Der Große Mythos und die Große Tatsache

Der Große Mythos und die Große Tatsache

„The Great Enrichment“

Mit Statistik lässt sich bekanntlich vortrefflich lügen, aber es gibt auch Daten, die kaum zu leugnen sind und die man irgendwie erklären muss. Dazu gehört das Phänomen des „Eishockeyschlägers“: Das verfügbare Einkommen pro Kopf (in heutiger Kaufkraft) lag weltweit geradezu ewig weitgehend konstant bei 1 bis 7$, im Schnitt etwa 3$. Graphisch veranschaulicht ergibt dies eine sehr lange, flache Linie mit einzelnen Dellen – der Stiel des Eishockeyschlägers. Dann, um 1800, bekommt die Linie plötzlich einen Knick: innerhalb von zweihundert Jahren wächst das reale Durchschnittseinkommen auf weltweit 30$, und in vielen Industrieländern auf über 100$. Die Linie führt nach rechts oben, die  Schaufel des liegenden Eishockeyschlägers bildet sich.

Deirdre McCloskey gebraucht diese Illustration gerne. Vor einigen Wochen sprach die Volkswirtschaftlerin (s. Foto o.) in Vilnius im Rahmen der „Free Market Road Show“. Wie ist dieser plötzliche Zuwachs an Wohlstand, „the Great Enrichment“ oder auch „the Great Fact“, die wichtigste – wohlgemerkt – säkulare Tatsache der letzten Jahrtausende zu erklären? In Bourgeois Dignity: Why Economics Can’t Explain the Modern World (2010) geht McCloskey die üblichen Kandidaten für eine Erklärung der Großen Tatsache kritisch durch, darunter Handel und Investitionen, Ausbeutung im Imperialismus. Sie ist dagegen überzeugt, dass nicht physisches Kapital, sondern menschliches Kapital diese historisch einzigartige Entwicklung ausgelöst hat: Erfindungen und Innovationen, also in die Praxis umgesetzte Ideen, die dann auf Märkten getestet wurden. McCloskey bevorzugt daher „innovation“ anstatt „capitalism“, „humanomics“ statt „economics“. Ökonomie hat nach ihrem Verständnis nicht in erster Linie mit den ‘harten’ Dingen zu tun, sondern mit Ideen im Kopf. (S. auch dieses kurze Video mit McCloskey, zur These ihres letzten Buches hier.)

Menschen hatten schon immer viele Ideen, aber Jahrtausende galten die Einfälle des einfachen Menschen kaum etwas. Wer zu Ruhm, Ansehen und Ehre gelangen wollte, musste aristokratischen Minderheiten angehören, einer Kaste von Kriegern oder Priestern. Dies änderte sich erst vor einigen Jahrhunderten: die Mittelschicht, die Bourgeoisie, erlangte mehr und mehr Freiheit; und den innovativen Menschen wurde endlich Ehre und Achtung, ihren Berufen Würde zugesprochen. Die alten Machteliten, die nie innovativ waren (Neues ist potentiell gefährlich, weil die eigene Macht bedrohend), traten in den Hintergrund. Diese Mischung aus Freiheit und Würde für die Innovativen führte zur Industriellen Revolution – der Knick des Eishockeyschlägers.

Eishockey

„Da brauchen wir Schrumpfung“

McCloskeys zeigt, dass dieser gesellschaftliche Wandel vor allem auch durch eine neue Sprache, eine veränderte Rhetorik, ausgelöst wurde. Über Innovation und die Innovativen wurde neu geredet. Daher muss Sorge bereiten, dass heute eine neue Rhetorik um sich greift, die schlicht und einfach destruktiv wirkt. Noch genießen wir historisch gesehen nie gesehenen Wohlstand, aber nun wird verbal der Weg zu diesem einzigartig hohen Niveau diskreditiert und verächtlich gemacht.

Hier ist natürlich Naomi Klein zu nennen. Im Interview mit dem „Spiegel“ zu ihrem neuen Buch Die Entscheidung – Kapitalismus vs. Klima (9/2015) gewohnt selbstsicher: „Das System ist kaputt, die Einkommensunterschiede sind zu groß“. Angeblich geht es ihr um die Armen, aber das Wachstum, das diesen helfen könnte, ist ja der große Übeltäter: „Wachstum kann es künftig in einigen emissionsarmen Bereichen der Wirtschaft geben… Aber der Kern unseres Bruttosozialprodukts sind Konsum, Import, Export. Da brauchen wir Schrumpfung…“ Der Markt soll nicht getötet werden, „aber wir brauchen viel mehr Strategie, Steuerung und Planung…“ Die kanadische Autorin fordert „eine ökonomische und politische Transformation“; diese soll basieren auf „einer gerechten Wirtschaft, mehr Regulierung, einem Abschied vom Wachstumswahn“.

Wie soll der aber Regulierungswahn – alles immer nur einschränken, kontrollieren und begrenzen – etwas Positives schaffen? Bill Gates dagegen: „Wir müssen vorwärtsmarschieren und über neue Erfindungen nachdenken, mit denen wir das Problem und letztlich diese komplizierte Erde in den Griff kriegen.“ Klein wischt so ein Denken einfach vom Tisch: „Ich finde deren Technikfetischismus naiv“.

Träumereien von der guten alten Steinzeit

Von einer geradezu verbohrten Linken wie Klein erwartet man kaum etwas anderes. Was haben aber Theologen zur Großen Tatsache zu sagen? „Großartig!“, „toll!“ oder „wunderbar!“? Keineswegs. (So reden, nebenbei bemerkt, Christen gerne über Kinder und Familie, aber nicht über Wirtschaftliches.) Georg Huntemann (1929–2014) war einer der wenigen Theologen, der Themen wie Innovation, Technologie und Industrialisierung überhaupt erörtert hat. In Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution erläutert er die Auffassung der niederländischen Calvinisten, „dass moderne Wissenschaftsverständnis und moderne Technik das positive Ergebnis christlichen Weltverständnisses [seien]. Dieses habe nämlich das mythologische Weltverständnis des Heidentums aufgesprengt. Durch das Christentum sei doch klar geworden, dass eben nicht Götter und Dämonen die Welt beherrschen, sondern von Gott gegebene Naturkräfte und Naturgesetze, die der Mensch im Schöpfungsauftrag Gottes zu seinem Wohle zu erkennen und dann zu beherrschen habe.“

Schon in Angriff auf die Moderne (1966) sah Huntemann aber auch die andere Seite: „Die Technik macht bodenlos und ehrfurchtslos, weil der technische Mensch alles selbst machen kann und machen will. Technik ist die große Entzauberung der Natur und der Seele. Der Mensch will sich durch die Technik erlösen. Aber in Wirklichkeit wird er durch die Technik versklavt, weil er in ihrer Maschinerie seiner Freiheit beraubt wird. … Technik ist die weitergehende Schöpfung Gottes – aber im Sperrfeuer des Bösen.“

Huntemann ist mit dieser Kritik vor fast 50 Jahren sicher zu weit gegangen, aber er behielt später durchaus noch die Balance. Davon ist in Der Preis des Geldes nichts zu sehen. Die Industrialisierung war einer der Sündenfälle bei Thomas Giudici und Wolfgang Simson. Die beiden evangelikalen Autoren schreiben:

„Die vormoderne Wirtschaft von der Antike bis in die Zeit der Industrialisierung war ein integrierter Teil des Lebens. Sie war den anderen Lebensbereichen nicht übergeordnet… Ihre Hauptaufgabe war die Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft…, also die Versorgung und nicht die Vermehrung. Mehr zu produzieren und zu arbeiten, als dafür notwendig war, wäre den Menschen damals sinnlos vorgekommen… Zum epochalen Bruch dieser Sichtweise der Wirtschaft kam es durch die Industrialisierung. Der Lebensbereich der Wirtschaft begann sich zu verselbständigen und war nicht mehr eingebunden in die allgemein gültigen Sinnzusammenhänge und Wertmaßstäbe des Lebens… Mit der Entstehung des marktwirtschaftlichen Gedankenguts der Nutzen- und Gewinnmaximierung wurde Arbeit zu einem Mittel der Vermehrung des eigenen Wohlstandes weit über die existentielle Versorgung hinaus.“

Natürlich ist es dumm, die komplexen Folgen und negativen Begleitumstände der Industrialisierung zu übersehen, dazu gleich mehr. Aber er ist noch viel dümmer, ihren Segen schlechtzureden. Gott sei Dank haben die Menschen damit begonnen, mehr zu produzieren als für die „Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft“! Nur so konnte doch Massenelend überwunden werden und unsere modernen Gesellschaften („Open Society“ bei Popper, „Great Society“ bei Hayek) entstehen. In der Summe hat die Industrialisierung über die letzten zweihundert Jahre hinweg zu einem gewaltigen Segen geführt. Dank der Industrialisierung erreichen wir nun an die 90 Jahre Lebensdauer (doppelt so viel wie früher!), überleben so gut wie alle unsere Kinder und kann der Planet viele Milliarden mehr als noch um 1800 ernähren. Wären wir bei der „existentielle Versorgung“ stehengeblieben, wären heute noch so gut wie alle gleich arm und der Rahmen der persönlichen Freiheiten äußerst begrenzt.

Wie werden die „Weltprobleme“, die eben auch immer Probleme von konkreten Menschen sind, gelöst werden? Ihrer ‘Lösung’ kommen wir schrittweise näher durch wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt. Leider hat sich diese simple Wahrheit immer noch nicht weit genug herum gesprochen. Und noch immer liest man gerade auch aus christlicher Feder viel zu viel Unsinn über die ach so böse Industrialisierung.

Clemens Schneider kommentiert diese Denke treffend in „Mit der Hysterie-Industrie in die Steinzeit“: „Es ist richtig und wichtig, Fragen des Umweltschutzes anzugehen und ernst zu nehmen. Wir wollen unseren Kindern nicht eine weniger lebenswerte Welt hinterlassen. Das darf aber nicht durch hysterische Rufe nach Verboten geschehen… Stattdessen müssen wir nach intelligenten Lösungen für die Probleme suchen. Kein Lebewesen auf dieser Erde ist so anpassungsfähig wie der Mensch. Wesensmerkmal dieser Anpassungsfähigkeit ist aber gerade das Vertrauen auf den Fortschritt. Menschen wollen ein besseres Leben führen, darum suchen sie nach Lösungen. Nichts anderes ist Fortschritt.“

Schneider, einer der Leiter des Prometheus-Instituts in Berlin, weiter – ganz auf der Linie von McCloskey: „Die Männer und Frauen, die Katalysatoren, Kanalisationssysteme und Solarmodule erfunden haben, haben nach Lösungen gesucht anstatt auf Verbote zu bauen. Das ist die menschliche Variante. Die Dagegen-Grundhaltung der Hysterie-Industrie ist die unmenschliche Variante. Lassen wir die Träumereien von der guten alten Steinzeit. Bauen wir lieber auf eine Zukunft, in der Menschen sauberes Wasser und genug Nahrung haben; in der es den Hühnern besser geht und der Rentner noch genug Geld zum Leben hat; in denen wir die Ressourcen unseres Planeten nutzen und weltweit mehr Wohlstand herrscht. Strengen wir unsere Gehirne an – dazu sind sie da!“

Ein kleines Ja und ein großes Aber

Werfen wir noch einen Blick in die Ethik des evangelikalen Theologen und Ethikers Helmut Burkhardt. In Band II/2 seines durchaus empfehlenswerten Werkes hat er auch der Technik ein Kapitel gewidmet, was grundsätzlich positiv zu würdigen ist. Burkhardt geht von dem Begriff jedoch gleich über zur „ethischen Ambivalenz der Technik“; ihre großen Errungenschaften werden nicht entsprechend gewürdigt. Beim Thema Globalisierung und Technologie (wie auch bei der Marktwirtschaft) folgt dem kleinen Ja ein großes Aber.

Besonders deutlich wird dies auch im Abschnitt „Ursachen der Arbeitslosigkeit“, wo Burkhardt schreibt: „Hauptursache der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit aber ist die in den letzten Jahrzehnten vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung der Technik, speziell der Mikroelektronik, sprunghaft angestiegene Automatisierung in der Produktion wie im Dienstleistungsbereich.“ Er nennt den Rückgang der in der Landwirtschaft Beschäftigten und resumiert: „Dieser technologische Wandel ist ein geschichtlicher Vorgang, der prinzipiell nicht rückgängig zu machen ist.“

Der Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) prägte den Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ für die Wandlungsprozesse in der modernen Marktwirtschaft. Burkhardt richtet den Blick leider nur auf die Zerstörung: Vernichtung von bestimmten Arbeitsplätzen und ganzen Arbeitsfeldern. Die schöpferische Seite wird dabei fast völlig übergangen, obwohl sie doch der entscheidende Faktor ist. Natürlich verschließen sich manche Bereiche der Beschäftigung (so ist die Heimweberei neben zahllosen anderen früheren Berufen praktisch ausgestorben), aber im Endeffekt ist dies ein großer Segen, denn nur so werden Arbeitskräfte für andere Tätigkeiten frei. Wer das alles (wie auch viele Christen reflexhaft) grundsätzlich als zynisch betrachtet, hat – man muss es leider so scharf sagen – von Wirtschaft nichts verstanden. Der technologische Wandel ist nicht nur nüchtern oder gar bedauernd hinzunehmen; er hat z.B. dazu geführt, dass in den wohlhabendsten Ländern körperlich sehr mühselige Tätigkeiten eher selten geworden sind. Sehr viel wird uns nun zum Glück von Maschinen abgenommen. Bei Burkhardt klingt das aber ganz anders: Arbeitslosigkeit wird ja allgemein als sehr negativ wahrgenommen, und wer trägt für dies Übel die Hauptschuld: der technologische Wandel. Die Hauptschuld für unnötige, also vermeidbare Arbeitslosigkeit trägt dagegen tatsächlich allermeist der Staat mit seinem Regulierungswahn.

Unter der Überschrift „Zur nachbiblischen Geschichte des Verständnisses der Arbeit“ lässt Burkhardt an der Industrialisierung leider kaum ein gutes Haar: „Eine weitreichende Veränderung der geschichtlichen Situation ergab sich durch den Fortschritt von einer vorwiegend handwerklichen Produktionsweise in kleinen und mittleren Betrieben zur industriellen Produktionsweise in Großbetrieben. Der Einsatz ständig weiterentwickelter Maschinen führte dazu, dass die menschliche Arbeit immer mehr zerstückelt und mechanisiert wurde“. An die Stelle der gut ausgebildeten Handwerker traten die Massen von ungelernten Arbeitern, so Burkhardt, und dann kommt’s: „Als Teil der Produktionskosten wurde der Lohn, ohne Rücksicht auf die Person des Arbeiters und sein soziales Umfeld, möglichst auf einem so niedrigen Niveau gehalten, dass dadurch gerade noch die Arbeitskraft erhalten wurde.“ Dies ist durchaus schon eine an Marx Sicht, und nicht zufällig heißt es dann auch: „Eine einflussreiche Analyse der Situation gab K. Marx…: ‘Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist… gleich ihren Produktionskosten. In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der [nur mechanischen, H.B.] Arbeit wächst, nimmt daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße nimmt auch die Masse der Arbeit zu…’“

Die marxistische Arbeitswertlehre besagt, dass aller Wert der Produktion sich aus dem Faktor Arbeit generiert. Da im Kapitalismus dem Arbeiter jedoch Löhne gezahlt werden, die unterhalb des Verkaufswertes der Produktion liegen, kommt es nach Marx zur Ausbeutung der Arbeiter durch die Arbeitgeber oder Kapitalisten. Die Differenz des Verkaufspreises der Produktion und der gezahlten Löhne ist der Mehrwert, den der Kapitalist dem Arbeiter entzieht. Interessanterweise kritisiert Burkhardt diese sog. „objektive“ Wertlehre mit keinem Wort, stellt sie als „einflussreiche Analyse“ einfach in den Raum. Dass die marxistische Arbeitswertlehre zwar gut klingt, aber einer Analyse wahrlich nicht standhält (sie ist einer der entscheidenden Schwachpunkte in Marx Lehre, wurde vor allem durch die „subjektive“ Werttheorie der Österreichischen Schule wiederlegt), erfährt der Leser nicht. Auch nicht, dass Neomarxisten verschiedener Couleur sie natürlich dennoch wie verblendet bis heute propagieren (sie steht auch im Hintergrund der Diskussion um die „fair“ gehandelten Produkte). Doch wer sich auf sie einlässt, hat dem Marxismus mehr als nur den kleinen Finger gereicht. Und nun wird sie auch noch dem evangelikalen Theologennachwuchs warm gemacht! Im Verbund mit den anderen Aussagen zur Industrialisierung bleibt in jedem Fall eines beim Leser hängen: was für eine elende Zeit.

Der Große Mythos

Das große Aber im Hinblick auf die Industrialisierung beruht vor allem auf der festen Überzeugung, sie hätte im 19. Jahrhundert Massen ins Elend gestürzt. Auch Bertrand Russell, immerhin einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, schreibt in The Impact of Science on Society: „Die industrielle Revolution verursachte unsägliche Elend sowohl in England, als auch in Amerika. Ich glaube nicht, dass irgendein Student der Wirtschaftsgeschichte zweifeln kann, dass das durchschnittliche Glück im England des frühen neunzehnten Jahrhunderts niedriger war als einhundert Jahre zuvor; und das lag fast ausschließlich am technisch-wissenschaftlichen Fortschritt…“

Es ist einmal wieder Friedrich August von Hayek (1899–1992) zu verdanken, dass dieser Große Mythos („supreme myth“) einer scharfen Analyse unterzogen wurde. Im kurzen Aufsatz „History and Politics“ (1954) geht der österreichisch-britische Ökonom auf die „die Legende von der Verschlechterung der Lage der arbeitenden Klassen in Folge des Aufstiegs des ‘Kapitalismus’ (oder des Fabrik- bzw. des industriellen Systems)“ ein. „Wer hat nicht schon von den ‘Schrecken des frühen Kapitalismus’ gehört und den Eindruck gewonnen, dass die Ankunft dieses neuen Systems unsägliches Leid vielen Klassen brachte, die zuvor recht anständig und zufrieden lebten?“ Er zitiert den 1946 verstorbenen Kollegen Sir John Clapham: „Die weit verbreitete emotionale Abneigung gegen den ‘Kapitalismus’ ist eng mit dem Glauben verbunden, dass das unbestreitbar Wachstum des Wohlstands, den die Wettbewerbsordnung hervorgebracht hat, zum Preis des Senkens des Lebensstandards der schwächsten Elemente der Gesellschaft erworben wurde.“

Hayek gibt zu bedenken, dass die Statistik des Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert eigentlich eine klare Sprache spricht. Wenn die moderne Industrie Massen ins Elend geworfen hätte, warum schrumpfte die Bevölkerung nicht angesichts der schrecklichen Bedingungen? Warum geschah das absolute Gegenteil? „Das Proletariat, von dem man sagen kann, dass der Kapitalismus es ‘geschaffen’ habe, war also nicht ein Teil der Bevölkerung, der ohne ihn [den Kapitalismus] existiert und den er auf ein niedrigeres Niveau gedrückt hätte; es war eine zusätzliche Bevölkerung, die heranwachsen konnte, da der Kapitalismus neue Möglichkeiten für Beschäftigung zur Verfügung stellte.“

Sein Hauptargument: „Die Zunahme von Wohlstand und Wohlbefinden selbst hob Standards und Erwartungen an. Was für Jahrhunderte als natürliche und unvermeidliche Situation oder sogar eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit erschien, wurde nun als unpassend mit den Möglichkeiten, die die neue Zeit bieten konnte, angesehen. Wirtschaftliche Not wurde nun auffälliger und erschien weniger gerechtfertigt, weil der allgemeine Wohlstand immer schneller wuchs als bevor.“ Die hohen Ansprüche und Ziele der Arbeiterklasse waren also das Ergebnis der enormen Verbesserung ihrer Position, die der Kapitalismus mit sich brachte, so Hayek.

Dagmar Schulze Heuling in einem Beitrag in The Standards: Klassisch liberale Aufsätze neu interpretiert (Hg. Michael von Prollius) zu Hayeks Essay: „Zweifellos waren zur Zeit der Industrialisierung die Lebensumstände der meisten Menschen karg und hart. Aus der Sicht des 20. oder gar 21. Jahrhunderts kann man sie mit Fug und Recht als elendig bezeichnen. Ganz anders hingegen musste das Urteil der Zeitgenossen ausfallen. Für sie bedeutete die Industrialisierung ganz unmittelbar Fortschritt und Verbesserung – ein Faktum, das bis heute vielfach übersehen wird. Insgesamt stellten sich die Lebensverhältnisse der nachfolgenden Generationen als jeweils besser als jene der vorangegangenen Generation dar. Und zugleich erlaubten es die durch die kapitalistische Wirtschaftsweise erzielten Verbesserungen, immer mehr Menschen zu ernähren. Menschen, die vorher verhungert oder gar nicht erst geboren worden wären, konnten nun überleben und sich ihrerseits vermehren. In den Statistiken schlägt sich diese Tatsache als regelrechte Bevölkerungsexplosion nieder. Auch der Rückgang der Säuglingssterblichkeit oder die Erhöhung der Lebenserwartung sind eindrucksvolle Belege für diese Entwicklung.“

Schulze Heuling hat natürlich recht: die Industriestädte des 19. Jahrhunderts erscheinen uns heute nur als Slums. Und in gewisser Hinsicht waren sie dies auch. Hayek weist aber darauf hin, dass das Elend auf dem Land sicher nicht geringer war; in den Städten kam es zu einer stärkeren Sichtbarkeit (auch z.B. der Kinderarbeit, die auf dem Land ja nicht weniger verbreitet war). Und die Armen selbst sahen dort direkt, dass Elend keine unabwendbare Tatsache ist. Erst der wachsende Wohlstand schuf soziales Bewusstsein und ein Streben nach persönlichem Weiterkommen und Entkommen aus der Armut.

Dies bestätigt sich ja auch heute bei vielen Schwellenländern wie Brasilien. Nach Jahrzehnten der Militärdiktatur und verfehlter Wirtschaftspolitik ist das Land auf einem guten Kurs; der Wohlstand wächst, und nun sehen die auch immer besser gebildeten Menschen, was alles noch möglich sein könnte und wie schlecht ihr Regierungsapparat immer noch ist. Tausende gehen auf die Straße – gerade weil so viele schon dem Massenelend entkommen und in der Mittelschicht angekommen sind.

England konnte diese mitunter schmerhaften Anpassungs- und Reformprozesse im 19. Jahrhundert umsetzen, da das Land über eine recht gut funktionierende Zivilgesellschaft (freie und engagierte Bürger) und ein weitgehend freies politisches System verfügte (freie Presse vor allem). Kapitalismus ist nur dann wirklich reformfreudig, wenn er mit einem demokratischen System verbunden ist, weshalb Michael Novak ja auch von „democratic capitalism“ spricht. Es wird interessant sein zu beobachten, wie China, ein inzwischen kapitalistisches, aber undemokratisch regiertes Land, mit den hohen Ansprüche und gewachsenen Ziele seiner neuen Mittelschicht in der Zukunft umgehen wird.