohne die wir nicht mehr auskommen? Auch hier gilt, dass bei konkreter und echter Suchtgefahr (und dafür gibt es recht klare Kriterien) ein Losmachen nötig ist. Doch wir kommen im Alltag ohne viele Medien in der Praxis kaum noch aus. Daraus sollte man sich kein schlechtes Gewissen machen (lassen).

(Mehr zu angeblichen Verpflichtung zu einem „einfachen Lebensstil“ hier.)

Zurück in die Wildniß?

In Der Preis des Geldes äußern sich die Autoren Thomas Giudici und Wolfgang Simson ebenfalls sehr konsumkritisch. Die „freie Wirtschaft“ nennen sie „eine sehr spezielle  Form der Sklaverei“. Unter der Überschrift „Konsumieren als des Sklaven Lebenssinn“ formulieren sie diesen Grundsatz: „Je mehr Bedürfnisse, desto unfreier.“ Dagegen haben die Armen in der Dritten Welt „viel weniger Bedürfnisse und sind schon zufrieden, wenn sie die existentiell befriedigen können“. Gewiss, sie sind gleichsam gezwungen, eher als wir Reiche zufrieden zu sein, und sie bewerten Glück nach anderen Kriterien als wir. Die beiden stellen sie aber als Vorbild hin: „sie sind freier und darum glücklicher“.

Zurück in die Armut? Dass Giudici und Simson das Leben der Ärmeren auf dieser Welt durch eine rosa Brille sehen, zeigen ja die Migrationsströme, die mit so vielen Herausforderungen verbunden sind. Irgendwie wollen die vermeintlich so Glücklichen nur zu gerne in den Sklavenhaltergesellschaften des reichen Nordens leben, wo alle „wie wild und ohne Sinn konsumieren“. Offensichtlich sehen sie einen Sinn darin und erscheint ihnen das Leben dort attraktiv.

In unserer Warenwelt, durchtränkt von der „penetranten Werbung“, „hören wir die Predigten des Materialismus in Reinkultur, die nur ein simples Evangelium besitzen: dass wir glücklicher sind, wenn wir mehr besitzen.“ Wir sind kommerzialisiert, materialistisch und dekadent. Was ist da falsch gelaufen? Die Antwort der beiden Autoren:

„Die vormoderne Wirtschaft von der Antike bis in die Zeit der Industrialisierung war ein integrierter Teil des Lebens. Sie war den anderen Lebensbereichen nicht übergeordnet… Ihre Hauptaufgabe war die Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft…, also die Versorgung und nicht die Vermehrung. Mehr zu produzieren und zu arbeiten, als dafür notwendig war, wäre den Menschen damals sinnlos vorgekommen… Zum epochalen Bruch dieser Sichtweise der Wirtschaft kam es durch die Industrialisierung. Der Lebensbereich der Wirtschaft begann sich zu verselbständigen und war nicht mehr eingebunden in die allgemein gültigen Sinnzusammenhänge und Wertmaßstäbe des Lebens… Mit der Entstehung des marktwirtschaftlichen Gedankenguts der Nutzen- und Gewinnmaximierung wurde Arbeit zu einem Mittel der Vermehrung des eigenen Wohlstandes weit über die existentielle Versorgung hinaus.“

Die Industrialisierung war einer der Sündenfälle bei den beiden evangelikalen Autoren. Natürlich ist es dumm, ihre komplexen Folgen und negativen Begleitumstände zu übersehen. Aber er ist noch viel dümmer, ihren Segen schlechtzureden. Dank der Industrialisierung erreichen wir nun an die 90 Jahre Lebensdauer (doppelt so viel wie früher), überleben so gut wie alle unsere Kinder und kann der Planet viele Milliarden mehr als noch um 1800 ernähren. Und wie soll eigentlich die Armut radikal reduziert werden, wenn nicht Wohlstand in großem Ausmaß vermehrt wird?

Von einer vorindustriellen Wirtschaft träumen auch Peter Block, Walter Brueggemann und John McKnight in An Other Kingdom: Departing the Consumer Culture. In einer Gesprächssendung dazu meinte Block: „Wir können uns eine Subsistenzwirtschaft vorstellen, in der Menschen alles wie gewohnt machen, aber der Marktplatz am Rand des Ortes ist, und er ist ein Ort des Tauschens.“ In diese Richtung sollte es gehen; leider haben wir, so Block, den Begriff „Subsistenz“ diskreditiert und zu „unterentwickelt“ gemacht. Mit dem Begriff „Entwicklung“ kann er nichts anfangen. Die Kontrollfrage sei, ob die Menschen genug Zeit hätten für das, was sie tun wollten. „Wenn die Antwort ja ist – willkommen in der Wildniß“.

Dieser verklärende Blick in eine idyllische, vorindustrielle, unterentwickelte Welt ist geradezu zynisch. Subsistenzwirtschaft ermöglicht gerade so das Überleben. Dass dort Menschen in Muße durch die Gegend spazieren und das tun, was sie wollen, und vor Freude juchzen, weil sie nicht in unseren Konsumzwängen gefangen sind, ist doch pure Illusion. Natürlich leben bitterarme Menschen nach anderen Maßstäben und haben durchaus Tugenden bewahrt, von denen wir lernen können (wie Gastfreundschaft). Das heimelige Dorf ist dennoch nicht das Ideal, sondern die ach so anonyme Großstadt, denn das Überleben von viel mehr Menschen kann gesichert werden, wenn Austauschprozesse auf dieser erweiterten und globalen Ebene stattfinden.

Dass wir dies alle glauben, zeigt ein einfaches Gedankenexperiment. Was geschieht, wenn das Kind oder Enkelkind von Guinness oder von Giudici und Simson oder von Block, Brueggemann und McKnight krank wird – ernsthaft krank? Wenn es droht zu sterben? Selbst wenn wir aus dem reichen Norden in freigewählter relativer Armut im Busch leben und alles zum Leben Nötige im dörflichen Markt erwerben – spätestens in solch einer Situation hat das Flirten mit der Subsistenzwirtschaft ein Ende. Dann müssen plötzlich die Segnungen der hochentwickelten Medizin her, und je höher entwickelt, desto besser. Dann wird alles liebend gerne in Anspruch genommen, was die ach so verteufelte Konsumgesellschaft zu bieten hat: Apotheken an jeder Ecke, Medikamente in Hülle und Fülle und direkt verfügbar; Dienstleistungen aller Art wie Krankenwagen, Intensivstationen, Flugzeuge usw. Alles wird durch regelmäßigen Konsum aufrechterhalten und durch nichts sonst. Im Krankheitsfall kann die Konsumgesellschaft auf einmal nicht gut genug funktionieren! Wer in die Wildniß will, der sollte dies auch konsequent tun und sich nicht dieses rettende Hintertürchen aufhalten.

Heute spotten die Konsumkritiker wie Alan Storkey (s.u.) über unsere Freiheit, aus 40 Zahnpastasorten zu wählen. Zig, ja manchmal Hunderte Soren von Joghurt- und Müslisorten im Supermarktregal gelten nun als Beweis unseres Verfalls. Der „Spiegel“ ruft dagegen in seiner Rubrik „Früher war alles schlechter“ (51/2016) zum Jubeln auf. „Es ist erst eine oder zwei Generationen her, dass die Leute in Deutschland beim Einkaufen fünf verschiedene Läden abklappern mussten…“ Jedes der Geschäfte pflegte „sein eigenes unbefriedrigendes und kaum rentables Kleinsortiment“. Nun stehen im deutschen Supermarkt durchschnittlich sage und schreibe 11.600 Artikel – im Vergleich zu 3200 vor 50 Jahren. „Nie zuvor war das Angebot so vielfältig, nie zuvor waren die Möglichkeiten, sich gesund und abwechslungsreich zu ernähren, so groß… Ein erheblicher Teil der hinzugekommenen Artikel gehört zum Frischesortiment, weil die Kunden ihr Obst und Grünzeug zu jeder Zeit haben möchten und es dank der Globalisierung auch kriegen. Gut so. Wer in die Sechzigerjahre zurückmöchte, heben die Hand.“ Genau.

Der Verlust der Tugend?

Dekadente Materialisten, die nicht mehr verzichten und abgeben können –  viele zeichnen nun das Bild von Tugendmonstern, zu denen wir angeblich (fast) alle verkommen sind. Marion Gräfin Dönhoff: „Unsere westliche Gesellschaft ist zu einer Raff-Gesellschaft degeneriert. Die meisten haben nur noch ihre eigene Wohlfahrt im Auge. Daran, wie sie das Wohl der Gemeinschaft mehren können, denken die wenigsten.“ (Zivilisiert den Kapitalismus) Walter Brueggemann meinte im oben zitierten Gespräch, im „geschlossenen System des Konsumismus“ gäbe es „keine Vergebung, keine Großzügigkeit und Gastfreundschaft“. Wir hätten wegen Kapitalismus und Konsumismus, so der allgemeine Tenor, eine Welt verloren, die wir besser bewahrt hätten. Alan Storkey behauptet in „Postmodernism in Consumption“ (in: Christ and Consumerism): „Hätten wir nicht den Konsumismus, wären wir im Hinblick auf die Qualität der Waren, der Dienstleistungen und das Leben selbst besser dran.“

Sind wir wirklich schlechter dran? Um 1900 wäre ich als deutscher Mann statistisch gesehen in meinem jetzigen Alter (49) schon über zwei Jahre tot. Ich glaube, da bin ich nun wahrlich besser dran.

Was die meisten der genannten Kulturkritiker nur unzureichend beachten, ist die Tatsache, dass Segnungen auch Herausforderungen mit sich bringen. Die Bevölkerung wuchs im 19. Jahrhundert stark, die Sterblichkeit von Kleinkindern ging deutlich zurück, die Lebensdauer stieg; dies brachte nicht wenige Probleme in den geradezu explodierenden Großstädten mit sich. Die Segnungen der Medizin schufen ganz neue Herausforderungen und Probleme wie Abhängigkeit von Medikamenten oder auch Stoffe wie Drogen als eine Art Nebenprodukt (auch Heroin war anfangs ein Medikament). Auch für die technischen Errungenschaften gilt dies (so führte der Autoverkehr auch zu Verkehrstoten, Umweltproblemen und Bewegungsmangel).

Betrachten wir auch das Eheleben. Heute sind die Scheidungsraten recht hoch, was zum Schluss verleiten könnte, dass sich die Ehepartner früher mehr liebten und es in Ehen allgemein besser zuging. Sicher ist es gerade aus christlicher Sicht nicht zu begrüßen, dass der Ehebund nun so oft aufgelöst wird. Doch man ziehe aus all dem nicht voreilige Schlüsse. Scheidungen haben auch deswegen zugenommen, weil wir nun viel länger zusammenleben als noch vor einhundertfünfzig Jahren. Bis in die Neuzeit bekamen Eltern Kinder, zogen sie bestenfalls gemeinsam auf, und nur wenige erreichten ein hohes Alter. Viele Frauen starben bei Geburten oder bald danach wegen Infektionen. Man lebte mit dem Partner viel kürzer zusammen als heutzutage. Außerdem war die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit groß, weil die Familie meist Produktionsgemeinschaft war. Scheidungen waren da kaum denkbar.

Und vor allem sind unsere Ansprüche durch freie Partnerwahl und das bürgerliche Ideal der Liebesheirat und der familiären Harmonie und Liebe drastisch gestiegen. Ehe und Familie waren auch in Europa bis vor gar nicht so langem eine sehr nüchterne, pragmatische, aus heutiger Sicht fast schon lieblose Angelegenheit. Unsere vielen positiven Gefühle und Erwartungen an Beziehungsqualität konnte man sich ‘ewig’ gar nicht leisten. (Man denke nur an die erschreckend hohe Kindersterblichkeit; eine moderne sehr tiefe emotionale Bindung an jedes Kind hätte man unter diesen Umständen kaum ausgehalten.)

Unsere Moral ist also einem Wandel unterworfen, und das heißt noch nicht einmal, dass unsere obersten Normen (wie z.B. die lebenslange Ehe) relativiert würden. Unsere praktische Moral wandelt sich, die konkreten Probleme und Herausforderungen sowie die Anwendung der moralischen Maßstäbe. So ist eben die praktische Moral im überschaubaren dörflichen Leben von einst eine andere als heute in viel anonymeren Großstädten. Hier gibt es je nach Kriterien Fortschritte wie Rückschritte.

Os Guinness betont immer wieder, dass Freiheit Tugenden braucht, und diese wiederum sind auf den Rückhalt in Religion angewiesen. Er knüpft hier an Gedanken von Alexis de Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika (1834/40) an. Nun stehen wir in der Ethik und Moralphilosophie zweifellos vor großen Herausforderungen (s. z.B. Alasdair MacIntyres Der Verlust der Tugend). Stehen die Menschen in unseren Industriegesellschaften nun aber mit den Tugenden auf dem Kriegsfuß? Sind sie solch große Egoisten wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte? Moralische Monster wie man sie nie kannte? Und ist daran die Konsumgesellschaft schuld?

„Aus einem Feind einen Freund machen“

Deidre McCloskey widmete sich diesen Fragen in The Bourgeois Virtues. Im Kapitel  „Solidarity Regained“ setzt sich die Wirtschaftshistorikerin u.a. mit The Habits of the Heart (1985) auseinander. Robert Bellah (und Koautoren) beklagen darin den Verlust der Solidarität. Die Moderne hätte zerstörerische Konsequenzen für unsere soziale Ökologie; Vereinzelung und Fragmentierung seien die Folgen; der Individualismus habe sich zu einem Krebsgeschwür gewandelt. Persönliche Beziehungen seien im Rückgang begriffen; und natürlich sollen wir materialistischer geworden sein.

McCloskey vermisst den historischen Beleg für diese Degenerationsthese, die meist nur ungeprüft wiederholt, ja eingehämmert wird. „Jeder glaubt dies. Alle außer den Historikern, die sich die Mühe gemacht haben und wirklich einen historischen Vergleich anstellen“. Sie stellt dem sogar diese These entgegen: „Das moderne kapitalistische Leben ist gesättigt von Liebe.“ Und: „Eine Wirtschaft ohne Liebe würde nicht funktionieren. Und sie wäre die Hölle.“ Paradoxerweise ist es so, dass ein Markt, auf dem wir so offensichtlich unsere persönlichen Ziele verfolgen, „uns sicherer und liebevoller macht“.

Die Konsumgesellschaft ist in ihrem Kern eine große Tauschgesellschaft, die das friedliche Nebeneinander von sich fremden Menschen fördert. Wir können Dinge tauschen und miteinander handeln, weil wir ganz unterschiedliche Dinge auf unterschiedliche Weise herstellen. Hier ist daher die Arbeitsteilung zu nennen, die mit dem Tausch natürlich eng zusammenhängt. Beide erzeugen Abhängigkeit, beide sind Grundlage des gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Jörg Guido Hülsmann schreibt hier:

„Ohne die materiellen Vorteile, die sich aus der friedlichen Zusammenarbeit ergeben, bestünde für die Einzelnen kein besonderer Anlass, sich den Zwängen der gesellschaftlichen Rücksichtsnahmen zu unterwerfen. Ganz im Gegenteil bestünden dann starke Anreize, andere Menschen als Beutetiere anzusehen und auch so zu behandeln. Statt mit ihnen zu kooperieren, würde man sie berauben oder versklaven. Doch die materiellen Vorteile der Arbeitsteilung beflügeln den Willen zur Integration in die Gesellschaft. Sie motivieren zur Friedfertigkeit, Rücksichtnahme und Anteilnahme – auch dort, wo der christliche Geist nicht Pate steht.“

Ähnlich Murray Rothbard in Man, Economy, and State: „Es ist die friedliche, kooperative Gesellschaft, die günstige Bedingungen für Gefühle der Freundschaft unter Menschen schafft. Die gegenseitigen Vorteile, die sich durch den Austausch ergeben, bieten einen gewaltigen Anreiz… mögliche Aggressoren (Initiatoren von Gewalt gegen andere) dazu zu zwingen, ihre Aggression zurückzuhalten und friedlich mit ihren Mitmenschen zusammenzuarbeiten.“

Vor allem Friedrich August von Hayek prägte den Begriff der Katallaktik (oder Katallaxie) für die Interaktion von freien Menschen auf Märkten (z.B. in Law, Legislation and Liberty). Das Wort leitet sich vom griechischen katallassein für tauschen ab, beinhaltet, so Hayek, aber auch die Ideen „in die Gemeinschaft aufnehmen“ und sogar „aus einem Feind einen Freund machen“.

Arbeitsteilung, Tausch, Handel und Konsum stärken nicht so sehr die kleine, enge, unmittelbare Gemeinschaft, sondern schaffen eine stark erweiterte, ausgedehnte Gemeinschaft. So ist auch die von McCloskey genannte Liebe zu verstehen. Es ist nicht die Liebe der kleinen Welt wie in Ehe und Familie; es ist eine erweiterte Liebe, eine Art weniger persönliche, d.h. weniger direkte Liebe (und darin liegt natürlich das Wahrheitsmoment der Kritik an der ‘lieblosen’ Gesellschaft) – es ist zivile Eintracht, und sie darf auf keinen Fall geringgeschätzt werden.

Diese Gedanken sind natürlich nicht neu. Schon Baron des Montesquieu schrieb im 18. Jahrhundert in Vom Geist der Gesetze, es sei „die natürliche Wirkung des Handels…, Frieden zu bringen. Zwei Völker, die miteinander Handel treiben, machen sich voneinander abhängig: wenn eines Interesse hat, zu kaufen, so liegt dem anderen daran zu verkaufen; und alle Vereinbarungen beruhen auf den wechselseitigen Bedürfnissen.“ Der Handel steigert den Wohlstand und beseitigt störende Vorurteile. Am Anfang des zweiten Bandes seines Hauptwerkes schreibt er, es gelte „beinahe allgemein die Regel, dass es da, wo sanfte Sitten herrschen, auch Handel gibt und dass überall, wo es Handel gibt, auch sanfte Sitten herrschen.“

Im folgenden Jahrhundert beschrieb dann de Tocqueville den Wandel von aristokratischen, vormodernen und vorindustriellen Gesellschaften zu modernen, demokratischen und industriellen. Der Franzose idealisierte die neue Gesellschaftsform keineswegs (sicher eine der großen Stärken seines berühmten Buches). In aristokratischen Gesellschaften „wurde jeder Mensch mit einigen seiner Mitbürger eng verknüpft“, alle hatten „eine genau umgrenzte und dauernde Stellung inne“; man war eng an eine Gemeinschaft und damit auch an Tugenden gebunden. Jedem war klar, von wem über sich man Hilfe in Anspruch nehmen hatte und wem unter sich Hilfe zu geben war. „Die Aristokratie hatte aus allen Staatsbürgern eine große Kette geschmiedet… die Demokratie zerreißt die Kette…“ Der Einzelne wird durchaus stärker isoliert, aber „das Band menschlicher Gefühlsverbindungen dehnt sich und wird locker“. Tocqueville an anderer Stelle im Buch: „Der Handel ist von Natur ein Feind aller gewalttätigen Leidenschaften. Er liebt die Mäßigung, gefällt sich in Zugeständnissen, flieht sorgfältig den Zorn. Er ist geduldig, geschmeidig, einschmeichelnd… Der Handel macht die Menschen voneinander abhängig…, er macht sie freiheitsliebend, aber entfernt sie von der Revolution.“

Das große Wunder

Kommen wir zum Schluss zurück zum aktuellen Weihnachtsrummel. Doch beginnen wir mit der biblischen Anthropologie, der Lehre vom Menschen nach dem Sündenfall. Gerade die reformatorische Theologie, vor allem Augustinus folgend, hat hier immer ein nüchternes Bild gezeichnet: der Mensch ist in Eigenliebe gefangen, dreht sich um sich selbst (Luthers „in sich selbst verkrümmt“), ist moralisch verfinstert, ja der Unerlöste ist Finsternis (Eph 5,8). Der Heidelberger Katechismus fasst sogar zusammen, dass der natürliche Mensch geneigt ist, Gott und den Mitmenschen zu hassen (Fr. 5).

All dies ist wahr. Es ist Gottes Gnade zu verdanken, dass wir die vollen Auswüchse dieser Bosheit und Dunkelheit nur selten sehen. Ab und an, gerade in Krisenzeiten wie Kriegen, kommt das abgrundtiefe Böse zum Durchbruch, das in jedem Sünder steckt. Dass wir dies nur zu leicht vergessen, liegt an dem zivilisatorischen Niveau, das wir mittlerweile erreicht haben. Und ein wichtiger Teil dieser Zivilisation ist unsere hochentwickelte Konsumgesellschaft.

In der Vorweihnachtszeit drängeln sich Tausende und Abertausende auf engem Raum in den Innenstädten, in Fußgängerzonen und auf Weihnachtsmärkten, in Kaufhäusern und Einkaufspassagen, auf Rolltreppen und vor Kassen; Menschen, die ihre eigenen, privaten Ziele verfolgen, also vom Eigeninteresse geleitet sind, und Christen fügen hinzu: vielfach moralisch ganz Verfinsterte – und doch geht es ungeheuer einträchtig zu! Man beschimpft sich kaum, wird auch fast nie gewalttätig; so gut wie nie gehen sich Menschen nun gegenseitig an die Gurgel. Viele sind genervt und gestresst, Verkäufer erschöpft, und nicht wenige werden wohl auch von Taschendieben bestohlen. Dennoch ist es ein großes Wunder, dass sich Millionen durch die Städte schieben und es dabei weitgehend friedlich bleibt. C.S. Lewis nannte die Menschwerdung des Sohnes Gottes das Große Wunder; dass der intensive Einkaufsrummel von Massen von Sündern so ganz ohne Blutvergießen geschieht, ist das andere große Wunder. Und wir haben es nicht zuletzt gerade der vielgescholtenen Handels- und Konsumgesellschaft zu verdanken.

Diese erweiterte Marktordnung wurde von Menschen nicht bewußt geschaffen. Sie entstand, ist also nicht der Genialität von Planern oder gar Intellektuellen zuzuschreiben. Ihr Erfolg ist nicht in der Gutheit des Menschen begründet, sondern in der Gnade Gottes.

(Dies ist nicht rettende, sondern allgemeine Gnade, von der auch die Nichtgläubigen Nutzen haben. Luther nennt in der Erklärung des ersten Artikels des Apostolikums zur Schöpfung in seinem Kleinen Katechismus „Kleider und Schuhe, Essen und Trinken, Haus und Hof“, ja „alle Güter“; all dies erhalten wir „ohne all mein Verdienst und Würdigkeit“, es ist der „göttlichen Güte und Barmherzigkeit“ zuzuschreiben; wir sind Gott daher Lob und Dank schuldig. Im Heidelberger Katechismus führt Ursinus in Fr. 27 zur Vorsehung Gottes aus, dass alles „nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand uns zukommt“, Leidvolles wie auch Angenehmes, also auch der „Reichtum“. Wer wagt nun zu sagen, dass die Warenfülle der Konsumgesellschaft hier nicht eingeschlossen sei? Natürlich ist auch mit der Bibel vor den Gefahren des Reichtums zu warnen. Ist aber nicht auch sinnvoll, für die Konsumgesellschaft Gott zu danken und alle, auch Nichtgläubige, an ihre Pflicht zu Dank ihm gegenüber aufzurufen, als sie immer nur zu schlecht zu machen?)

Von Tocqueville lernen

Die christlichen Konsumkritiker müssen zur Bedachtsamkeit ermahnt werden. Pauschale Verurteilungen sind hier wenig sinnvoll. Nur zu leicht gerät aus dem Blick, was die Konsumgesellschaft uns alles Positives geschenkt hat. Hier sei nur an den Aufstieg der Frauen erinnert. Wieder in England beginnend wurde shopping schon bald mit dem Einsetzen der Industrialisierung eine bevorzugte Beschäftigung der Frauen des gehobenen Mittelstandes. Gerade in den Department Stores, den Kaufhäusern, eröffneten sich ganz neue Freiräume vor allem für Frauen (das erste Kaufhaus mit mehreren großen Verkaufsräumen war das „Harding, Howell & Co’s Grand Fashionable Magazine“ in London, das schon 1796 seine Tore öffnete, s.u. Bild). Ab etwa 1860 drängten dann auch Frauen als Verkäuferinnen in diesen Sektor. Die Welt des Konsums erschuf für sie ganz neue Berufsperspektiven. Staat, Kirche, Hochschulen waren noch lange reine Männerdomänen; die Welt des Verkaufs und des Konsums bildete einen Vorreiter bei der Frauenemanzipation.

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Genauso wenig darf die Konsumgesellschaft natürlich nicht glorifiziert werden. Hier sah schon Tocqueville genau, dass die „Liebe zum Besitz“ neue Probleme mit sich bringt, ja dass viele in den „Bann einer feigen Liebe zu Gegenwartsgenüssen geraten“. Allerdings muss beachtet werden, dass manche der heutigen Mißstände nicht aufs Konto des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft gehen. Es ist vielmehr die staatliche Politik des lockeren Geldes, ja des Geldes aus dem Nichts (sog. fiat money) und eines Zinssatzes von Null, der die falschen Signale setzt: Gebt euer Geld möglichst schnell aus; sparen lohnt nicht. Dieses verzerrte System nennt Rahim Taghizadegan in Wirtschaft wirklich verstehen  „Kreditismus“ oder „Konsumismus“, wobei er eben etwas ganz anderes meint als die oben genannten Konsumkritiker. Auch Hülsmann hat in Krise der Inflationskultur die Folgen einer verfehlten Geldpolitik (der sog. monetäre Interventionismus) beschrieben wie Unersättlichkeit, Hast und Kurzfristorientierung und vor allem den Anreiz zur Verschuldung. (S. sein sehenswerter Vortrag zur „Inflationskultur“; zu den kulturellen Folgen ab 31:00. Hülsmann weist z.B. auch darauf hin, dass die Geldpolitik der USA u.a. dazu führt, dass das Land Kapitelnettoimporteur ist und Kapital aus armen Länder wie Afrika absaugt – auch dies ist nicht ‘dem’ Kapitalismus zuzuschreiben, sondern der verfehlten Geldpolitik.)

Welche Vision präsentieren uns Konsumkritiker wie Guinness? Eine Gesellschaft, die weniger konsumiert? Mit weniger Wahlmöglichkeiten? Oder die gar hinter die Industrialisierung zurückgeht? Hier wird es in der Regel schrecklich unkonkret und wenig hilfreich. Meist bleibt als Ergebnis nur ein diffuses schlechtes Gewissen zurück.

Tocqueville wies einen anderen Weg. Er sah die Demokratie nüchtern, auch die Herausforderungen, die sie mit sich gebracht hat. Naivität kann man ihm gewiss nicht vorwerfen. Aber er hatte genau erkannt, dass es kein Zurück in die Aristokratie gibt; die demokratische Gesellschaftsform setzt sich fast schon unaufhaltsam durch, und seine Prophezeiung sollte sich erfüllen. Ihm ging es darum, diesen Prozess zu begleiten und die Demokratie zu „erziehen“ und zu „belehren“, sie zu mäßigen und ihre natürlichen Defizite wie die Diesseitsorientierung zu ergänzen. Hier sah Tocqueville die besondere Aufgaben der Religion bzw. der Kirchen.

Ähnlich der modernen Demokratie ist auch die Konsumgesellschaft eine tragende Säule unserer Zivilisation. Wir sollten als Christen nicht auf den Konsumismus eindreschen und ständig über die Kommerzialisierung jaulen. Hinter die Konsumgesellschaft kommen wir nicht zurück, und wer den Weg zurückgehen will (wie Karl Popper immer wieder betonte), der muss den ganzen Weg zurückgehen – und wir werden kaum schätzen, was wir dort finden werden. Kritik ist nötig, aber sie muss an der richtigen Stelle ansetzen, nicht beim vermeintlich bösen Kapitalismus, sondern beim Staat, der der gierigste von allen ist und sich sein Geld selbst druckt und von niedrigen Zinsen am allermeisten profitiert. Warum wird ständig die Werbung angeschwärzt? Sie überflutet uns zwar oft mit ihren Reizen, doch wir können diesen widerstehen. Der Staat dagegen treibt uns in die Verschuldung und setzt ganz falsche (Konsum-)Anreize setzt, denen nur ganz schwierig zu entrinnen ist (s. die Rationalitäsfallen bei Hülsmann) – und er bleibt bei der Kritik außen vor?

Die Kirchen und ihrer Vertreter sollten sich bei der Kritik von wirtschaftlichen Prozessen zurückhalten, denn in der Regel fehlt es ihnen an Kompetenz und Einblicken in die tieferen Ursachen von Mißständen. Sie sollten sich auf die positive Botschaft konzentrieren, die die Nachfolger Christ schon immer verkündet haben. Mit Tocqueville können wir als Kirchen danach streben, dass die Bürger den Blick zum Himmel wenden und ein „Gefühl für die Ewigkeit“ entwickeln. Gerade die christliche Religion lehrt den richtigen Blick in die Zukunft, nämlich „die Seelen auf den Himmel gerichtet zu halten“.

Unser Konsumverhalten ist von dieser Botschaft nicht getrennt; Christen sind zum  Abgeben, Teilen und Verzicht aufgefordert. Anhalten, Maßhalten und Mäßigung ist und bleibt gut. Aber es geht hier nicht um ein entweder-oder (entweder viel konsumieren oder viel abgeben); es geht um ein sowohl-als auch: Wir konsumieren im Dezember viel, und das ist gut so, aber wir geben auch viel ab. Und tatsächlich bestätigen die Statistiken mit schöner Regelmäßigkeit, dass die Seelen doch noch nicht so aufgefressen sind, wie es den Schwarzsehern erscheint – im Dezember wird mit Abstand auch am meisten gespendet, etwa eine Milliarde. Wenn wir schon so degeneriert sind, warum tun die Menschen in der Vorweihnachstzeit anderen in so großem Maße Gutes wie in Jahrhunderten und Jahrtausende zuvor nicht? Nein, wir sind nicht die hohlen Menschen wie uns viele weismachen wollen.

(Foto ganz o.: Einkaufspassage in Bremen)