Irgendwo zwischen Rom, Wittenberg und Genf?

Irgendwo zwischen Rom, Wittenberg und Genf?

Viele evangelikale Mitglieder der Landeskirchen leiden an der – aus ihrer Sicht – Profillosigkeit der Kirchenleitungen und der weit verbreiteten Anpassung an den Zeitgeist. Mit einer gewissen Sehnsucht, ja oftmals sogar offener Sympathie blicken manche nach Rom. Im moralischen Durcheinander erscheint die katholische Kirche als einziges letztes Bollwerk. Sie bringt eine lange Geschichte, gewaltige Größe und immer noch recht starken Einfluss mit. Es gibt wohl keinerlei Statistiken über Übertritte von Evangelikalen in katholische Gemeinden, aber die Stimmung der letzten Zeit ist klar: Rom, zumal unter dem ganz anderen neuen Papst, steht Evangelikalen wohl so nah, wie noch nie.

Vor einigen Tagen titelte „idea“: „Evangelikale und Katholiken verbindet mehr als sie trennt“. In Bad Blankenburg hatten sich in der vergangenen Woche Vertreter der katholischen Kirche und der Welt-Allianz (WEA) zu Konsultationen getroffen. Teilnehmer des schon fünften Treffens dieser Art war auch Rolf Hille, Ökumene-Beauftragter in der Theologischen Kommission der WEA. In der Meldung hieß es: „Wie Hille betonte, ist die evangelikale Bewegung der römisch-katholischen Kirche aufgrund ihrer konservativen Haltung sehr viel näher als die liberale evangelische Volkskirche in Deutschland“. Diese Nähe wird vor allem auch durch die Übereinkunft in „zentralen ethischen Fragen“ gesehen.

Ein Artikel im „pro-Medienmagazin“ unter der Überschrift „Evangelikale und Katholiken: Keine Kompromisse“ gibt einen guten Überblick über Hintergründe, Verlauf und Ziel der jüngsten Gespräche in Thüringen. Der evangelikale Brasilianer Claus Schwambach kommt dort zu Wort: „Uns eint viel mehr als uns trennt“. Und ähnlich wie Hille wird auch er wie folgt widergegeben: „Evangelikale hätten als konservativer Flügel der evangelischen Christen mehr mit den Katholiken gemein als liberale Protestanten.“

Verfälschtes Christentum und überhaupt kein Christentum

Es stimmt, dass die liberale Theologie mit ihren diversen Ausläufern bis in die Gegenwart die evangelische Christenheit gespalten hat und so viele Gemeinsamkeiten mit Rom aufgetaucht sind. Wohl am eindeutigsten entlarvte J. Gresham Machen (spr. meitschen) den theologischen Liberalismus. In seinem berühmten Buch Christianity and Liberalism (1923, deutsch im 3L-Verlag, s. hier): „Die große Erlösungsreligion des Christentums kämpft gegen einen ganz andersartigen Typus von religiösem Glauben an“. Dieser theologische Liberalismus ist höchst destruktiv, aber „antichristlich bis zur Wurzel“. Traditionelle christliche Begriffe werden weiter benutzt, doch der Liberalismus oder Naturalismus unterscheidet sich in seinem Wesen vom Christentum, stellt eine andere Religion dar.„Der Glaube an einen real existierenden persönlichen Gott ist die Wurzel des Christentums“; dieser Gott handelt tatsächlich in der Welt und hat zu Menschen geredet. Der Liberalismus leugnet dies, verwirft Wunder, die wahre Göttlichkeit Jesu, seine tatsächliche Auferstehung, die Bibel als echtes Wort Gottes. Er ist letztlich eine Selbsterlösungsreligion: „Der Liberalismus findet Erlösung im Menschen vor, das Christentum findet sie in einem Akt Gottes“.

Obwohl ein konservativer Presbyterianer, Mitgründer der „Orthodox Presbyterian Church“, betonte Machen, „wie groß das gemeinsame Erbe mit der Kirche Roms ist“. Denn diese hat vor allem an der Autorität der Schrift und der altkirchlichen Bekenntnisse festgehalten.  Machen sah natürlich die großen Lehrunterschiede: Zwischen Rom und den konservativen Protestanten erstreckt sich ein tiefer Graben. Aber dieser ist geradezu flach „verglichen mit dem Abgrund, der zwischen uns und den [liberalen] Geistlichen unserer eigenen Kirche liegt“. Die römische Kirche, so Machen, mag aus protestantischer Sicht ein verfremdetes, ja verderbtes Christentum lehren, doch der protestantische Liberalismus „ist überhaupt kein Christentum“, ja er ist (so dann gegen Ende des Buches noch einmal) „im Kern antichristlich“. (Einen guten Überblick zu Machen und seinem Buch liefert Carl Trueman: „Christianity, Liberalism and the New Evangelicalism“.)

Machen, so scheint es, würde also der Intention der oben zitierten Aussagen zustimmen: Ja, Evangelikale, die konservativen Protestanten, stehen Rom näher als dies die liberalen Evangelischen tun. Es ist nur zu beachten, dass Machen die römische Kirche des beginnenden 20. Jahrhunderts im Blick hatte. Was würde er wohl heute sagen? Ich bin mir sicher, dass seine Diagnose eindeutig wäre: Rom ist vom gleichen liberalen Virus infiziert – die Krankheit ist nur noch nicht so weit fortgeschritten.

Machen würdigte, dass die römische Kirche an übernatürlicher Offenbarung, an der vollen Inspiration der Schrift und ihrer uneingeschränkten Göttlichkeit, festgehalten hatte. Papst Leo XIII hatte in der Enzyklika Providentissum Deus (1893) noch einmal die traditionelle Sicht der Hl. Schrift betont. Überhaupt wehte um 1900 durch die Kirche Roms ein sehr konservativer, ja reaktionärer Wind. Pius X ließ im Jahr 1910 den sog. „Antimodernisteneid“ einführen, der alle Geistlichen auf eine in jeder Hinsicht antiliberale und völlig traditionelle Theologie verpflichtete.

Zu Machens Zeiten galt tatsächlich noch ohne Einschränkungen, dass Rom die Autorität der Schrift hochachtete (natürlich vertrat die katholische Kirche auch damals keinerlei protestantisches Offenbarungs- und Schriftverständnis, da man die oberste Autorität der Bibel über Traditionen und ihre Genügsamkeit und Klarheit ablehnte). Doch die Zeiten haben sich – beginnend mit Pius XII Enzyklika Divino Afflante Spiritu aus dem Jahr 1943– wahrlich geändert.

„Tendenz zu geistiger Enge“

Man werfe nur einen Blick in „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ der Päpstlichen Bibelkommission (1993). Dort bekennt man sich eindeutig zur historisch-kritische Methode; sie sei „die unerlässliche Methode für die wissenschaftliche Erforschung des Sinnes alter Texte… Als analytische Methode erforscht sie den biblischen Text auf die gleiche Art und Weise wie sie jeden anderen Text der Antike erforscht.“ Die Hilfe der historisch-kritischen Methode sei „unentbehrlich“. Früher dagegen „war sich die jüdische und christliche Auslegung der Bibel der konkreten historischen Gegebenheiten, in denen das Wort Gottes Wurzeln gefasst hatte, nicht so klar bewusst. Ihre Kenntnis war summarisch und unscharf.“ Es wird eingestanden, dass diese Methode anfangs dem Glauben „manchmal sogar widersprach“, doch nun sei sie „von den ihr anhaftenden Voreingenommenheiten befreit“; die Kirche ist durch einen „schmerzlicher Prozess“ gegangen, der sich „heilsam“ herausgestellt hat.

Diese diplomatisch formulierten Sätze gewinnen an Klarheit durch den Vergleich mit dem „fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift“. Hier wird verbal aus dem Vollen geschöpft, und schärfer könnte die Abgrenzung nicht sein. Und man mache sich nichts vor: Gemeint sind auch alle Evangelikalen, deren Auslegung nämlich gesondert nirgends behandelt wird. Gleich eingangs: „Die fundamentalistische Verwendung der Bibel geht davon aus, dass die Heilige Schrift – das inspirierte Wort Gottes und frei von jeglichem Irrtum – wortwörtlich gilt und bis in alle Einzelheiten wortwörtlich interpretiert werden muss. Mit solcher ‘wortwörtlicher Interpretation’ meint sie eine unmittelbare buchstäbliche Auslegung, d.h. eine Interpretation, die jede Bemühung, die Bibel in ihrem geschichtlichen Wachstum und in ihrer Entwicklung zu verstehen, von vorneherein ausschließt. Eine solche Art, die Bibel zu lesen, steht im Gegensatz zur historisch-kritischen Methode, aber auch zu jeder anderen wissenschaftlichen Interpretationsmethode der Heiligen Schrift. Der fundamentalistische Umgang mit der Heiligen Schrift hat seine Wurzeln in der Zeit der Reformation, wo man dafür kämpfte, dem Literalsinn der Heiligen Schrift treu zu bleiben. Nach der Aufklärung erschien diese Art, die Bibel zu lesen, im Protestantismus als Reaktion auf die liberale Exegese.“

Die fundamentalistische Bibelauslegung bestehen „mit Recht auf der göttlichen Inspiration der Bibel, der Irrtumslosigkeit des Wortes Gottes“. Dennoch sei sie „Ideologie“, lehne sie doch den „geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung“ ab. Der Fundamentalist „weigert sich zuzugeben, dass das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre.“ Außerdem schenke er „den literarischen Gattungen und der menschlichen Denkart, wie sie in den biblischen Texten vorliegen, keinerlei Beachtung“.

Die Autoren des Dokuments verwerfen die Irrtumslosigkeit nicht in Bausch und Bogen, aber ein umfassende Fehlerlosigkeit der Bibel meint man eben nicht. Angeblich betonen die Fundamentalisten „über Gebühr die Irrtumslosigkeit in Einzelheiten der biblischen Texte, besonders was historische Fakten oder sogenannte wissenschaftliche Wahrheiten betrifft“. Das heißt nichts anderes, als dass bei historischen Fakten auch Fehler in der Bibel anzutreffen sind. Außerdem müssen sie sich noch „Tendenz zu geistiger Enge“ vorwerfen lassen; ja der Fundamentalismus lade zur „Selbstaufgabe des Denkens ein“. Und noch eins darauf: „Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich“.

Natürlich gibt es in der breiten evangelikalen und historisch-fundamentalistischen Strömung innerhalb des Protestantismus Erscheinungen, auf die einzelne Punkte dieser Kritik in gewisser Weise zutreffen. Doch als Kennzeichnung der gesamten evangelikalen Bibelauslegung stellen diese Sätze nichts anderes als eine geradezu böswillige Karikatur dar. Thomas Schirrmacher hat das Dokument in „Die Päpstliche Bibelkommission: Bibeltreue ist gefährlich!“ (Bibel und Gemeinde, 2/2004) treffend kommentiert:

„Verurteilt wird dabei wie üblich ein Zerrbild der evangelikalen Theologie. Nichts deutet darauf hin, dass man sie wie im Falle der anderen Richtungen überhaupt gründlicher studiert hat oder sich mit ihren Hermeneutiken, wissenschaftlichen Kommentarreihen oder zahllosen exegetischen Dissertationen vertraut ge macht hätte. Es wird zwar richtig festgestellt, dass die Bibel für Bibeltreue ‘frei von jeglichem Irrtum’ gehalten wird, aber fälschlich wird gesagt, dass die Bibel „bis in alle Einzelheiten wortwörtlich interpretiert werden muss“.

Schirrmacher gibt den Ideologievorwurfe zurück, sieht außerdem darin „eine Abrechnung mit der Konkurrenz, nicht aber ein ernsthafter Versuch, das Anliegen evangelikaler, bibeltreuer Theologen zu verstehen“, denn „die Lobby der historisch-kritischen Theologie [hat] auch in Rom längst das Monopol“.

In Fragen der Bibelinterpretation gibt es daher zwischen Rom und den liberaleren Großkirchen keine grundlegenden Unterschiede mehr. Gegen Ende von „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ eindeutig: „Dank der Annahme gleicher Methoden und analoger hermeneutischer Ziele sind die Exegeten der verschiedenen christlichen Konfessionen zu einer weitgehenden Übereinstimmung in der Interpretation der heiligen Schriften gekommen…“

Diese an sich klaren Aussagen werden teilweise dadurch verdeckt, dass die katholischen Lehrtexte bis heute oftmals konservativer klingen als entsprechende Dokumente der liberalen Protestanten. In der dogmatischen Konstitution Dei verbum, 1965 verabschiedet beim II Vatikanischen Konzil, heißt es von den Hl. Schriften, dass zu bekennen sei, „dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“ (11).

Rahner und Vorgrimler stellen in der Einleitung zu Dei verbum in ihrem Kleines Konzilskompendium dar, wie alles zu verstehen ist: „Kapitel III über die Inspiration und Interpretation der Schrift legt neueren katholischen Versuchen zum Verständnis der Inspiration kein Hindernis in den Weg… Der Schrift wird nicht… ‘Irrtumslosigkeit’ zugeschrieben, sondern es wird gesagt, dass sie die ‘Wahrheit lehre‘.“  Der damalige Papst wollte wohl „Heilswahrheit“, aber die gerade zitierte Schlussfassung „sagt substantiell dasselbe. Sie schließt die Tatsache jedenfalls nicht aus, dass in der Schrift menschliche Fehler, d.h. Sätze, die… mit recht als profane ‘Irrtümer’ zu gelten hätten, enthalten sind“.

„Widersprüche, historische Ungenauigkeiten, unwahrscheinliche Berichte“

Ohne Irrtum, aber nicht in allen Teilen – diese Sicht wird auch von einem neuen Dokument der Päpstlichen Bibelkommission bekräftigt: „The Inspiration and the Truth of Sacred Scripture“. Der Text, der als Buch erst im Herbst erscheinen wird, wurde kürzlich von Leonardo De Chirico auf seinem Blog vaticanfiles.org besprochen („Is Scripture True Only in a “Limited” Way? The Truth of the Bible According to the Pontifical Biblical Commission“). Der italienische Pastor und Theologe stellt dar, dass eine Linie von Divino Afflante Spiritu über Dei Verbum und das Dokument von 1993 bis zum jüngsten Text reicht: „Die Wahrheit der Bibel wird bekräftigt, aber sie wird bezogen auf das ‘Projekt der Erlösung’(3), den ‘Heilsplan’ (4), und ‘unsere Errettung’ (63).“ Es wird eine detaillierte Übersicht über die biblische Wahrheit der Schrift gegeben, doch die Unfehlbarkeit des Textes wird auf die soteriologische Bedeutung begrenzt. Außerhalb des Heilskontextes, so das neue Dokument, „begegnen wir in der Bibel Widersprüchen, historischen Ungenauigkeiten, unwahrscheinlichen Berichten“; im AltenTestament gäbe es Gebote und Befehle, die in Konflikt mit der Lehre Jesu stünden (104).

De Chirico fährt fort und nennt einige kritische Punkte im Dokument: „Die abrahamitischen Erzählungen werden mehr als Interpretationen, denn als historische Tatsachen betrachtet (107); die Durchquerung des Roten Meeres sei mehr an der Aktualisierung des Exodus interessiert, als an Berichterstattung des tatsächliche Geschehenen (108); die meisten Berichte im Buch Josua sind von wenig historischem Wert (127); Jonas Geschichte ist eine imaginäre Erzählung (110). Im Neuen Testament sei der Verweis auf das Erdbeben in der Passionserzählung eher ein ‘literarisches Motiv’, denn ein historischer Bericht (120). Ganz allgemein haben die Evangelien einen normativen Wert in der Bestätigung der Identität Jesu, aber ihre historischen Bezüge haben nur eine ‘untergeordnete Funktion’ (123). Oder mit anderen Worten: die Theologie der Evangelien sei gültig, aber ihre historische Zuverlässigkeit ist weniger wichtig… Am Ende wird die Wahrheit der Bibel auf das ‘eingeschränkt’, was sie über die Erlösung sagt (105).“

Gegen diese Beschränkung der vollen Wahrheit der Bibel auf die Heilsaussagen hatte schon Machen-Schüler Francis Schaeffer (1912–1984) massiv angekämpft. Der L’Abri-Gründer hatte erkannt, dass die Bibelkritik, einmal hineingelassen, nicht bei der Historie Halt macht, sondern auch auf Soteriologie und Ethik übergreift. Die saubere Abtrennung der Heilswahrheiten ist eine Illusion. Die aufgeweichte Irrtumslosigkeit wird auch die Erlösungslehre beeinträchtigen.

Niemand anders als Robert Zollitsch offenbarte dies vor einigen Jahren. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, also der oberste Repräsentant des Katholizismus im Land, gab am Karsamstag 2009 dem HR-Fernsehen ein längeres Interview (s. hier der wichtige Ausschnitt). Der Erzbischof wurde gefragt, ob Jesus Christus tatsächlich stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben sei, wie das noch immer von Kanzeln verkündigt wird; ob Gott ein Opfer für Sünden gebraucht hätte. Der Hierarch aus Freiburg: „Er hat sich mit uns Menschen… bis zum Letzten solidarisiert“. Er habe gezeigt, dass Leiden, Schmerz und Tod von Gott angenommen sind „und von Gott verwandelt werden in seinem Sohn Jesus Christus“; „gewaltige Solidarität“ – „das ist diese großartige Botschaft von Karfreitag“. Der Journalist hakte noch einmal nach: Hat Gott seinen Sohn um unserer Sünde willen hingegeben? „Nein“, so Zollitsch unmissverständlich. Und wieder: Gott wollte Solidarität zeigen: „So viel seid ihr mir wert. Ich gehe mit euch, ich bin ganz bei euch in jeder Situation“. Nun hat Gott sicher im Kreuzestod Solidarität gezeigt, doch dies bleibt hinter dem biblischen Aussagen weit zurück.

Machen betonte im letzten Kapitel seines Buches die Wichtigkeit des Kreuzes Christi als wirkliches, stellvertretendes Sühneopfer („really vicarious atonement for sin“). Die Leugnung dessen – wie sie bei Zollitsch exemplarisch zu sehen ist – ist weder evangelikal noch konservativ, so Machen. Nikolaus Schneider, im Herbst scheidender EKD-Ratsvorsitzender, könnte sich genauso ausdrücken. Sicher, Zollitsch musste herbe Kritik für diese Sätze einstecken, und nicht alle Bischöfe Roms würden solche Worte wählen. Doch wenn sich der Chef-Katholik in Deutschland bewusst und eindeutig so prägnant äußert – wo soll die große Konservativität dieser Kirche sein?

Natürlich findet man als Evangelikaler in gewissen Fragen, den ethischen im Besonderen, in der katholischen Kirche mitunter mehr Bundesgenossen als anderswo. Und dort gibt es nicht wenige Persönlichkeiten, die einem tatsächlich lehrmäßig recht nahe stehen. Hier ist natürlich an die „evangelikalen Katholiken“ wie Francis Beckwith, George Weigel, Peter Kreeft, Michael Novak, Richard John Neuhaus und wie sie alle heißen zu denken. Doch ich kann nicht erkennen, dass die Kirche Roms in ihrer Gesamtheit den Evangelikalen besonders nahe wäre – in Deutschland ganz gewiss nicht. Machen würde heute über Rom sicher anders urteilen und inzwischen auch dort eine vom Wesen her andere Religion erkennen.

Zwischen Rom, Wittenberg und Genf

Die eingangs widergegebenen Aussagen von Hille und Schwambach sind, wie schon gesagt, natürlich richtig. Und um nicht missverstanden zu werden: Gespräche zwischen WEA und der römischen Kirche sind wichtig und nützlich, schließlich sind beide Organisationen religiöse „global player“. Gemeinsame Handlungsfelder und Übereinkünfte wie der Ethikkodex für Mission sind keinerlei grundsätzliches Problem. Doch man sollte nicht zu stark suggerieren, dass zwischen Rom und den Evangelikalen an sich eine große Nähe bestünde. Die Konservativität Roms ist eine sehr, sehr relative, und in weiten Teilen durch die eigene Struktur und Geschichte bedingt. Sie sollte daher nicht überschätzt werden. In Einzelfragen wie der Abtreibung gibt es durchaus große Überlappungen; dies verschafft uns zeitweilige Kampfgenossen (Francis Schaeffer: „co-belligerents“), doch damit wird Rom nicht gleich zum Bundesgenossen, der wirklich immer nahe steht.

Rom wird auch in Zukunft für Evangelikale attraktiv sein, ja mitunter Sogwirkung haben, solange viele irgendwo im Niemandsland zwischen Rom, Wittenberg und Genf gleichsam umherirren. Machen rang schon vor einhundert Jahren mit dem Problem an der Wurzel: die Liberalen haben die protestantische Bekenntnistradition gleichsam besetzt; der Wortlaut der Bekenntnisse wird von ihnen beibehalten, aber völlig um- bzw. weginterpretiert, so dass am Ende kaum einer mehr so recht an die Worte, so wie sie dastehen,  glaubt. Es wäre das Beste gewesen, so Machen, die liberalen Theologen und Geistlichen hätten ihre Kirchen verlassen und neue Denominationen mit neuen Bekenntnissen gegründet. Das wäre wenigstens ehrlich und aufrichtig, und diesen Weg beschritten die Unitarier, die Machen in dieser Hinsicht positiv heraushebt.

Die Liberalen sitzen gleichsam auf Wittenberg und Genf (symbolisch für die lutherische und reformierte Tradition), und die Evangelikalen sahen sich ins konfessionelle Abseits gedrängt. Die eh schon starken Tendenzen zu einem informellen Glauben jenseits der Kirchengrenzen und aller Bekenntnisse wurden noch verstärkt. Was Evangelikale vereint, lässt sich meist nur am Rande mit klaren Doktrinen umschreiben. So können heute die wenigsten von ihnen etwas mit „Augsburg“, „Westminster“ oder gar „Dordrecht“ anfangen. Selbst das weitverbreitetste protestantische Bekenntnis, der Heidelberger Katechismus, ist in der evangelikalen Bewegung erschreckend unbekannt. Und das trotz seinem ‘Allianz-Charakter’. Selbst im Jubiläumsjahr 2013 wurde der Heidelberger von den evangelikalen Verbänden und ihrer Presse praktisch ignoriert. Feiern ließ man die Großkirchen, die an seinen Inhalt nicht mehr wirklich glauben.

Ohne konfessionelles Rückgrat bleibt den Evangelikalen jedoch kaum ein Anker, der sie vor dem Sog Roms bewahrt. Denn Bibel, Mission, Evangelisation, Lobpreis, Bekehrung usw. hat die katholische Kirche inzwischen auch zu bieten. Und vieles mehr. Daher gilt es, „Wittenberg“ und „Genf“ als unser Erbe zurückzugewinnen. James I. Packer bezeichnete den evangelikalen Glauben als „pure Christianity“, er ist reiner Protestantismus. Und vieles, was sich noch mit Etikett „evangelisch“ schmückt, ist alles andere als dem Evangelium gemäß, ja stellt in Wahrheit – mit Machen gesprochen – eine neue Religion dar. Die Evangelikalen sind der „konservative Flügel der evangelischen Christen“? So erscheint es zumindest, und mitunter kann man das vielleicht auch so sgen. Ich würde jedoch eher so formulieren: sie sind die wahrhaft Evangelischen oder sollten sich als solche verstehen: einfach evangelisch, rein evangelisch, wirklich evangelisch (natürlich verurteilen die Großkirchen vehement jeden Ansatz solch eines Denkens). Dann verliert auch das Etikett „konservativ“ seinen Reiz und Sinn. Rom wird immer irgendwie konservativer erscheinen, da diese Kirche dank ihres integrativen Systems eben auch konservative Elemente wunderbar miteinschließen kann.

Es geht also nicht einfach um Konservativität. Es geht um Bibel- und Bekenntnistreue, die aber durchaus neuartige und zeitgemäß sein kann. Dies zeigt beispielhaft der „New City Catechism“ der Gospel Coalition in den USA, der alte Lehrinhalte neu formuliert, neu deutet und dabei alle modernen technischen Möglichkeiten nutzt und sich nicht nur an Christen einer Kirche richtet. Dieser neue Katechismus ist ein hervorragendes Hilfsmittel, um die Evangelikalen dem näher zu bringen, was wirklich wichtig ist: ein tieferes Verständnis der eigenen Grundüberzeugungen. Ist dies zurückgewonnen, ist man aus dem Niemandsland zwischen Rom, Wittenberg und Genf herausgetreten.

(Bild o.: Oswald Achenbach, Via Cassia in Rom mit Blick auf den Vatikan, 1874)