Die Vielfalt des Pazifismus

Die Vielfalt des Pazifismus

[Dieser Beitrag ist die deutsche Übersetzung eines Artikels auf dem Portal bernardinai.lt vom Juli des Jahres]

„Pazifismus tötet“ war einer der Slogans, die am 20. Januar dieses Jahres vor der deutschen Botschaft in Vilnius zu hören waren. Mehrere hundert Demonstranten forderten, dass die deutsche Regierung endlich mit der Lieferung von Panzern an die Ukraine beginnt. Es scheint, dass der Pazifismus in der jüngsten Zeit auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist und keinerlei positive Botschaft mehr enthält. Mehr noch, er ist zu einer gefährlichen, unmoralischen, falschen Sache geworden, deren Befürwortern gesagt wird: „Macht in Moskau und Peking für euren Pazifismus Werbung!“

Heute wird davon ausgegangen, dass ein vernünftiger Mensch nicht einmal über die Berechtigung und den Nutzen des Pazifismus nachdenkt. Seit einiger Zeit werden Pazifisten im Westen viel häufiger aufgefordert, ihre Ansichten zu rechtfertigen als diejenigen, die den Krieg als legitimes staatliches Handeln verteidigen oder ihn sogar verherrlichen. Der US-amerikanische Philosoph Duane L. Cady stellte schon vor einigen Jahren zu Recht fest:

„Pazifismus wird selten ernst genommen. Wenn sowohl Akademiker als auch Nichtakademiker den Pazifismus nicht ignorieren, dann tun sie ihn zumindest als stereotypes, extremes Phänomen ab. Während die Waffen unserer Zeit es ermöglichen, ganze Völker, Kulturen, sogar die menschliche Spezies im Allgemeinen und vielleicht sogar das Leben selbst zu zerstören, werden pazifistische Alternativen zum Krieg munter als naiv und fehlgeleitet abgetan. Leider wird der Krieg gleichzeitig als ein notwendiges Element des modernen Lebens betrachtet.“ (From Warism to Pacifism – A Moral Continuum)

Der Pazifismus basiert auf zwei Überzeugungen, einer negativen und einer positiven. Pazifisten glauben, dass Krieg moralisch falsch und verwerflich ist. Sie glauben aber auch, dass die Menschen sich in erster Linie um die friedliche Lösung von Konflikten und einen dauerhaften Frieden bemühen sollten.

Bei weitem nicht alle Christen würden der ersten Aussage zustimmen, aber die zweite sollte unter Gläubigen nicht umstritten sein. Denn sie sind alle aufgerufen, Friedensstifter zu sein – sich für den Frieden einzusetzen (s. Mt 5,9). Das Problem ist, dass viele Gläubige diese Berufung nicht zu verstehen scheinen, nicht wissen, was es heißt, Frieden zu stiften, und Pazifismus pauschal mit Passivität gleichsetzen. Pazifismus wird als Untätigkeit wahrgenommen, als Resignation und bloßes Hinnehmen von Aggression. „Einfach aufgeben, die Waffen niederlegen und das Böse siegen lassen – ist es das, was ihr wollt?”, wird den Pazifisten entgegengerufen. Gerade in Kriegszeiten wird daher alles nur zu leicht auf zwei Extreme vereinfacht: entweder ein verbissener Kampf bis zum eindeutigen Sieg oder feige Passivität und Kapitulation. Tatsächlich aber gibt es, wie wir gleich sehen werden, einen dritten Weg (oder vielmehr mehrere Wege).

„Süß erscheint der Krieg den Unerfahrenen“

Etwa ein Jahrtausend lang, von der Zeit Kaiser Konstantins im 4. Jahrhundert bis zum Aufkommen protestantischer Gruppen wie der Täufer und Mennoniten, wurde ein radikalerer Pazifismus marginalisiert. Aktive Bemühungen um das Verständnis und die Verfolgung des Friedens lassen sich jedoch in der gesamten Kirchengeschichte nachweisen. Im 13. Jahrhundert stellte Thomas von Aquin die Frage „Ist es immer sündhaft, Krieg zu führen?“ (STh, II-II, q. 40). Seiner Ansicht nach ist der Krieg in der Regel eine unmoralische Handlung, es sei denn, es sind bestimmte Bedingungen erfüllt, die ihn sündlos machen. Und das sind eher die Ausnahmen.

Im 16. Jahrhundert kämpfte Erasmus von Rotterdam vehement gegen die Verherrlichung des Krieges. Anlässlich einer geplanten Friedenskonferenz im Jahr 1517, zu der praktisch alle europäischen Herrscher eingeladen waren, verfasste er eine pazifistische Flugschrift mit dem Titel Klage für den Frieden (lateinisch: Querela Pacis). Und in seiner 1521 erschienenen Schrift Süß [erscheint] der Krieg den Unerfahrenen (lat.: Dulce bellum inexpertis) schreibt der große Humanist:

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Erasmus von Rotterdam

 

„Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem der Krieg allgemein als akzeptabel angesehen wird, und wir sind überrascht, dass es Menschen gibt, die ihn nicht mögen […]. Wie viel vernünftiger ist es, sich zu fragen, welcher böse Genius, welche Pestilenz, welcher Wahnsinn, welche Raserei zuerst diesen üblen Geist im Menschen hervorgebracht haben könnte, dass dieses sanfte Geschöpf [d.h. der Mensch], das die Natur für Frieden und Wohlwollen geschaffen hatte, mit solch Wildheit, mit solch wahnsinnigem Lärm in die gegenseitige Zerstörung stürzen sollte.“

Es ist nur zu bedauern, dass litauische Schulkinder von diesem und ähnlichen Texten kaum etwas gehört haben. Sie müssen hingegen Loblieder auf Kriegshelden des sechzehnten Jahrhunderts studieren; sie lernen viel über Julius Cäsar und Alexander von Mazedonien, über die Feldzüge von Vytautas dem Großen und Napoleon; die Eroberungen und insbesondere die Siege des eigenen Volkes in verschiedenen Schlachten werden gefeiert. Ein nüchterner und zumindest etwas kritischerer Blick könnte ihnen zeigen, dass Kriege in den meisten Fällen die Lage der Menschen nur verschlimmert haben und Gewalt das Zusammenleben der Konfliktparteien nicht verbessert hat.

Im Geschichtsunterricht entsteht das Bild, dass Waffen Geschichte machen. Zwar werden einige Fehler und Unvollkommenheiten der Kriegsführer eingeräumt, aber sie haben wenigstens so tapfer gekämpft… Und so wird die Tatsache, dass die Gläubigen in unserer christlichen Kultur der Bergpredigt Jesu Christi folgend in erster Linie zu kreativem Handeln ohne Waffen aufgerufen werden, selten wahrgenommen.

Doch nur ein oberflächlicher Blick führt zu der Auffassung, dass „Widerstehe nicht dem Bösen“ (Mt 5,38) zur bloßen Passivität ermutigt. Tatsächlich weist uns die gesamte bekannte Passage in Matthäus 5,38-42 (unmittelbar gefolgt von der Feindesliebe) auf vier kleine positive Schritte hin, auf vier gewaltfreie Mittel der subtilen Konfrontation. Christen sind verpflichtet, auf das Böse und die bösen Menschen angemessen, d.h. auf christliche Weise zu reagieren. Daher sollen sie mit einer ungewöhnlichen Antwort und unkonventionellem Verhalten überraschen.

Deshalb fordert Jesus seine Jünger auf, auf das Böse in erster Linie mit einer gewaltfreien Antwort zu reagieren, die durchaus wirksam sein kann. Die Geschichte liefert viele Beispiele dafür, wie sich der Einsatz gewaltfreier Mittel des Widerstands als bemerkenswert erfolgreich erwiesen hat – man braucht sich ja nur die Geschichte der Entwicklung des Christentums selbst anzusehen! Zumindest bis zum Ende des 4. Jahrhunderts veränderte die neue Religion, obwohl sie verachtet und verfolgt wurde, die römische Gesellschaft und ihre Kultur auf weitgehend friedliche Weise (mehr dazu in Rodney Starks The Rise of Christianity). Später, im frühen 19. Jahrhundert, erreichten die Abolitionisten in England die Abschaffung des Sklavenhandels durch die Macht der Worte und Argumente. Und in den 1960er Jahren ging die Bürgerrechtsbewegung in den USA mit zivilem Ungehorsam, Boykotten und anderen gewaltfreien Mitteln gegen Missstände vor.

„Atomarer Pazifismus“

Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) 1948 in Amsterdam: „Nach Gottes Willen darf Krieg nicht sein“ – überhaupt kein Krieg, nicht einmal ein Verteidigungskrieg. 1982 ging die ÖRK-Vollversammlung, ebenfalls in Amsterdam, sogar noch weiter: „Ohne Zweifel ist Krieg Sünde.“ Ein solcher absoluter Pazifismus ist utopisch und leugnet das Recht der Staaten zur Verteidigung. Es ist jedoch sehr wichtig zu erkennen, dass es zwischen den Extremen „absoluter Pazifismus“ und „Kriegstreiberei/Liebe zum Krieg“ eine sehr breite Palette von Positionen gibt.

Unter Pazifismus versteht man gewöhnlich die feste Überzeugung, dass es immer und überall falsch ist, Gewalt und Zwang gegen einen anderen Menschen anzuwenden. Die rhetorische Frage, die Pazifisten oft gestellt wird, lautet daher: „Wollen Sie damit sagen, dass ich kein Recht habe, mich gegen den Angriff eines Straßenräubers in einer dunklen Gasse zu verteidigen?“ Gerne wird auf dieser Linie über Pazifisten spöttisch hergezogen, werden sie alle der radikalsten Gruppe zugerechnet.

Aber längst nicht alle Pazifisten sind gleich und gleichgesinnt. Viele Pazifisten lehnen zwar physische Handlungen, die verletzen, beschädigen oder zerstören, im Grunde ab, befürworten aber die Anwendung von Gewalt in klar bestimmten Situationen wie z. B. zur Selbstverteidigung oder bei polizeilichen Maßnahmen (Verhaftung, Inhaftierung usw.). Die Auffassung, dass nicht-tödliche Gewalt grundsätzlich gerechtfertigt sein kann, insbesondere zur Abwehr eines nichtprovozierten körperlichen Angriffs, stellt einen ersten Schritt weg vom absoluten Pazifismus dar. So kann eine Person beispielsweise Pazifist sein (und jeden Krieg ablehnen), aber physische Gewalt gutheißen, um eine Aggression abzuwehren.

Es gibt Pazifisten, die noch weiter gehen: Sie sind der Meinung, dass sogar die Anwendung tödlicher Gewalt grundsätzlich gerechtfertigt sein kann, jedoch nur zur Selbstverteidigung. Gleichzeitig lehnen sie den Krieg ab, weil er immer mit Massengewalt und dem Tod vieler verbunden ist. Wieder andere rechtfertigen die Tötung von angreifenden Feinden im Krieg, verweisen aber auf die Merkmale moderner Waffen: Massenvernichtung und eine hohe Zahl ziviler Opfer (s.u.).

Damit befinden wir uns nun in einem Bereich zwischen den Kriegsbegeisterten und den radikalen Pazifisten, in dem sich die Grundsätze des gerechten Krieges und des Pazifismus überlappen. Einige Pazifisten berufen sich auf die Tradition des gerechten Krieges und argumentieren, dass einige Kriege theoretisch gerechtfertigt sein könnten. Doch der Verlauf der modernen Kriege und die Vernachlässigung eines wichtigen Kriteriums des gerechten Krieges – des Schutzes der Zivilbevölkerung – führen zu dem Schluss, dass die moderne Kriegsführung in den meisten Fällen nicht als gerecht bezeichnet werden kann. Dies liegt daran, dass die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten im Verlauf eines Krieges fast zwangsläufig verletzt werden.

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John Stott

Der anglikanische Theologe und evangelikale Leiter John Stott (1921–2011) beispielsweise verteidigte die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg, forderte aber, die Merkmale moderner Waffen zu berücksichtigen: „Die Erfindung und ständige Weiterentwicklung von ABC-Waffen [atomare, chemische und biologische] stellt die Frage nach der moralischen Bewertung der Kriegsführung in ein völlig neues Licht; diese Entwicklungen stellen die Relevanz der Theologie des ‘gerechten Krieges’ grundlegend in Frage. Der Krieg mag immer noch einen gerechten Grund und ein gerechtes Ziel haben, aber wenn ‘taktische’ oder ‘strategische’ Waffensysteme zur Massenvernichtung eingesetzt werden, kann nicht erwartet werden, dass das Ergebnis für das ursprüngliche gerechte Ziel positiv ist, denn ein Atomkrieg ist keine Schlacht, in der eine Seite gewinnt“ (Issues Facing Christians Today). Deshalb plädierte Stott für einen „nuklearen Pazifismus“: Der Einsatz von Atomwaffen sei in keiner Weise moralisch gerechtfertigt.

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Innenstadt von Tokyo nach dem großen Brand im März 1945

Stott, so denke ich, ist zuzustimmen. Aber gibt es einen moralischen Unterschied zwischen den Hunderttausend Toten, die durch die Atombombe verursacht wurden, und der ähnlich hohen Zahl von Toten, die manchmal durch Luftangriffe verursacht wurden? Der Brand in Tokio nach dem Bombenangriff vom 9./10. März 1945 hat zum Beispiel noch mehr Menschen getötet als die Explosion der Atombombe über Hiroshima. Der Unterschied zwischen konventionellem und nuklearem Krieg ist sicher nicht sehr deutlich, da beide unter Umständen unterschiedslos töten und hauptsächlich Zivilisten schädigen. Daher könnte man, um das Argument von Stott zu erweitern, von einem „Pazifismus der Massenvernichtungswaffen“ oder „technologischem Pazifismus“ sprechen (dies war auch die Position des Ökonomen und Libertären M.N. Rothbard aus den USA; s.u.).

Wird wirklich Gerechtigkeit in Frieden wiederhergestellt? Oder werden durch einen Krieg nur viele neue Ungerechtigkeiten geschaffen? Wer weiß, was bei all den Kämpfen herauskommen wird? – Dies sind die Fragen und das Argument vieler Pazifisten. Diese Verfechter eines „pragmatischen Pazifismus“ weisen darauf hin, dass von den Maßnahmen des Krieges Gewalt, Zwang und Tod nur allzu real sind, während die Verwirklichung der guten Ziele, die sie alle rechtfertigen sollen, vage, unklar und oft nicht einmal erreichbar ist.

Die Geschichte zeige schließlich eindeutig, dass Kriege im Allgemeinen das menschliche Leid eher vergrößern als verringern. Aufgrund ihrer großen Arsenale an Massenvernichtungswaffen neigen die Staaten heute zu einer totalen Kriegsführung. Einen gerechten oder zumindest begrenzten Krieg zwischen ihnen zu erwarten, setzt ein hohes Maß an moralischer und militärischer Zurückhaltung voraus – und davon ist in der Geschichte leider nicht allzu viel zu erkennen.

Sind alle Soldaten Mörder?

Sowohl die Verfechter des gerechten Krieges als auch die gemäßigten Pazifisten sind davon überzeugt, dass militärische Konflikte moralischen Grundsätzen unterliegen sollten. Sie teilen viele der gleichen moralischen Werte, wie etwa die Gleichheit der Menschen, die ein Kern der jüdisch-christlichen Weltanschauung ist. Moralische Gleichheit bedeutet nicht, dass jeder Mensch gleich gut oder schlecht ist. Sie meint vielmehr, dass für alle Menschen die gleichen moralischen und grundlegenden rechtlichen Normen gelten und dass jeder nach diesen Prinzipien behandelt wird.

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Michael Walzer

In seinem Buch Just and Unjust Wars erinnert der US-amerikanische Philosoph Michael Walzer daran, dass die Kombattanten auf beiden Seiten den gleichen moralischen Rechten und Pflichten unterliegen. So darf z.B. keine Seite Kriegsverbrechen begehen. Wer auf der gerechten Seite kämpft, hat auch die Pflicht, Unschuldige zu verschonen, und der Soldat auf der ungerechten Seite hat ein Recht darauf, menschlich behandelt zu werden, wenn er gefangen genommen wird oder verwundet im Krankenhaus liegt. Aber auch die Soldaten, die auf der ‘falschen’ Seite kämpfen, haben ein moralisches Recht, ihre Pflicht zu erfüllen.

SeverlohAls am 6. Juni 1944 die alliierten Streitkräfte in der Normandie landeten, schoss ein junger deutscher Soldat, Heinz Severloh (s. Foto), in recht kurzer Zeit Hunderte von US-Soldaten mit einem Maschinengewehr nieder. Er wurde gefangen genommen, aber nicht wegen Massenmords verurteilt. Die Alliierten ging zu Recht davon aus, dass er seine Pflicht als deutscher Soldat erfüllte und für die Ungerechtigkeit des Kriegs der Nazis nicht verantwortlich gemacht werden kann. Soldaten sind im Hinblick auf den Grund und den Zweck eines Krieges (lat. ius ad bellum) weitgehend den Entscheidungen der Führung ihres Landes unterworfen. Es macht nicht viel Sinn darauf zu bestehen, dass sie sich keinesfalls an einem Krieg beteiligen dürfen, der auf der anderen Seite für illegal und unmoralisch gehalten wird. Aber jeder Soldat ist voll verantwortlich für das ius in bello, für die konkreten Kriegshandlungen auf dem Schlachtfeld. Kombattanten und Zivilisten müssen nach den allgemeinen Regeln der Moral behandelt werden. Kriegsverbrechen sind für alle Soldaten verboten, und Befehle, sie zu begehen, können und sollen missachtet werden.

Es ist bedauerlich, dass der Diskurs über die Anwendung moralischer Grundsätze in der Kriegsführung derzeit sehr zu wünschen übriglässt (was die weitgehend ausbleibende Diskussion über Streubomben und uranhaltige Munition im Krieg in der Ukraine zeigt). Dabei könnten sich die Positionen des gerechten Krieges und des gemäßigten Pazifismus sehr gut ergänzen.

Hier ist nicht zuletzt von Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zu lernen. Als eine Art von Pazifist (und Ausprägungen des Pazifismus gibt es eben einige) weigerte er sich, zu den Waffen zu greifen und mied bewusst den Militärdienst. Dies war einer der Gründe, warum er zu „Abwehr“ ging. Doch alle seine Studenten des Finkenwalder Predigerseminars wurden zur Wehrmacht eingezogen, kämpften also nolens volens auf Hitlers Seite (jeder zweite von ihnen fiel). Bonhoeffer hat ihnen diese Entscheidung nie zum Vorwurf gemacht, und in seiner Ethik, die er zur Zeit des Krieges schrieb, bekräftigte er, dass gerechte Kriege möglich sind (natürlich betrachtete er den Nazi-Krieg nicht als solchen). Der Theologe hatte klar verstanden und betont, dass nur ein Teil der Soldaten zu wahrem Heldentum berufen ist – zur offenen Wehrdienstverweigerung, die damals mit der Todesstrafe bedroht wurde.

Finkenwalde

Bonhoeffers Studenten am Finkenwalder Seminar

Hidden Life

Diesen Weg schlug der österreichische Bergbauer (und gläubige Katholik) Franz Jägerstätter ein. Auf der Grundlage seines moralischen Rechts, nicht gegen sein Gewissen und Gott zu handeln, weigerte er sich, am ungerechten Krieg der Nazis teilzunehmen – und wurde dafür erschossen. Seine Geschichte wird von Terrence Malick im Film „A Hidden Life“ von 2019 erzählt.

Die Tatsache, dass der Militärdienst eher die Regel als die Ausnahme ist und dass Soldaten ein moralisches Recht haben, ihre Pflichten zu erfüllen, ist für Pazifisten meist eine bittere Pille. Sie müssen begreifen, dass es Menschen (und zwar viele) gibt, die bereit sind, ihre Heimat mit Waffen zu verteidigen, was sie aber nicht automatisch zu Mördern macht („Alle Soldaten sind Mörder!“ ist der Slogan einiger radikaler Pazifisten). Nicht-Pazifisten wiederum sollten verstehen, dass diejenigen, die sich weigern, zu den Waffen zu greifen – egal unter welchen Umständen – nicht pauschal verurteilt und des Vaterlandsverrats oder der Feigheit beschuldigt werden können. Denn sie haben ein moralisches Recht, ihrem Gewissen zu folgen und den Dienst mit der Waffe abzulehnen.

„Wir müssen Russland aufteilen“

Die Bandbreite der Ausdrucksformen des Pazifismus ist also erstaunlich groß. Und man bedenke, dass echte Verfechter der Lehre vom gerechten Krieg (d. h. diejenigen, für die der Krieg ein Mittel und kein Selbstzweck ist) im weiteren Sinne ebenfalls als Pazifisten gelten können. Denn sie streben die Wiederherstellung des Friedens mit militärischen Mitteln an, lateinisch pacem facare – Frieden schaffen. Dieses Ziel schafft ein breites Spektrum moralisch akzeptabler Positionen. Die meisten Pazifisten wollen im Namen des Friedens handeln (ohne zu den Waffen zu greifen); und ehrliche Verfechter eines gerechten Krieges haben schließlich ein Ziel vor Augen: Frieden in Gerechtigkeit. Was sie alle eint, ist die Verheißung Jesu in Matthäus 5,9: „Selig sind, die Frieden stiften…“. In der Vulgata, der lateinischen Übersetzung der Bibel, lautet diese Zeile aus der Bergpredigt Jesu: „Beati pacifici, quoniam filii Dei vocabuntur” – selig sind diejenigen, die den Frieden herstellen, die Frieden stiften und sich um den Frieden kümmern. Selig sind die Pazifisten – manche mit und manche ohne Waffen.

Wir sehen, dass die verschiedenen Positionen des gerechten Krieges und des Pazifismus in vielerlei Hinsicht miteinander verwoben sind. Deshalb muss und kann es eine echte Debatte über die Frage geben, welche konkreten Maßnahmen (militärische, politische und zivile) in welcher Situation angemessen und moralisch gerechtfertigt sind. Ein gemäßigter Pazifismus ist mit der militärischen Verteidigung eines Landes durch relativ kleine Armeen mit begrenztem Offensivpotenzial vereinbar. Solche Pazifisten fragen, wie man einen möglichst gerechten Frieden erreichen kann, indem man die zivilen Opfer radikal minimiert und die Zahl der Todesopfer unter den Kämpfern begrenzt. Die Kriegsbegeisterung mit ihrer Missachtung des Lebens von Soldaten und Zivilisten und dem bloßen Ruf „je mehr Waffen, desto besser“ muss Einhalt geboten werden, denn sie stürzt am Ende alle in den Abgrund der Katastrophe.

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine ist der Diskurs leider auf ein einziges Ziel verengt: mit allen militärischen Mitteln bis zum militärischen Sieg! Natürlich streben in Kriegen alle Seiten nach dem Sieg. Aber wie soll dieser Sieg aussehen, wie kann er tatsächlich erreicht werden? Und wie soll der erreichte Frieden danach aussehen?

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Im September letzten Jahres besuchte Oleksij Arestowytsch Litauen, der damals noch für den Präsidenten der Ukraine arbeitete. Auf einer Konferenz im Vilniuser Residenzschloss (s.o. Foto) sprach er vor der militärischen und politischen Elite des Landes. Dem Gast zufolge wird ein Sieg an der ukrainischen Front allein nicht ausreichen, sondern das gesamte Regime Putins muss gestürzt werden. Der Westen werde Russland „nach Putin“ „nur einen einzigen Versuch“ geben, sich freiwillig und grundlegend zu ändern – es müsse aufhören, ein Imperium zu sein. Und wenn die vom Regime befreiten Russen das nicht wollen, dann „müssen wir sie ändern“. „Wenn sie diesen Test nicht bestehen, müssen wir Russland aufteilen“, denn selbst ein „liberales [russisches] Imperium“ sei inakzeptabel. „Die wichtigste Bedingung, nachdem wir den Krieg gewonnen haben“, ist die Entnuklearisierung und Entmilitarisierung Russlands. „Gebt uns einfach Waffen [laut O.A. doppelt so viele wie vorher] und wir werden die Russen besiegen, das ist kein Problem für uns.“

Dies ist die ‘Friedensstrategie’ à la Arestowytsch, der zufolge nur ein schwaches und geteiltes Russland friedlich sein könne. In diesem Jahr wurde Arestowytschs Plan durch einen anderen ‘Strategen’, Jonas Ohman, ergänzt, der noch ehrgeiziger ist. Der seit vielen Jahren in Litauen lebende Schwede und Gründer und Chef der NGO „Blue/Yellow“: Russland sei „so zu zerschlagen, dass es sich sehr lange nicht mehr erholen wird […]. Russland sollte realistischerweise auf die eine oder andere Weise besetzt werden“.

Ralf Fücks vom Zentrum für Liberale Moderne (dessen Buch Freiheit verteidigen kürzlich auch in Litauen erschienen ist) argumentierte Ende Juni, dass es im Westen „kein Tabu“ sein dürfe, das Putin-Regime zu stürzen. Dies ist auch die Logik des Journalisten Vytautas Bruveris: „Wenn du den Banditen nicht angreifst, wird der Bandit dich angreifen.“ Die grundlegende Richtung und das Ziel der gesamten westlichen Politik sollte „der Sturz des Kreml-Regimes […] sein. Dies ist die einzige Bedingung für die Beendigung des Krieges“. Am 4. Juli ergänzte der öffentlich-rechtliche Sender LRT dies durch ein Zitat eines pensionierten litauischen Offiziers: „Es ist unwahrscheinlich, dass die Ukraine diesen Krieg ohne direkte NATO-Intervention gewinnen kann.“

Und immer so weiter. Offensichtlich hat man sich an die Vorstellung gewöhnt, dass das Verteidigungsbündnis, die NATO, Russland eigentlich angreifen und zum Sturz des Regimes beitragen sollte. Das sei der einzige Weg zum Frieden. Deshalb erlauben sich manche sogar zu denken, dass, wenn „Russland weg“ sei, die Welt „dann vielleicht leben kann“. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was für ein schreckliches Schlachthaus die Umsetzung solch einer Absicht schaffen würde. Sind also nur Pazifisten wirklich naiv und gefährlich?

Daher könnte gerade in diesen Zeiten das große Ziel des Pazifismus – ein dauerhafter internationaler Frieden – das stärkste Argument dafür sein, dass keine noch so brutale ‘Umerziehung’ von Nationen durch militärische Gewalt etwas bringt. Es ist nicht möglich, echten Frieden allein mit militärischen Mitteln zu schaffen!

Die Anmaßung von Wissen

AltRadikale Pazifisten sind zu optimistisch. Sie glauben, dass Frieden ganz ohne Waffen erreicht und aufrechterhalten werden kann (man muss nur lange und nett miteinander reden, dann kommt der Frieden schon). Sie ignorieren hartnäckig die Tatsache, dass das menschliche Herz keineswegs rein, vielmehr anfällig für böse Gedanken ist und zu leicht zum Hass neigt. Ein Beispiel für dieses falsche Menschenbild sind die Bücher über die Politik der Bergpredigt des deutschen Journalisten und liberalen Katholiken Franz Alt (Frieden ist möglich, 1983, Liebe ist möglich, 1985). Sie wurden zwar Bestseller, waren inhaltlich aber zu optimistisch, ja utopisch, und zwar deshalb, weil Alt die traditionelle christliche Anthropologie hinter sich gelassen hatte.

Aber hier ist anzumerken, dass auch Kriegs- und Waffennarren an dieser Krankheit leiden. Ihre Überzeugungen sind nach genau demselben Muster geformt: Die Ukraine wird gewiss siegen (Arestowytsch: „Warum werden wir siegen?“, nicht „vielleicht“ oder „ob überhaupt“); Putin blufft nur mit den Atomwaffen; er würde nach einem Sieg in der Ukraine sicher auf Warschau und Berlin marschieren; nur ein Sieg in der Ukraine und die Wiedergewinnung aller eroberten Gebiete wird den Frieden in Europa garantieren; ein Sieg in der Ukraine wird die Werte der Freiheit etablieren usw. usf. Nicht nur Arestowytsch, sondern auch viele andere wissen diese Dinge einfach. Punkt. Wenn sogar der angesehene Historiker Timothy Snyder hinzufügt, dass der Sieg der Ukraine das Ende des Zeitalters der Imperien herbeiführen wird, wird das utopische Denken überdeutlich. Hat es in der Weltgeschichte seit der Zeit der Pharaonen jemals eine Periode ohne Imperien gegeben? Und was würde ein solches Zeitalter zu Ende bringen, wenn nicht ein weiteres Imperium?

Der Wirtschaftswissenschaftler F.A. Hayek (1899–1992) hätte einen solchen übertriebenen Optimismus als „Anmaßung von Wissen“ bezeichnet. So lautete auch der Titel seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften am 11. Dezember 1974 in Stockholm. Darin warnt Hayek davor, auch „in den Sozialwissenschaften die Methoden der exakten Naturwissenschaften, die außerordentlich erfolgreich waren, so weit wie möglich nachzuahmen“. Im Bereich der exakten Naturwissenschaften glaubt man zu Recht, dass „jeder wichtige Faktor, der die beobachteten Ergebnisse beeinflusst, direkt aufgespürt und gemessen werden kann“. Doch „bei der Untersuchung komplexer Phänomene wie dem Markt“, d.h. von Phänomenen in Wirtschaft und Gesellschaft, wo alles von der Interaktion vieler Individuen abhängt, „ist es unwahrscheinlich, dass alle Umstände, die das Ergebnis des Prozesses bestimmen […], jemals vollständig bekannt und messbar sein werden.“

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Friedrich August von Hayek

Der Krieg ist ein noch komplexeres und noch weniger vorhersagbares Phänomen als der Markt. Diese seltsame Gewissheit über die Zukunft eines Krieges kann nur entstehen, wenn wir die Vergangenheit, insbesondere das 20. Jahrhundert, völlig ignorieren. Wenn wir uns militärische Konflikte ansehen, stellen wir fest, dass sie erstaunlich häufig weitaus schlimmer endeten als anfangs erwartet. Diesem Umstand versucht natürlich die von den Staaten betriebene Propaganda entgegenzusteuern – schließlich sind nur Bürger, die an den guten Ausgang eines Krieges glauben, bereit, ihr eigenes Leben oder das ihrer Angehörigen zu opfern.

Gerade in der heutigen Zeit wäre es sehr nützlich, die Geschichte der modernen Kriege zu studieren, um zu sehen, welche Hoffnungen und Pläne zu Beginn der Kriege geschmiedet wurden und wie sie am Ende ausgegangen sind (man denke nur an die Kriege im Irak oder in Afghanistan). Umfassende und möglichst objektive Übersichten dürften sowohl für radikale Pazifisten als auch für alle Kriegsapologeten ein großer Weckruf sein. Es stimmt, dass Kriege manchmal unerwartet Gutes bewirken, wie etwa die Unabhängigkeit der baltischen Staaten als Folge des Zusammenbruchs der Imperien im Ersten Weltkrieg. Aber andere unbeabsichtigte Folgen dieses Krieges, wie Bolschewismus und Faschismus, haben dieses Gute leider verdorben und dauerhaft verdunkelt.

Vorbereitung auf den Frieden oder den Krieg?

Der reformierte Theologe Karl Barth (1886–1968) schrieb in seinem dreizehnbändigen Hauptwerk Kirchliche Dogmatik ein langes Kapitel über Krieg und Frieden („Zum Problem des Krieges“; KD III/4, § 55, 1951). Während des Zweiten Weltkriegs unterstützte Barth die Verteidigung seines Heimatlandes (Schweiz) und meldete sich freiwillig zur Reserve. Obwohl er einen „absoluten Pazifismus“ ablehnte, forderte er von der christlichen Ethik eine „heilsame“ oder „besondere Distanz“ zu militärischen Angelegenheiten, da dies „staatlich organisiertes Massentöten“ seien. Die Kirchen müssten sich von „allgemeiner Aufregung“ und der „Sprache der Propaganda“, von der Aufheizung der Sprache in Kriegszeiten distanzieren. Keinesfalls dürften sie in das Kriegsgeheul einstimmen und die Kriegstreiberei unterstützen.

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Karl Barth

Um Krieg zu vermeiden, müssen wir nach Barths Ansicht rechtzeitig mit der Vorbereitung auf den Frieden beginnen. Dies erfordert ein richtiges Verständnis der Funktion des Staates. Die christliche Ethik sollte jedem „einhämmern“, dass die „normale Aufgabe des Staates […] nicht darin besteht, menschliche Leben zu vernichten, sondern es zu erhalten und zu fördern“. Wo der einzelne Mensch und sein Wohlergehen „nicht Sinn und das Ziel der politischen Ordnung sind, da ist der Automatismus schon im Gang, der eines Tages die Menschen zum Töten und Getötetwerden auf die Jagd schicken wird“. Der Staat, die Bürgerschaft als Ganzes und jeder einzelne Bürger, so der Theologe, muss in erster Linie Frieden stiften, um des Friedens willen in seinem Land handeln. Die christliche Ethik und die christlichen Kirchen sollten alle dazu aufrufen, „alle Zeit, alle Kraft, alles Vermögen dafür einzusetzen sind, dass die Menschen leben, und zwar recht leben können, um dann zur Flucht in den Krieg keinen Anlass zu haben“.

Barth mahnt, dass alle Anstrengungen zuerst für den Frieden im eigenen Land unternommen werden müssen, der die Grundlage für den Frieden zwischen den Staaten ist. Leider ist es nicht ungewöhnlich, dass ganze Gesellschaften kriegerischen Instinkten erliegen und in Zeiten des Friedens plötzlich nach etwas sehr Kriegerischem verlangen. Das haben wir erst kürzlich zu Beginn der Pandemie, im März 2020, gesehen, als plötzlich Kriegsmetaphern ungeheuer beliebt wurden. Der französische Präsident Macron gab ein eindrucksvolles Beispiel: „Wir befinden uns im Krieg. Wir kämpfen nicht gegen Armeen oder eine andere Nation. Aber der Feind ist da – und er ist auf dem Vormarsch.“ Viele Politiker haben eine Art Generalmobilmachung ausgerufen. Ein kämpferisches Vokabular begann sich herauszubilden, das die fragwürdigen Maßnahmen von Anfang an rechtfertigte.

In Litauen gab es im Herbst 2021, nach der Einführung des „Passes der Möglichkeiten“ (kurz „GP“, 3G-Regel in Deutschland) eine offene Verschiebung von einem Krieg gegen das Virus zu einem Krieg gegen einen Teil der Bürger des Landes – schließlich wurde die Peitsche benötigt, um den Druck auf diejenigen zu erhöhen, die sich weigerten, das experimentelle Medikament in ihren Körper injizieren zu lassen. Algimantas Čekuolis, das publizistische Urgestein Litauen, war wie andere besorgt, dass einige Menschen immer noch andere „töten dürfen“, und sprachen sich daher für eine Zwangsimpfung aus („Wenn schon Krieg, dann lasst uns ihn kämpfen“, lrt.lt, 27. November 2021).

Im selben Monat ging der Philosophie- und Poltikprofessor Gintautas Mažeikis noch weiter („Über die Notwendigkeit der Mobilisierung und des Impfzwangs“, lrt.lt, 03. November 2021). „Mit Covid befinden wir uns bereits in einem Zustand der biologischen Kriegsführung“, schrieb er, weshalb es notwendig sei, „Agitationen der Impfgegner, ihre Kampagnen und Falschinformationen einzudämmen“. Der Kampf müsse „nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen die Impfgegner gewonnen werden“, denn sie „bedrohen unsere Väter, Mütter und die Gesellschaft“. Mažeikis vermisste „strenge Mobilisierungs- und Zwangsmaßnahmen“ und sprach sich offen für „restriktive oder gar repressive Maßnahmen gegen die Feinde der Gesellschaft in Zeiten von Pandemien und Krieg“ aus. Trotz seiner kaum mit der Demokratie zu vereinbarenden Äußerungen wird der Professor immer noch als Liberaler eingestuft und darf jährlich eine Rede auf der liberalen „Santara-Šviesa“-Konferenz halten.

Schlachten müssen gewonnen und Feinde vernichtet werden. Wenn diese Rhetorik schon in Friedenszeiten angewandt und der Pazifismus diskreditiert wird, darf man sich nicht wundern, dass die Kriegslust ein so bedrohliches Niveau erreicht hat; dass so gut wie alle drakonischen Maßnahmen der Regierung eines Landes gerechtfertigt, die Einschränkung der Menschenrechte begrüßt, der Rechtsnihilismus verfestigt und die Aggressivität zur Tugend gemacht werden. Der Krieg ist immer die Stunde des Kollektivs – dann gibt es keine Opposition mehr, nur noch loyale Kämpfer oder eben Verräter, und der Einzelne wird von den Rädern eines mächtigen Wagens überrollt. Im Krieg lautet die Regel: „Keine Kompromisse“ – gewinnen oder sterben, Leben oder Tod. Die Versuchung des Kriegsrechts ist auch für Staaten, die nicht im Krieg sind, sehr verlockend, weil man dann mit abweichenden Bürgern keinen Ausgleich suchen muss.

Heute wird mit Stolz verkündet, dass die westliche Zivilisation in der Ukraine verteidigt wird – während gleichzeitig die Zivilgesellschaft im Westen immer weiter ruiniert. Selbst im freien Westen sind politische Inhaftierungen nicht Undenkbares mehr. Wegen freier Meinungsäußerung und zivilgesellschaftlichen Engagements müssen Bürger bereits mit staatlichen Repressionen rechnen. Unliebsame Personen werden mitunter verbal-brutal zum Schweigen gebracht und aus der Gesellschaft ausgegrenzt, Freiheit und Pluralismus sind zunehmend im Niedergang begriffen. Das Lexikon des Krieges hat seine eigene Realität geschaffen.

Gemäßigte Pazifisten und gemäßigte Verfechter des gerechten Krieges sind sich der Grenzen und der Fehlbarkeit ihres Wissens bewusst. Die Vielfalt der Pazifismen macht deutlich, wie schwierig es ist, im Krieg eine sichere moralische Entscheidung zu treffen. Die große Bandbreite der Positionen zeigt, dass es nicht einfach ist, die eine oder die andere zu verwerfen. Was wir jetzt dringend brauchen, ist eine pazifistische Stimme, die den Diskurs entschärft und alle daran erinnert, sich in erster Linie für den Frieden einzusetzen und sich nicht auf den angeblich „unvermeidlichen“ Krieg vorzubereiten – schließlich sind es die Friedensstifter, die gesegnet werden, nicht die Krieger!

(Foto ganz o.: Zerstörter russischer Panzer vor dem Kathedralsplatz in Vilnius Ende Februar diesen Jahres)