Eine Reformations-Revolution

Eine Reformations-Revolution

Die Experten der Kirchengeschichte werden wahrscheinlich nie aufhören über die Bedeutung der Reformation zu diskutieren: War diese Bewegung der Erneuerung der Kirche ein eher sanfter Wandel oder ist etwas Radikaleres geschehen? Nur Reform oder auch Revolution? Die einen betonen die Kontinuität, die anderen die Neuerungen. Alle sind sich einig, dass die Reformatoren zu den Wurzeln zurückkehren und die Kirche von ihren Übeln reinigen wollten. Aber war das alles? War die Reformation lediglich eine Reinigung der Kirche, oder war sie auch das Werk eines Chirurgen, der ganze kranke Organe herausoperierte? Was sagt die Kirchen- und Kulturgeschichte dazu? Was hat sich wirklich nachhaltig verändert?

Heute betont man gerne, dass Katholiken und Protestanten fast die gleichen Überzeugungen haben, über grundlegende theologische Sätze gleich denken und sich nur in einigen ihrer Schwerpunkte unterscheiden. Aber nicht alles lässt sich so einfach glattbügeln. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten in mancher Hinsicht immer noch erheblich. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich verschiedene Kulturen entwickelt, die auf z.T. ganz unterschiedlichen Theologien beruhen. Blicken wir auf einen Bereich, in dem die Reformation deutliche Spuren des Bruchs hinterlassen hat: die Beziehung zu den Verstorbenen.

Die leidende Kirche im Fegefeuer

Was geschieht nach dem Tod? Was erwartet Gläubige nach dem irdischen Leben? Gibt es etwas zu befürchten? Solche Fragen haben die Menschen seit jeher umgetrieben, auch zu Beginn der Reformation. Schon bald trennten sich die Wege der Kirchen wegen der unterschiedlichen Antworten. Bis heute stimmen die evangelischen und katholischen Ansichten über das Jenseits nur in Teilen überein.

Davon kann man sich im katholisch geprägten Litauen regelmäßig überzeugen. Als Beispiel sei eine Predigt von Erzbischofs Gintaras Grušas genannt, die er vor einigen Jahren am 1. November, also zu Allerheiligen, hielt. Auf dem Antakalnis-Friedhof von Vilnius nannte der Erzbischof der Stadt ganz richtig die Herausforderungen einer in der Nachfolge Christi „pilgernden Kirche“ und unterschied von ihr die „triumphierende Kirche, alle Heiligen im Himmel“. Allerdings schob er zwischen beide „die leidende Kirche“: „alle Seelen im Fegefeuer“. Nach dem Tod muss die überwiegende Mehrheit der Gläubigen noch eine Zeit lang im Fegefeuer gereinigt werden, was auch ein schmerzhafter Prozess ist.

Die Evangelischen lehnen dies eindeutig ab: Die pilgernde, auf Erden wandernde Kirche ist die leidende Kirche. Das ganze christliche Leben auf dieser Erde ist auch von Leiden um Christi willen geprägt. Nach dem Tod wird es für die Gläubigen kein Leiden mehr geben.

Der Erzbischof forderte in der Ansprache auf, „für die Toten zu beten – dies hilft ihnen, ihr Ziel schneller zu erreichen. Denjenigen, die an der Pforte des Himmels stehen, aber darunter leiden, dass sie nicht hineingehen können, hilft unser Gebet: ihre Seelen werden schneller gereinigt, und so können sie das Hochzeitskleid früher anziehen, das sie in der Taufe erhalten haben.“ Evangelische sind überzeugt, dass dies so nicht wahr ist. Einem Toten kann niemand mehr helfen, unsere Gebete sind weder hilfreich noch notwendig. Die evangelischen Kirchen lehren, dass die Seelen der Auserwählten nach dem Tod nicht in den „Vorhallen des Himmels“ oder sonstwo festsitzen, sondern sofort bei Gott seien werden, weil sie dann schon völlig rein sind.

Die katholische Kirche lehrt, dass die Lebenden den Toten helfen können, und dass einige der Toten – die Heiligen und Maria, die bereits „im Himmel angekommen“ sind – den Lebenden auf der Erde Dienste erweisen. Deshalb rief Grušas zum Gebet um die „Fürbitte der Heiligen“ auf.

Solche Predigten und Reden und vor allem das Verhalten der allermeisten Litauer zu Beginn eines jeden Novembers, wenn das ganze Land auf die Friedhöfe strömt, zeigen, dass die Reformation noch lange nicht vorbei ist. Nach evangelischer Auffassung sind die Toten ein für allemal tot, und wir, die Lebenden, können nichts tun, um ihnen zu helfen (siehe z. B. 2 Sam 12,22-23). Wenn sie in diesem Leben geglaubt haben, sind sie bei Gott; wenn sie nicht geglaubt haben, müssen wir davon ausgehen, dass sie verloren sind. Sie können nicht von den Lebenden beeinflusst werden, und umgekehrt gilt das gleiche.

„Ein überreicher Austausch“

Martin Luther stellte dies in seinen Tischreden klar: „Gott hat uns in seinem Wort zwei Wege aufgezeigt: den einen, der durch den Glauben zum Heil, und den anderen, der durch den Unglauben zum Verderben führt. Vom Fegefeuer ist dort nicht die Rede, und das Fegefeuer kann hier auch nicht erwähnt werden, weil es die Gnade Christi schmälert und verdunkelt.“ Die Lehre der Reformation versetzte dem damals etablierten Totenkult einen schweren Schlag, indem sie seine Riten und Traditionen radikal verwarf.

Seit dem Mittelalter bis heute ist demgegenüber einer der Eckpfeiler der römisch-katholischen Theologie und Frömmigkeit, dass die Toten und die Lebenden sich gegenseitig beeinflussen. Die Angst vor dem Leben nach dem Tod mag zu Luthers Zeiten viel größer gewesen sein als heute, aber der allgemeine Glaube, dass die Lebenden und die Toten irgendwie ein großes ‘Team’ sind, galt damals wie heute.

Der Katechismus der Katholischen Kirche bestätigt dies: In der „Gemeinschaft der Heiligen“, sei es im Himmel, auf der Erde oder im Fegefeuer, besteht „in der Tat ein dauerhaftes Band der Liebe und ein überreicher Austausch aller Güter“ (1475, Papst Paul VI. zitierend). Die Lebenden können denen helfen, die „in der Gnade und Freundschaft Gottes“ sterben und die deshalb ihres „ewigen Heils“ sicher sind. Doch sie sind „noch nicht vollkommen geläutert“ und müssen daher „nach dem Tod eine Läuterung durch[machen], um die Heiligkeit zu erlangen, die notwendig ist, in die Freude des Himmels eingehen zu können“. (KKK, 1030; in der litauischen Übersetzung ist dem lateinischen Original – „post suam mortem patiuntur purificationem“ – folgend von einer Läuterung durch bzw. mit Leiden die Rede.)

Wichtiger Bestandteil dieses Austauschs ist der Kauf von Messen für die Toten (das katholische Kirchenrecht gibt einem Priester ausdrücklich das Recht, Messen für alle, Lebende und Tote, zu lesen, s. CIC can. 901). Außerdem können Ablässe „den Lebenden und den Verstorbenen zugewendet werden“. Ablässe sind „Erlass einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind“. Die Kirche gewährt Ablässe, weil sie „als Dienerin der Erlösung den Schatz der Genugtuungen Christi und der Heiligen autoritativ austeilt und zuwendet“. (KKK, 1471) Woraus besteht dieser Schatz? Er umfasst „Sühneleistungen und Verdienste Christi“ sowie „die Gebete und guten Werke der seligsten Jungfrau Maria und aller Heiligen… [Sie haben] zum Heil ihrer Brüder in der Einheit des mystischen Leibes beigetragen.“ (KKK, 1476–1477).

Messen und Gebete für die Toten, das Fegefeuer, der Ablass, die Verdienste der Heiligen und Marias – die Reformation bereitete all dem ein Ende (wobei die etwas seltsame Erlaubnis in der lutherischen Apologie des Augsburger Bekenntnisses, XXIV, für die Toten zu beten, als eine Art Ausnahme betrachtet werden muss). In diesem Bereich ist der kulturelle Unterschied zwischen den Konfessionen mit am radikalsten. Im Jahr 1542 schrieb Luther, dass solche „päpstlichen Ungeheuerlichkeiten“ wie die Totenmesse und das Fegefeuer sowie „alle anderen Täuschungen“ von den Evangelischen „abgeschafft und ausgemerzt“ worden seien. Und tatsächlich: in evangelisch geprägten Landen findet sich keine Spur davon.

„Schicklich und ohne Aberglauben der Erde übergeben“

Die Reformation brachte den Menschen eine gute Nachricht – sowohl über das Leben auf der Erde als auch über das Leben nach dem Tod. Das Zweite Helvetische Bekenntnis der Reformierten (1566) bekräftigt: „Wir glauben, dass die Gläubigen nach dem Tode des Leibes geradewegs zu Christus gehen und deshalb weder der Unterstützung noch der Fürbitte der Lebenden, noch all ihrer Dienste irgendwie bedürfen.“ (Kap. XXVI) Im Westminster-Glaubensbekenntnis (1647) heißt es, dass die Seelen der Gläubigen nach dem Tod „unmittelbar zu Gott zurückkehren…, wo sie Gottes Angesicht in Licht und Herrlichkeit schauen und auf die volle Erlösung ihrer Leiber warten.“ (32,1)

Dienste der Lebenden für die Toten sind nicht notwendig, denn Christus und seine Werke allein sind ausreichend. Umgekehrt gilt das gleiche. Das Augsburger Bekenntnis (1530) führt aus: „Durch Schrift aber kann man nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ‘Denn es ist allein ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und Menschen, Jesus Christus (1 Tim 2,5).“ (XXI) Evangelische kritisieren die römisch-katholischen Bestattungsriten, denn es geht ihnen im Kern darum, das biblische Prinzip „Christus allein“ zu verteidigen.

Der Kirchenschatz der römischen Kirche enthält u.a. das Blut von Märtyrern (Heiligen), die angeblich mehr Verdienste erworben haben, als sie für ihr Heil selbst benötigen. Johannes Calvin war mit dieser Lehre ganz und gar nicht einverstanden und betonte, dass auf diese Weise „ihr Blut mit dem Blut Christi vermengt wird“, und dass so aus Christus „ein gewöhnlicher Heiliger gemacht wird“; dabei solle er doch „ganz allein verkündet werden, er allein den Menschen vor Augen gestellt werden, er allein genannt, er allein angeschaut werden, wenn es darum geht, wie wir Vergebung der Sünden, Versöhnung und Heiligkeit erlangen“. (Inst. III,5,3)

Äußerlich gesehen bestatten Evangelische ihre Toten auf ähnliche Weise wie Katholiken. Calvin betonte wiederholt, dass das Begräbnis an sich ein guter Brauch und Teil unserer menschlichen Kultur sei. Eine „mäßige Trauer… tadeln wir nicht, weil wir es geradezu unmenschlich fänden, überhaupt nicht zu trauern“, schreibt Heinrich Bullinger. Wir sollen den Leichnam „schicklich und ohne Aberglauben der Erde übergeben“ und außerdem „der Gläubigen ehrend gedenken, die im Herrn selig entschlafen sind, und ihren Hinterlassenen, wie Witwen und Waisen, alle Dienste christlicher Bruderliebe erweisen. Darüber hinaus gibt es nach unserer Lehre nichts für die Toten zu sorgen“ (Zweites Helvetische Bekenntnis, XXVI)

Es ist nicht nötig, die Toten in besonderer Weise zu ehren oder sich um ihre Grabstätten intensiv zu kümmern, denn sie haben es schlicht nicht nötig. Calvin selbst ging mit gutem Beispiel voran: Er wollte bescheiden und sogar ganz ohne Grabstein bestattet werden (die genaue Lage seines Grabes ist bis heute unbekannt). Vor allem reformierte Christen betonen, dass in Kirchen keine Beerdigungszeremonien abgehalten werden sollten; auch ein ordinierter Geistlicher sei nicht unbedingt nötig. Die britischen Puritaner waren in Bezug auf die Bestattung am radikalsten. Die Kirchenordnung der Presbyterianer, „Directory for the Public Worship of God“ (1647), sieht gar keine Riten vor, auch nicht am Grab.

Bei evangelischen Beerdigungen sind jedoch häufig Geistliche anwesend. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit und Aufmerksamkeit stehen jedoch die Lebenden. Die Evangelischen haben eine Kultur der Verkündigung entwickelt, die sich an die Hinterbliebenen richtet. Die Trauernden sollen durch das Wort Gottes getröstet und gestärkt werden. Die Beerdigung wird als Gelegenheit gesehen, über das künftige Leben und die Hoffnung auf die Auferstehung nachzudenken. Und Luther schlug vor, dass bei Beerdigungen „Trostlieder über die Vergebung der Sünden, den Frieden, das Leben und die Auferstehung der im Glauben Verstorbenen gesungen werden sollten, damit unser Glaube gestärkt wird und wächst.“