Von Krishna zu Christus

Von Krishna zu Christus

Tomas Šernas – der Name sagt in Litauen so gut wie jedem etwas. Zweifellos ist er auch der bekannteste Evangelische im ganzen Land. Der Grund ist dabei weniger das Wirken des Pfarrers der evangelisch-reformierten Kirche in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten. Ein tragisches Ereignis im Sommer vor fünfundzwanzig Jahren ließ den damals 29-Jährigen zu einer Berühmtheit werden.

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Jokūbas Šernas (1888–1926)

Die Familie Šernas stammt aus der reformiert geprägten Gegend im Kr. Biržai, ganz im Norden Litauens an der lettischen Grenze. Hier wurde 1888 Jokūbas Šernas geboren, der zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung vom 16. Februar 1918 gehörte (übrigens der einzige Protestant unter den zwanzig Männern). Dessen Bruder Adomas war reformierter Pfarrer und bis ein halbes Jahr vor seinem Tod 1965 Generalsuperintendent (hier mehr zu seiner Geschichte).

Tomas, Urgroßneffe der beiden Brüder, kam 1962 in Vilnius zur Welt. Die Eltern Tadas und Eglė Šernas waren beide Musiker, der Vater ein bekannter Komponist und Musikpädagoge. Tomas Schwester Erika trat in die Fußstapfen der Eltern, wurde eine professionelle Violinistin (sie verstarb kürzlich im 50. Lebensjahr). Tomas erlernte jedoch kein Instrument und kann bis heute keine Noten. Und trotz strenger Erziehung wurde aus dem Sohn kein ambitionierter Schüler. Šernas Jun. zog es in die Natur und in Richtung Biologie. Nach Abschluss der zehnten Klasse ging er 1979 auf eine Berufsschule bei Vilnius, um Veterinärwesen zu lernen.

Mitte der 80er Jahre diente Šernas anschließend in der Roten Armee. Wie damals üblich wurden die jungen Männer aus dem Baltikum sehr weit von der Heimat stationiert, meist in Sibirien oder Zentralasien. Šernas kam in den Nordkaukasus und nach Aserbaidschan an die Grenze zum Iran. Dem zweijährigen Wehrdienst folgte der Eintritt in die Tierärztliche Hochschule (Veterinarijos akademija) in Kaunas. Nebenbei arbeitete der Student in der Raubtierabteilung des Zoos der Stadt. Šernas sollte dieses Studium nie beenden, denn die politische Entwicklung Litauens kam in die Quere.

Nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 11. März 1990 begann die erste freie Regierung Litauens noch im Frühjahr mit der Aufstellung von Einheiten zur Verteidigung des Landes. Hier ging es anfangs nicht um die Außengrenzen, denn noch war ganz Litauen durch die sowjetischen Truppen besetzt. Freiwillige schützten vor allem die Einrichtungen des jungen demokratischen Staates wie in erster Linie das Gebäude des Parlaments in Vilnius. Im Herbst meldete sich Šernas zu diesem Dienst. Wie wichtig der Schutz dieser Zentren der Freiheit durch Freiwillige und Bürger war, zeigten dann die blutigen Tage Mitte Januar 1991: eine junge Litauerin und dreizehn Litauer kamen ums Leben. Der wohl aus Moskau gesteuerte Umsturz scheiterte.

Im Herbst 1990 gründete die Republik Litauen einen nationalen Zoll zur Grenzkontrolle. Die bisherigen sowjetischen Binnengrenzen, gerade zum heutigen Weißrussland hin, wurden mit Schlagbäumen markiert. In behelfsmäßigen Bauwagen nahmen die ersten Zöllner Litauens ihren Dienst auf – nach ziemlich genau einem halben Jahrhundert Fremdherrschaft. Dies hatte hohe symbolische Bedeutung, zeigte doch die Republik damit, dass man sich nicht als autonomes Land in der Sowjetunion, sondern als freier und souveräner Staat ansah. Den Herrschern im Kreml waren diese primitiven Grenzposten ein Dorn im Auge.

Tomas Šernas meldete sich Anfang 1991 als einer der ersten Freiwilligen zum Zoll, wechselte also von der Verteidigung in die Grenzaufsicht. Die Zöllner kontrollierten den Verkehr, protokollierten alle Bewegungen. Waffen trugen sie nicht. So hatten die OMON („Mobile Einheit mit besonderer Bestimmung“) der moskautreuen Miliz ein leichtes Spiel und schikanierten die Grenzwächter: Von Ende 1990 bis August 1991 wurden mehrere Dutzend Posten beschädigt, in Brand gesetzt oder ganz zerstört und zahlreiche Zöllner verletzt. Im Mai gab es ein erstes Todesopfer: Gintaras Žagunis wurde am Grenzübergang Krakūnai (Kr. Šalčininkai) erschossen. Nach und nach stellte man den Zöllnern wenigstens leicht bewaffnete Polizisten zur Seite.

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Die Symbole des neuen Staates an der Grenze Litauens

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So sahen die Grenzposten 1990/91 aus

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Von OMON-Einheiten zerstörter Grenzposten

Staatsterror

Am 31. Juli 1991, vor fünfundzwanzig Jahren, kam es noch schlimmer. Mit sieben Kollegen tat Tomas Šernas am Grenzposten Medininkai an der Hauptstraße Vilnius-Minsk seinen Dienst. Am folgenden Tag war die standesamtliche Trauung mit seiner Verlobten Rasa Žilytė geplant, doch pflichtbewusst wie immer wollte er sich nicht vertreten lassen. In den frühen Morgenstunden sah Šernas, wie sich ein Uniformierter in Turnschuhen und Kalaschnikow dem Waggon näherte. Er weckte seine Kollegen. Die OMON-Leute aus Riga drangen in den Posten ein und befahlen allen, sich auf den Boden zu legen. Einige wurden mit Gewehrkolben malträtiert. Mit schallgedämpften automatischen Waffen wurden die Litauer durch Kopfschüsse gleichsam hingerichtet. (Šernas berichtet in diesem Video von den Ereignissen; mit englischen Untertiteln.)

Noch eine Weile hielten sich die OMON-Leute am Grenzposten auf. Denn Šernas wurde nur schwerverletzt und kam teilweise wieder zu Bewusstsein. Er erinnert sich auch noch, wie er am Morgen aus dem Waggon herausgetragen wurde. Zur Überraschung vieler hatten zwei Männer überlebt. Ričardas Rabavičius, ein Kollege von Šernas aus den Reihen der Polizei, starb jedoch nach zwei Tagen an seinen Verletzungen.

Tomas Šernas war bald nur noch „der Einzige“ – der einzige Überlebende des Massakers von Medininkai. Über Monaten rangen Ärzte um sein Leben. Aus Deutschland wurde ein bis heute der Öffentlichkeit nicht bekannter Spezialist der US-Armee eingeflogen, ging es doch um einen seltenen Kopfschuss. Bis zum Augustputsch wurde Šernas außerdem recht streng bewacht. Man befürchtete in Vilnius, dass der sowjetische Geheimdienst den einzigen Zeugen des Massakers womöglich beseitigen könnte.

Šernas musste alles wieder neu lernen: sprechen und selbst denken, die Gliedmaßen benutzen. 1992/93 verbrachte er viel Zeit im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz; auch an anderen Orten Deutschland war er zu Rehabilitation. Trotz aller Bemühungen kann Šernas allerdings nicht aus eigener Kraft stehen und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Auch Arme und Hände sind immer noch geschwächt, weshalb der Behinderte auf einen Betreuer angewiesen ist (der bis heute vom Zoll gestellt wird).

Noch im September 1991 wurde Šernas der Orden des Vytis-Kreuzes (Großkreuz) verliehen. Nach dem Orden Vytautas des Großen, der bisher nur Staatsoberhäuptern verliehen wurde, ist dies die zweithöchste Auszeichnung der Republik Litauen. Erst 1993 konnte Präsident Brazauskas dem halbwegs genesenen Šernas den Orden überreichen.

Es dauerte über fünfzehn Jahre, bis wenigstens ein wenig Gerechtigkeit in der Akte Medininkai gesprochen wurde. Die meisten, die unter Verdacht stehen, am Massaker beteiligt gewesen zu sein, sind nun russische Bürger und in Russland. Zwei Mittäter des Massakers wurden schließlich dennoch verhaftet. 2002 ging Igor Gorban den Litauern ins Netz, wurde aber an Lettland ausgeliefert, da er dort wegen anderer Verbrechen gesucht wurde. Trotz Wiedererkennung durch Šernas wurde er für die Ereignisse am 31. Juli nicht belangt. Zur Verurteilung kam es aber im Fall des lettischen Bürgers Konstantin Michailow (früher Nikulin), der 2007 in Haft kam und 2011 in Litauen zu Lebenslang verurteilt wurde. Gegen drei weitere OMON-Männer läuft derzeit ein Verfahren in Abwesenheit. Mit ihrer Auslieferung durch Russland rechnet natürlich niemand.

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Die Erschossenen im Waggon

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Abtransport der Toten vom 31. Juli

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Beisetzung der Toten Anfang August 1991 auf dem Antakalnis-Friedhof in Vilnius

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Gedenkstätte in Medininkai

„Mensch der Toleranz“

Der 31. Juli vereitelte die Hochzeitspläne von Tomas und Rasa. Die Trauung wurde um 699 Tage verschoben. Am 1. Juli 1993 heirateten die beiden endlich standesamtlich. Im September 1998 wurde Tochter Gertrūda geboren, die im kommenden Jahr die Schule beenden wird. Seit vielen Jahren wohnt die Familie in einer behindertengerecht eingerichteten Wohnung im Stadtteil Žvėrynas in Vilnius. Rasa arbeitet als Musiklehrerin.

Die Familie Šernas hat reformierte Wurzeln, doch irgendeine Art von religiöser Erziehung hat in Tomas Kindheit und Jugend nicht stattgefunden. Der junge Mann näherte sich später den östlichen Religionen an, sympathisierte mit dem hinduistischen Krishna-Glauben. In den 80er Jahren wurden privat praktizierter Buddhismus und andere Kulte aus Asien vom Staat weitgehend toleriert, in gewisser Weise als Konkurrenten der Kirchen sogar gutgeheißen. In Medininkai hatte Šernas eine Gebetskette bei sich, wie sie Anhänger von Buddhismus und Hinduismus benutzen.

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Vor einigen Jahren in der lutherischen Kirche von Vilnius, in der sich die reformierte Gemeinde versammeln musste, weil eine abgespaltene Gruppe sie aus der ref. Kirche ausgesperrt hatte

Das Massaker und die folgenden schwierigen Jahre brachten Šernas dem Christentum näher. Noch im Krankenhaus wollte er sich unbedingt taufen lassen. Da dort gerade der bekannte katholische Priester Kazimieras Vasiliauskas zugegen war, spendete dieser das Sakrament. Šernas blieb weiterhin Mitarbeiter des Zolls, suchte aber ein neues Betätigungsfeld. 1997 begann er ein Studium der ev. Theologie an der Universität von Klaipėda. 2001 ordinierte die reformierte Kirche ihm zum Diakon, ein Jahr später zum Pfarrer. Seitdem ist er in der Gemeinde der Hauptstadt tätig.

2010 wählte die Synode der Kirche Tomas Šernas zum Generalsuperintendenten. 2013 und 2016 wurde er im Amt des obersten Geistlichen der reformierten Kirche Litauens und damit von einem Dutzend Gemeinden bestätigt. Mit dem Präsidenten des Konsistoriums (immer ein Laie) bildet der Vilniuser Pfarrer die Doppelspitze der Kirche.

Šernas wurde in seiner Jugend in keiner Weise pietistisch geprägt oder sonst wie auf die Bibel ausgerichtet. Auch am Lehrstuhl in Klaipėda arbeitete man weitgehend historisch-kritisch. Nach und nach hat sich Šernas aber der Hochschätzung der Bibel und evangelikalen Positionen angenähert. Er setzt sich für eine Hinwendung der Kirche zu Bibel und Bekenntnis ein, benennt klar die Schwächen der reformierten Kirche („die Kirche ist krank“) und spricht sich für – wie man in Deutschland sagen würde – missionarischen Gemeindeaufbau aus. Dass die Kirche 2012 Mitträger des Evangelischen Bibelinstituts wurde, geht auch auf seine Initiative zurück. Die engere Zusammenarbeit mit dem Bund der „Wort-des-Glaubens“-Gemeinden liegt ihm ebenfalls am Herzen. Er sieht dort eine Lebendigkeit des Glaubens, von der die eigene Kirche lernen kann.

Tomas Šernas ist im Land bekannt, seine Stimme wird gehört. Im Jahr 2000 machte der rechtspopulistische Politiker Vytautas Šustauskas einmal wieder von sich reden (von April bis Oktober des Jahres war er sogar Bürgermeister in Kaunas!): Wäre Hitler nicht in Litauen gewesen, würde er heute auf der Laisvės alėja (Freiheitsallee) in der Stadt Juden die Schuhe putzen müssen, so der gern polternde und pöbelnde Šustauskas. Šernas reagierte prompt und passend: Er würde Šustauskas und allen Rassisten und Nazis gern die Schuhe putzen, wenn dadurch auch nur ein Jude gerettet werden könnte. 2001 wurde deswegen zum ersten Preisträger des Titels „Mensch der Toleranz“, der seitdem jährlich verliehen wird.

„Gott hat Tomas Šernas gerettet“, so Vytautas Landsbergis bei der diesjährigen Gedächtnisveranstaltung auf dem Antakalnis-Friedhof in Vilnius. Dort liegen an prominenter Stelle die Toten vom 13. Januar und vom 31. Juli 1991. Das damalige Staatsoberhaupt Litauens hat Recht. Gott hatte mit dem jungen Zöllner und Krishna-Anhänger noch etwas vor. Man darf gespannt sein, wie er in Zukunft die demütige, freundliche, humorvolle und offenen Art des Geistlichen in Gemeinde und Kirche nutzen wird.

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Der Pfarrer und Zöllner am 31. Juli 2016

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Vytautas Landsbergis am 31. Juli