Atheist post mortem

Atheist post mortem

Adomas Šernas prägte die reformierte Kirche Litauens im 20. Jahrhundert wie kaum ein anderer Pfarrer. Doch ein umstrittener Entschluss am Ende seines Lebens wirft immer noch einen tiefen Schatten auf seine Biographie.

Šernas wurde 1884 im Kreis Biržai geboren und studierte ab 1905 in Dorpat (das heutige Tartu in Estland) evangelische Theologie. 1913 ordinierte ihn die litauische reformierte Kirche zum Pfarrer. Anfangs betreute er die Gemeinde in Švobiškis, später tat er Dienst in zahlreichen anderen Gemeinden. Sein Bruder Jokūbas gehörte zu den Erstunterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung von 1918, den sog. Signataren. Das litauische Wort für Unabhängigkeit, „nepriklausomybė“, schuf übrigens niemand anderes als Adomas Šernas.

1942, während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, ernannte die Kirche Šernas zum Generalsuperintendenten, also Hauptpfarrer. Der heutige Amtsinhaber gleichen Nachnamens (Tomas Šernas, geb. 1962) ist ein entfernter Verwandter.

A SernasŠernas hinterließ vor allem publizistische Spuren. Die Kirche brachte von ihm zusammengestellte Gesangbücher heraus wie 1938 für Soldaten der Streitkräfte Litauens. 1942 erschien ein gemeinsames Gesangbuch der Lutheraner und Reformierten mit 388 Liedern, das von der reformierten Kirche bis heute benutzt wird und einfach „Šerno giesmynas“ genannt wird. Šernas übersetzte den Heidelberger Katechismus neu; die gekürzte Ausgabe erschien 1936. Außerdem verfasste er weitere kirchengeschichtliche und katechetische Werke.

Ging es der Kirche in der sog. Smetona-Zeit (nach dem 1926–40 autokratisch regierenden Präsidenten Litauens) recht gut, so änderte sich alles in der Sowjetunion nach 1945. Die evangelischen Kirchen erlebten einen großen Aderlass. Viele Kirchenmitglieder, gerade unter den Lutheranern, und auch zahlreiche Geistliche verließen das Land noch in den 40er Jahren gen Westen. Die Lage der evangelischen Kirchen verschlechterte sich dramatisch.

Sowohl die lutherische als auch die reformierte Kirche litten unter großem Pfarrermangel. Alle Geistlichen mussten bis ins hohe Alter weiterarbeiten. Schließlich gab es auch keine großzügigen Alterspensionen wie noch vor dem Krieg. Auch Šernas war noch im Dienst, als er am 1. Juni 1964, fast achtzigjährig, einen Text mit der Überschrift Non credo, quia absurdum est  (ich glaube nicht, weil es es unvernünftig ist) schrieb. Hatte Kirchenvater Tertullian noch formuliert Credo, quia absurdum est – mag der christliche Glaube auch Lehren enthalten, die der menschlichen Vernunft widersprüchlich erscheinen, so glaube ich dennoch daran –, so wandte sich Šernas deswegen vom Christentum ab. Zumindest öffentlich. 

Am 5. Juli reichte der oberste Geistliche beim Konsistorium der reformierten Kirche seinen Rücktritt als Generalsuperintendent ein. Šernas übergab alle Amtsvollmachten und Kirchengüter Povilas Jašinskas, dem Pfarrer von Biržai. Sechs Wochen später, am 16. August, erschien dann in der Zeitung „Tiesa“ (Wahrheit), dem Zentralorgan des ZKs der KP Litauens, der etwas gekürzte Text des Apostaten Adomas Šernas. Die Überschrift: „Warum ich diesen Schritt tat“.

In der redaktionellen Einleitung wird der alte Mann als von „guter Gesundheit“ beschrieben, was offensichtlich nicht den Tatsachen entsprach. „Religiöse Fanatiker“ hätten ihn von diesem Schritt abbringen wollen, was ebenfalls glatt gelogen war. Niemand in der Kirche wusste etwas von dem Ansinnen des Generalsuperintendenten. Eine Bombe war eingeschlagen – die Spitze einer Kirche war auf die andere Seite übergelaufen. Aber war es tatsächlich so? War aus dem Pfarrer ein Atheist geworden?

Šernas hatte schon 1961/62 an die staatlichen Organe erste Signale ausgesandt, dass er den kirchlichen Dienst verlassen wolle. Er selbst suchte die Initiative, war also nicht dazu gezwungen oder irgendwie gedrängt worden. Tatsächlich kümmerte sich der KGB damals nicht allzu viel um die evangelischen Kirchen, da diese nach Aussagen des kommunistischen Religionsbeauftragen schon im Stadium des Siechtums waren. Hauptgegner war in dieser Zeit die viele größere katholische Kirche, die man versuchte aktiv zu unterwandern.

Der greise Pfarrer bezweckte mit seinem Schritt vor allem eines: Er wollte eine staatliche Rente erhalten, und das hauptsächlich für seine Frau und Familie, blickte er doch schon dem Tod entgegen. Tatsächlich starb Šernas schon im Januar des folgenden Jahres.

Dazu muss man wissen, dass sich die materielle und finanzielle Lage der reformierten und katholischen Gemeinde im kommunistischen Litauen deutlich unterschied. Der katholischen Kirche gelang es, auch unter atheistischer Herrschaft hunderte Priester im ganzen Land zu versorgen. Die reformierten Gemeinden waren eh schon meist kleiner als die katholischen, und von 1946 bis 1964 mussten ein deutlicher Rückgang z.B. der Abendmahlsempfänger um 72% verzeichnet werden. Der Staat verlangte hohe Abgaben von den Gemeinden und kümmerte sich natürlich überhaupt nicht mehr um die soziale Absicherung der Pfarrer wie noch vor dem Krieg. Nur noch drei Geistliche waren Anfang der 60er Jahre für die reformierte Kirche tätig (ein Rückgang um 80%), neben Šernas die Pfr. Jašinskas und Frankas.

Die finanzielle Lage der Hirten der Gemeinden war äußerst schlecht. Diese materielle Not gab den Anstoß für die Übereinkunft mit dem Staat. Šernas wollte ursprünglich nur aus dem Stand der Geistlichen ausscheiden; um Glaubensabfall ging es ihm keineswegs. Aber das war den Kommunisten zu wenig. Man einigte sich schließlich auf eine Pensionszahlung, aber die Bedingung war auch, dass er dem christlichen Glauben als solchem öffentlich abschwört. Nur das war für die atheistische Propagandamaschine interessant.

Šernas schrieb seinen Text so, wie es verlangt wurde. Jesus Christus sei „ein Mythos, entstanden aus Legenden über Götter, Erlöser und Wunderheiler und aus jüdischem Messianismus, vermischt mit der Philosophie Platos und Senecas.“ Er wäre „naiven Träumen“ gefolgt und könne nicht weiter Pfarrer sein und dabei „in Lügerei versinken“; viel ehrlicher sei da das Verlassen des geistlichen Dienstes. Sein ganzes Leben hätten ihn Zweifel begleitet, und schon lange habe er den Glauben verloren. Nun endlich sei ihm die drückende Last der Unwahrhaftigkeit genommen. „Der Gedanke, dass es keinen Gott, keinen Himmel mit seinen Freuden und keine Hölle mit ihren Leiden gibt, beunruhigt mich nicht und verdirbt mir nicht die Stimmung“, so Šernas.

Im Text findet sich auch Kritik einzelner theologischer Lehren, von den genannten Punkten abgesehen allerdings kaum ein Hinweis auf ein Verschwinden des persönlichen Glaubens. Ein professioneller Propagandaautor hätte besser und präziser geschrieben, so Nerija Putinaitė, die die Geschichte von Šernas in Nugenėta pušis (2015) in einem Kapitel schildert. Im westlichen Exil nahmen Reformierte an, Šernas selbst hätte den Text nicht verfasst, aber dies hält auch Putinaitė für nicht plausibel.

Für weitere atheistische Propaganda wollte Šernas sich ausdrücklich nicht einspannen lassen. Alle Anfragen wies er ab. Er hatte mit dem einen Text seinen Teil des Deals erfüllt und mehr nicht. Ihm nahestehende Christen bezeugen, dass der Exsuperintendent nicht zum Atheisten geworden war und an religiösen Praktiken festhielt. Auch sein Nachfolger Jašinskas hielt ihn mitnichten für einen Verräter am Glauben.

Šernas starb ‘rechtzeitig’ kein halbes Jahr später, denn ansonsten hätte ihn die Propagandamaschine gewiss in ihren Mühlen zermalmt. Er wurde recht pompös beerdigt als ein der Sowjetunion verdienstvoller Bürger. 1971 wurde seine Abschiedsbrief Non credo als Buch veröffentlicht und weit verbreitet. Im Atheismusmuseum in Vilnius (in der heutigen Kirche des Hl. Kasimir) wurde 1975  auch für Šernas ein Stand eingerichtet unter der Rubrik „ehemalige Geistliche“.

Šernas war sogar der einzige Kirchenführer, der im sowjetischen Litauen (angeblich) vom Glauben abgefallen war, und daher sehr wertvoll für die sowjetische Propaganda. Sein Fall zeigte doch, dass die Kirche keine Zukunft hatte. Šernas hatte sicher unterschätzt, was die Kommunisten mit seinen Aussagen im Rahmen eines eher persönlichen Handels mit der Obrigkeit nach seinem Tod machen werden. Neben dem Exkatholiken Jonas Ragauskas, der viele Jahre aktive Propagandaarbeit leistete, war Šernas der wichtigste Vorzeige-Überläufer zum Atheismus. Dass er zum vorbildlichen Atheisten post mortem gemacht werden musste, kam der Sowjetführung eigentlich nur gelegen. Nach dem Tod machte mit seiner Biographie, was man machen wollte.

Auch wenn Šernas am persönlichen Glauben wahrscheinlich bis zum Lebensende festhielt, war sein Schritt vom Sommer 1964 dennoch ein herber Schlag für die Kirche. Bis heute trübt seine Entscheidung, die man menschlich nur nachvollziehen kann, die jüngere reformierte Kirchengeschichte in Litauen. Die Lutheraner Litauens können hingegen mit gewissem Stolz auf einige Märtyrer blicken. 1951 verstarb Erikas Leijeris in der sibirischen Verbannung. Der Präses der Kirche hatte sich mutig für die Freiheit der Kirche eingesetzt und sogar einen Beschwerdebrief an Stalin persönlich geschrieben. Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten.

In den Westen vor den Bolschewisten fliehen oder bei der Herde bleiben? Kompromisse mit Staat und Partei eingehen, um die Familie zu versorgen, oder aufrecht bleiben und Verbannung in Kauf nehmen? Die kommunistische Herrschaft konfrontierte die Pfarrer mit ungeheuer herausfordernden Entscheidungen. Wie sie abschließend zu beurteilen sind, bleibt zum Glück Gott überlassen.

(Bild o.: Ausschnitt aus dem Original des Briefes vom Juni 1964, in dem Šernas seinen Entschluss mitteilt)