„Nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren“

„Nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren“

Im Angesicht des Todes

Er signierte seine Bilder nicht wie seine Landsleute Jan Vermeer oder Frans Hals, sondern nur mit dem Vornamen – bewußt im Stil der großen Italiener von Leonardo über Raffael bis Tizian. Rembrandt van Rijn hatte früh eine erfolgreiche Karriere als Maler begonnen, wirtschaftlich schnell großen Erfolg und entsprechendes Selbstbewusstsein. Mit Geld konnte der Künstler aber schlechter als mit dem Pinsel umgehen. 1656 konnte Rembrandt den Bankrott nur durch Verkäufe seiner Sammlungen vermeiden. Bis an sein Lebensende plagten ihn Schulden.

Auch im privaten Leben wurde der Holländer von Schicksalsschlägen nicht verschont. Nach nur acht Ehejahren verstarb seine Frau Saskia. Von den vier gemeinsamen Kindern erreichte nur Titus das Erwachsenenalter. Dieser heiratete, wurde noch Vater, starb jedoch 1668. Einige Jahre zuvor war auch Rembrandts zweite Frau bzw. Lebensgefährtin, die zwanzig Jahre jüngere Hendrickje Stoffels, verschieden.

Rembrandt war vom Tod umgeben. Möglicherweise sah er auch sein eigenes Ende deutlich kommen. Der Maler starb am 4. Oktober 1669 in Amsterdam. Das letzte unvollendete Bild auf der Staffelei zeigt wieder eine der biblischen Szenen, die Rembrandt zu Hunderten gemalt und gezeichnet hat. In ihr ist der alte Simeon zu sehen, der den einige Wochen alten Jesus bei der Darstellung im Tempel in Jerusalem auf dem Arm hält und in Gott lobt (Lukas 2,29–32):

HERR, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren,

wie du gesagt hast;

denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen,

welchen du bereitest hast vor allen Völkern,

ein Licht, zu erleuchten die Heiden,

und zum Preis deines Volkes Israel.

„Nun kann dein Diener in Frieden sterben“ geben moderne Übersetzungen V. 29 wieder. Den Tod vor Augen ist dies die wichtigste Frage: Endet dieses irdische Leben im Frieden mit Gott? Wir können davon ausgehen, dass Rembrandt sich intensiv mit dem Tod beschäftigt und seine Antwort gefunden hat. Er hatte keine Aufzeichnungen zum persönlichen Glauben hinterlassen, aber seine zahlreichen Bilder sprechen für sich, und auch „Simeon im Tempel“ ist ein Bekenntnis.

In den 80er Jahren besuchte ich an Samstagabenden gerne die Wochenschlussandacht in der lutherischen Kirche in Eschede. Ein kleiner Kreis von ein, zwei Dutzend Teilnehmern, spontan ausgewählte Lieder, Abendmahlfeier mit selbstgebackenem Brot, und zum Abschluss reihten sich alle in einem Halbkreis vor dem Altar auf und sangen das sog. Nunc dimittis (nach den ersten Worten im Lateinischen): den Lobgesang des Simeon. In liturgischen Kirchen wie auch der anglikanischen und der lutherischen ist das Nunc dimittis seit Jahrhunderten Teil der Abendgebete oder Schlussandachten. Simeons Worte vom Lebensabend passen zum Ende des Tages oder der Woche. Hier einige Beobachtungen zum Text zum Jahresende.

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Der souveräne Gott

In den drei Lobgesängen in Lk 1–2 reden Maria, Zacharias und Simeon Gott zu Beginn an. Im Deutschen ist immer vom „Herrn“ die Rede.  Bei dem Mann im Tempel finden wir aber nicht das übliche griechische Wort kyrios. In V. 29 wendet sich Simeon an Gott als den despotes. Daraus wurde unser „Despot“. Damit ist hier nicht der Gewaltherrscher unseres Sprachgebrauchs gemeint, aber dennoch der Herrscher und Gebieter.

Der despotes wird für Gott nur noch an einigen wenigen Stellen wie Jud 4, Off 6,10 und 2 Pt 2,1 gebraucht. Meist sind im NT damit die Herren von Sklaven gemeint, die eben über ihren Besitz das volle Verfügungsrecht haben. Aber auch dieses Bild wird durchaus auf die Beziehung von Gott und den Gläubigen übertragen. In 2 Pt sind sie vom Herrn „erkauft“ – man wird Christ durch den Wechsel des Besitzers. Simeon bezeichnet sich in V. 29 als „Diener“, wobei das gr. doulos eben auch als „Sklave“ übersetzt werden könnte.

Gott wird in diesem Abschnitt als der aktive und souveräne Herr dargestellt, und dazu passt despotes. Er hat seine „Zusage erfüllt“ (V. 29, NGÜ) und die Rettung für die ganze Welt „bereitet“ oder „vorbereitet“ (V. 31). Jesus, der Retter, wurde „gesetzt“ oder dazu „bestimmt, dass viele in Israel an ihm zu Fall kommen werden“. Hier wird ein göttlicher Plan umgesetzt. Simeon „wartete“ (V. 25), weil Gott ihn warten ließ. Er löst seine Zusagen souverän ein.

Simeon wird als „gerecht und gottesfürchtig“ vorgestellt. Die Tugend der Gottesfurcht ist auf Seiten der Menschen die rechte Antwort auf die Souveränität Gottes. John Murray hat diese Tugend als „Seele der Frömmigkeit“ bezeichnet. Sie bedeutet eine Haltung des Respekts, der Ehrfurcht und der Achtung Gott gegenüber. Es gibt natürlich auch eine falsche Furcht vor Gott, nämlich eine Haltung, die unser deutsches Wort „Angst“ besser erfasst. Wie wir auch in Lk 2 sehen, verliert die Gottesfurcht im Neuen Testament nichts von ihrer Bedeutung (s. Lk 1,50; Apg 9,31; 2 Kor 7,1; Kol 3,22; Phil 2,12; 1 Pt 2,17; Hbr 12,28).

Dass hier ein Plan Gottes zur Ausführung kommt, nimmt den beteiligten Menschen nicht ihre persönliche Verantwortung. Maria, Joseph und Simeon sind aktiv Handelnde. Simeon wird vom Hl. Geist angeregt, in den Tempel zu gehen, und die Zusage, dass er zu Lebzeiten den Messias sehen würde, war ebenfalls ein direktes Wort Gottes an ihn. Aber auch diese direkte Kommunikation teilt Gott souverän aus. Die Eltern Jesu taten mit diesem das Übliche (Beschneidung und Darstellung im Tempel, V. 21–24); dafür hatten sie sicher keine spezielle Anweisung Gottes. Gerade deshalb wird die Prophezeiung aus dem Munde Simeons für sie so ermutigend gewesen sein.

Der tröstende Gott

Simeon wartete auf den „Trost Israels“ (V. 25), manche übersetzen „Hilfe“ (NGÜ) oder „Rettung“ (EÜ). Beides hängt natürlich eng zusammen: Wer in Not beisteht, gibt damit auch Trost. Der von den Israeliten erwartete Messias ist der Retter und Tröster des Volkes und der ganzen Welt. Gott wendet sich denen zu, die Hilfe brauchen; den „Elenden“ wird eine gute Botschaft gebracht (Jes 61,1). Vielfach im Propheten Jesaja wie in Jes 57,14–21 werden Heil, Rettung und Trost eng miteinander verbunden.

Simeon sieht mit seinen Augen „das Heil“ (V. 30), d.h. – so auch Luther in seiner Übersetzung – den Heiland. Der Trost ist eine Person, das Heil ist eine Person. Jesus ist Gott und damit der Heilsbringer. Sein hebräischer Name Jeschua bedeutet ja auch „Jahve ist Rettung/Heil“ (s. Mt 1,21; Apg 4,12). Für Gläubige Israels wie Asaph war der Gott des Volkes der Trost des Herzens schlechthin (Ps 73,26); im Neuen Bund ist „der Christus des Herrn“ (V. 26) der Trost der Erlösten.

Die Souveränität Gottes ist deshalb nicht ein bloßes Steckenpferd von irgendwelchen Calvinisten, weil sie diese persönliche Spitze, den Trost, hat. Es ist der mächtige, alles lenkende Gott, der diesen Trost möglich macht. Johannes Calvin verbindet beides in seiner Institutio: „Sobald das Licht der göttlichen Vorsehung [oder der souveränen Kontrolle] einem frommen Menschen aufgeht, wird er nicht nur von jener furchtbaren Not und Furcht, die ihn zuvor bedrückte, sondern von aller Sorge befreit und erlösst… Das ist eben der Trost, dass er erkennt: der himmlische Vater hält mit seine Macht alles zusammen, regiert alles mit seinem Befehl und Wink, ordnet alles mit seiner Weisheit, so dass nichts vorfällt ohne seine Bestimmung.“ (I,17,11)

Auch das Niederländische Bekenntnis spricht in Art. 13 über die Vorsehung vom „unermesslichen Trost“ dieser Lehre. Gläubige ruhen in dem Wissen, „dass Gott die Teufel und alle unsere Feinde gleich wie mit Zügeln so im Zaum hält, dass sie ohne seinen Willen und seine Erlaubnis niemand von uns schaden können.“

Natürlich muss in diesem Zusammenhang auch der Heidelberger Katechismus erwähnt werden. Gleich in der ersten Frage hebt Autor Ursinus das Thema auf die persönliche, existentielle Ebene: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Dann wird gleich der „getreue Heiland“ genannt, der uns das Heil gebracht hat und dem wir nun „gehören“. Gläubige haben einen neuen Eigentümer, dessen Besitz sie nun sind. Er muss mächtig sein, um „der Gewalt des Teufels“ entreißen zu können. Dieser Gebieter ist jedoch kein willkürlicher Sklavenhalter. Ursinus erläutert die Souveränität Gottes hier (und in Fr. 26 u. 27) näher: Der Retter ist „getreu“, und der Vater bewahrt uns, schenkt durch den Geist Gewissheit des Glaubens und lenkt alles so, dass es „zu meiner Seligkeit dienen muss“.

Der verworfene Gott

An Weihnachten erinnern sich Christen daran, dass das „Wort des Lebens“, das Leben selbst, in diese Welt kam und Gemeinschaft mit Gott möglich machte. Dies ist Grund zu  großer Freude (1 Joh 1,1–5). Gott ist Licht, so bei Johannes, und im Lobgesang des Simeon preist dieser den Neugeborenen als das „Licht, das die Nationen erleuchtet“ (V. 32). Simeon segnet die Eltern und sagt prophetisch vorher, dass viele „an ihm zu Fall kommen“ werden. Dieser Jesu „wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird“ (V. 34).

Weihnachten ist inzwischen ein universales Fest, ein Lichterfest, das nun sogar nichtchristliche Kulturen prägt. An der Botschaft von Weihnachten scheiden sich jedoch immer noch die Geister. „Das Licht ist in die Welt gekommen“, doch bis heute lieben Menschen „die Finsternis mehr als das Licht“ (Joh 3,19–20). Johannes spricht in V. 19 vom „Gericht“, gr. krisis. Das Wort, von dem auch unsere Kritik abgeleitet ist, bedeutet ursprünglich Scheidung, Entscheidung, Unterscheidung. Die Krise ist der Entscheidungsmoment, und auch vor Gericht wird zwischen schuldig und nichtschuldig unterschieden. Das Kommen Jesu bringt die Scheidung von Licht und Finsternis mit sich, von Glauben und Unglauben (Joh 3,18); von denjenigen, die das Böse und die die Wahrheit tun (Joh 3,21–22).

Die Präsenz Gottes scheidet. Dies war schon beim Auszug aus Ägypten der Fall. Damals war Gott in der Wolkensäule gegenwärtig, aber auf Seiten der Ägypter „war die Wolke finster, und hier [bei den Hebräern] erleuchtete sie die Nacht“ (Ex 14,19–20). Diese Linie führt bis zu 2 Kor 2,15–16: Die Christen sind wegen Christus ein „Wohlgeruch“; für diejenigen, die verloren gehen, ist dies jedoch „ein Geruch, der auf den Tod hinweist und zum Tod führt“. Das Evangelium von Jesus ist eine im Kern gute Nachricht, aber das Himmelreich wird durch „die Predigt des heiligen Evangeliums“ den einen auf- und anderen zugeschlossen, so der Heidelberger Katechismus (Fr. 83–84). Wird die Gegenwart Gottes, das Kommen des Lichts, der Zuspruch des Evangeliums verworfen, findet die „Große Scheidung“ (C.S. Lewis) statt.

Im Mittelpunkt des Weihnachtsfestes steht der Gottmensch Jesus, ganz Mensch und ganz Gott. Daher gibt es auch nur einen Mittler zwischen Gott und Menschen (1 Tim 2,5) und einen Weg zum Heil. Diese Ausschließlichkeit  provoziert, damals wie heute. Schon in Apg 28,22 heißt es, dass der neue Glaube „überall auf Widerspruch“ stößt. Kein Wunder, erfuhr doch schon Jesus viel Widerspruch (Hbr 12,3), wurde der Eckstein (Mt 21,42) zum Stein des Anstoßes (1 Pt 2,8;  Röm 9,32–33).

Der verborgene Gott

Wie kann es sein, dass Gott, der Schöpfer und Retter, der Bringer von Licht und Heil, der Tröster und Heiland verworfen wird? Gott muss als derjenige, der er in Wahrheit ist, erkannt werden. „Die Erkenntnis Gottes unseres Schöpfers“ ist „der Sinn des menschlichen Lebens“, so Calvin in Fr. 1 des Genfer Katechismus. Der gefallene Mensch verwirft und unterdrückt diese Erkenntnis jedoch (Röm 1,18). Gott, der einst unter den Menschen herumspazierte (Gen 3,8), zeigt sich nun nicht mehr offen für alle sichtbar, seine Existenz ist nicht mehr offen-sichtlich.

So ja auch in Lk 2 im Tempel. Ein recht armes jüdisches Paar mit einem einfachen, völlig unscheinbaren Kind – sollen etwa dadurch alle Völker Heil erfahren? Wie konnte Simeon damals den Messias erkennen?

Martin Luther hatte die Problematik genau erkannt. In den Erläuterungen zu den Thesen der Heidelberger Disputation von 1518 schreibt der Reformator, dass Gott sich uns nun in  „Menschlichkeit, Schwachheit, Torheit“ zugewandt hat. Gott will „aus dem Leiden erkannt werden“. Er zitiert 1 Kor 1,21: „Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, die daran glauben.“ Luther weiter: „So reicht es für niemand aus, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt. So ‘macht er die Weisheit der Weisen zuschanden’ (1 Kor 1,19), wie Jesaja weiter sagt: ‘Fürwahr, du bist ein verborgener Gott’ (Jes 45,15).“

Der in der Schwachheit der geringen Geburt und im Leiden des Kreuzes verborgene Gott kann nur im Glauben erkannt werden. Nur durch den Heiligen Geist, der in V. 25–27 nicht zufällig gleich drei Mal genannt wird und der Simeon die Gewissheit gab: dieser Neugeborene ist wirklich der „Trost Israels“ und das Licht der Welt. Hier schließt sich der Kreis. Dieser Geist ist der souveräne Gott; er weht, wo er will (s. Joh 3,8), scheidet und unterscheidet, wie es ihm gefällt und schenkt den von ihm Erwählten Glauben und wahre Gotteserkenntnis.