Vom Nutzen der Zwei-Reiche-Lehre für die Gemeinde

Vom Nutzen der Zwei-Reiche-Lehre für die Gemeinde

Die Päpste des hohen Mittealters sahen sich in einer Herrschaftsstellung zwischen der Menschheit und Gott. Innozenz III (1198–1216) behauptete: „Ich bin über das Haus Gottes gesetzt, damit ich… über allen stehe,… der Stellvertreter Christi sei… – in der Mitte zwischen Gott und den Menschen, niedriger als Gott, aber höher als der Mensch.“ Es kam die These auf, der Papst sei der wahre Kaiser (lat. Ipse [d.h. der Papst] est verus imperator). Höhepunkt dieses theologisch begründeten Größenwahns war dann die berühmte Bulle „Unam sanctam“ (1302) von Bonifatius VIII (1294–1303). Darin beanspruchte der Papst für sich die oberste Macht auf Erden. Er verschärfte darin die mittelalterliche Zwei-Schwerter-Lehre. Hieß es bisher, dass Gott direkt den Fürsten das weltliche Schwert (als Symbol der Macht) und den Päpsten bzw. der Kirche das geistliche Schwert übergeben hat, so lehrte Bonifatius nun, dass die Kirche über beide Schwerter verfügt: eines, das kirchliche eben, führt sie direkt aus, das andere delegiert sie an die weltliche Macht. Die kirchliche Macht steht damit eindeutig über der irdischen.

Gegen diese grobe Fehlentwicklung reagierte Martin Luther mit seiner Lehre von den zwei Regimentern und Herrschaftsweisen. Erst viel später wurde dafür der Begriff der Zwei-Reiche-Lehre geprägt. In seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei aus dem Jahr 1523 führt der Reformator aus:

„Gott hat zweierlei Regiment unter den Menschen aufgerichtet, eins geistlich, durchs Wort und ohne Schwert, dadurch die Menschen sollen fromm und gerecht werden, also dass sie mit derselbigen Gerechtigkeit das ewige Leben erlangen, und solche Gerechtigkeit handhabt er durchs Wort, welches er den Predigern befohlen hat. Das andere ist ein weltlich Regiment durchs Schwert, auf dass diejenigen, so durchs Wort nicht wollen fromm und gerecht werden zum ewigen Leben, dennoch durch solch weltlich Regiment gedrungen werden, fromm und gerecht zu sein vor der Welt und solche Gerechtigkeit handhabt er durchs Schwert […]. Also ist Gott selber aller beider Gerechtigkeiten, beider, geistlicher und leiblicher, Stifter, Herr, Meister, Förderer und Belohner, und ist keine menschliche Ordnung oder Gewalt drinnen, sondern eitel göttlich Ding“ (Weimarer Ausgabe 11,252).

Luther betont die tiefe Einheit der beiden Herrschaftsweisen, da sie beide von dem einen Gott gewollt und eingesetzt sind. Das weltliche Regiment darf keinesfalls mit dem „Satansreich“ verwechselt werden. Auch wenn das weltliche Regiment um der Sünde willen da ist, ist es trotzdem göttliche Ordnung.

Die Zwei-Reiche-Lehre wird häufig als typisch lutherisch bezeichnet, doch auch Calvin und die Reformierten bekräftigen sie und folgten dem deutschen Reformator in den Grundzügen. Calvin betont, „dass es unter den Menschen zweierlei Regiment gibt. Das eine ist geistlich: es unterweist das Gewissen zur Frömmigkeit und zur Verehrung Gottes. Das andere ist bürgerlich: es erzieht uns zu den Pflichten der Menschlichkeit und des bürgerlichen Lebens, die unter den Menschen zu wahren sind… Das Regiment von der ersten Art betrifft das Leben der Seele; das von der zweiten Art dagegen hat es mit dem zu tun, was zu dem gegenwärtigen Leben gehört… Jenes Regiment hat seinen Sitz tief im Herzen, dieses dagegen regelt allein die äußeren Sitten. Das eine können wir das ‘geistliche Reich’, das andere das ‘bürgerliche’ Reich nennen.“ (Inst. III,19,15)

Zwischen beiden, so auch Calvin, muss unterschieden werden; sie müssen gesondert betrachtet werden. Im Buch IV der Institutio führt Calvin im Zusammenhang der Lehre von der Kirche aus, dass es einen „großen Unterschied“ und „erhebliche Ungleichheit zwischen der kirchlichen und bürgerlichen Gewalt“ gibt. „Die Kirche besitzt nicht das Schwertrecht, um damit zu strafen und zu züchtigen, sie hat keine Befehlsgewalt, um einen Zwang auszuüben, sie hat keinen Kerker und auch keine anderen Strafen, wie sie gewöhnlich von der Obrigkeit verhängt werden“. Im Staat, so Calvin, werden Verbrecher allermeist gegen ihren Willen gestraft; in der Kirche geht es bei der Züchtigung von Sündern aber darum, dass sie diese freiwillig hinnehmen, um so ihre „Bußfertigkeit zu erzeigen“. (Inst. IV,11,3)

Und natürlich wendet er sich dem Thema im abschließenden Kapitel „Vom bürgerlichen Regiment“ (IV,20) zu. Wieder betont Calvin, „dass Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind“, man darf sie daher nicht „unbesonnen miteinander vermengen“. Sie stehen aber auch „in keinerlei Hinsicht zueinander im Widerspruch“; es geht der bürgerlichen Ordnung eben um die „bürgerliche Ruhe“, den „gemeinen Friede“, die „bürgerliche Gerechtigkeit“, es geht darum, dass „den Menschen die Menschlichkeit bestehen bleibt“ (1–4). Wie alle Reformatoren macht Calvin deutlich, dass weltliche Herrschaft auf „Gottes Vorsehung und heiliger Anordnung“ beruht; dass Dienst in ihr ein „Auftrag von Gott“ ist und in gewisser Weise „göttliche Autorität“ verleiht.

Die Zwei-Reiche-Lehre musste sich im 20. Jahrhundert harsche Kritik gefallen lassen. Anlass dafür gaben Missbrauch und Fehlinterpretationen, die aber wohl kaum Luther selbst anzulasten sind. Karl Barth verwarf die Lehre in Bausch und Bogen. Ausgewogener drückte sich Dietrich Bonhoeffer aus. Auch er warnte in seiner Ethik vor einer Aufteilung der Wirklichkeit in einen profanen und einen sakralen Bereich oder in „getrennte Räume“ – eines der Missverständnisse. Er betonte: es gibt nur eine Wirklichkeit, „nur einen Raum der Christuswirklichkeit“, und: „Die Welt ist nicht zwischen Christus und dem Teufel aufgeteilt“. Bonhoeffer unterstrich, dass auch das weltliche Schwert Christus dient. Und hier seine Formulierung der Zwei-Reiche-Lehre:

„Es gibt Zwei Reiche, die solange die Erde steht, niemals miteinander vermischt, aber auch niemals auseinandergerissen werden dürfen, das Reich des gepredigten Wortes Gottes und das Reich des Schwertes, das Reich der Kirche und der Welt, das Reich des geistlichen Amtes und das Reich der weltlichen Obrigkeit. Niemals kann das Schwert die Einheit der Kirche und des Glaubens schaffen, niemals kann die Predigt die Völker regieren. Aber der Herr beider Reiche ist der in Jesus Christus offenbare Gott. Er regiert die Welt durch das Amt des Wortes und das Amt des Schwertes, ihm sind die Träger dieser Ämter Rechenschaft schuldig.“

Wird die Zwei-Reiche-Lehre ausgewogen formuliert, ist sie von großem Nutzen. An erster Stelle ist hier natürlich die Unterscheidung von Kirche und Staat sowie die religiöse Toleranz (kein Zwang in Glaubensfragen) zu nennen. Ich möchte hier nur auf vier weitere wichtige Aspekte im kirchlichen Leben verweisen.

Die Kirche und die christliche Freiheit

Ohne die Zwei-Reiche-Lehre ist die christliche Freiheit nur schwer zu verstehen. Es ist bezeichnend, dass Calvin die zwei Reiche im Kapitel über die christliche Freiheit diskutiert (Inst. III,19). Der gerechtfertigte Christ ist frei, frei von der Herrschaft des Gesetzes durch Zwang, frei vom der Notwendigkeit, durch Werke Gerechtigkeit zu erlangen, frei in seinem Gewissen und von der Knechtschaft des Teufels – aber heißt das auch, dass „nun zugleich aller Gehorsam unter den Menschen aufgehoben“ ist? (III,19,14) Dass der Christ im gesellschaftlichen Leben machen kann, was er will?

Calvin wie Luther wehren dem libertinistischen Missverständnis und betonen: geistlich ist der Christ ganz frei, aber er bleibt trotzdem unter dem Zwang der staatlichen Gebote (besonders Calvin betonte, dass auch in den Kirche die Gebote weiter gelten; nun wird ihnen aber frei und vor allem aus Dankbarkeit gehorsam geleistet). Denn was das Evangelium von der geistlichen Freiheit lehrt, darf nicht einfach auf die bürgerliche Ordnung übertragen werden. Der Christ ist im Gewissen vor Gott frei, bleibt aber dem bürgerlichen Regiment „im Fleisch“ unterworfen.

Daher ist den staatlichen Gesetzen im Grundsatz immer zu gehorchen – es sei denn, der Staat fordert Dinge, die den Geboten und Pflichten, im Wort Gottes dargelegt, widersprechen. In der Kirche untersteht der Christ dagegen einzig dem Wort Gottes und seinen Geboten. Die Diener der Kirche können einzig das als göttliches Gebot verkündigen, was in der Bibel zu finden und aus ihr klar abzuleiten ist. Er ist deshalb frei von aller bloß menschlichen Herrschaft und rein menschlichen, d.h. von Menschen ausgedachten Geboten. Der Christ darf nur durch Gottes Wort in seinem Gewissen gebunden, nur durch Gottes Wort ‘beherrscht’ werden. Im Westminster-Bekenntnis (das ganze Kap. XX ist der christlichen Freiheit gewidmet):

„Gott allein ist Herr des Gewissens und hat es von menschlichen Lehren und Geboten freigestellt, wenn sie bezüglich Glaube und Gottesverehrung irgendwie seinem Wort widersprechen oder es umgehen. Unter Berufung auf das Gewissen, solchen Lehren zu glauben und ihren Geboten zu gehorchen, bedeutet daher, die wahre Freiheit des Gewissens zu verraten. So führt die Forderung nach einem blinden Glauben und einem absoluten und bedingungslosen Gehorsam dazu, dass die Freiheit des Gewissens und der Vernunft zerstört wird.“ (XX,2)

Die Kirche ist also der eigentliche Raum der Freiheit, doch diese christliche Freiheit wird in den Gemeinden viel zu oft eingeschränkt. In der Welt dagegen, der äußeren Welt des Zwangs, nehmen sich Christen viel zu gerne Freiheiten heraus, die sie nicht haben. Ein Pastor darf z.B. nicht den privaten Alkoholkonsum der Christen in seiner Kirche komplett verbieten, denn die Bibel tut dies nicht. Ungehorsam der Mitglieder ist gerechtfertigt, wenn ein von der Kirche aufgestelltes Gebot (dessen Missachtung Sünde ist) biblisch unbegründet ist.

In der bürgerlichen Welt muss dagegen nicht jedes Gesetz mit der Bibel begründet werden. Hier hat der Staat die Freiheit, z.B. auf Benzin Steuern zu erheben (egal, wie politisch und wirtschaftlich klug das im Einzelfall sein mag). Dem Christen ist nicht erlaubt, geschmuggelten Triebstoff in seinen Tank zu füllen. Ungehorsam ist dort, wie gesagt, nur dann erlaubt, wenn der Christ zur Sünde (oder zur Missachtung eines klaren biblischen Auftrags) gezwungen wird.

Die Kirche und die Gewalt

Die Zwei-Reiche-Lehre gibt außerdem – so glaube ich – die einzige Möglichkeit, Jesu Aussagen in der Bergpredigt richtig zu verstehen. In Mt 5,38–42:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2.Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. (Luther 84)

Oft wird behauptet, Jesus hätte das Prinzip der Vergeltung (lex talionis) in der Bergpredigt ganz abgeschafft. Schon Luther geht in seiner Schrift bald auf diese Frage ein. Der baptistische Theologe Thomas R. Schreiner: „Jesus zweifelte nicht den Grundsatz an, dass es vergeltende und ausgleichende Strafen für kriminelle Handlungen geben soll. Wogegen er sich wandte war die Übertragung dieses Prinzips auf den privaten oder persönlichen Bereich…. Er war gegen persönliche Rache und Vergeltung im Leben der Gläubigen“. (40 Questions About Christians and Biblical Law) Lex talionis ist und bleibt ein staatlicher Gerichtsgrundsatz, und er war dies auch schon im AT, wo ja auch kein Recht auf Privatrache bestand (s. z.B. 1 Sam 24,4–8). John Stott in seinem Bergpredigtkommentar:

„Offenbar hatten die Schriftgelehrten und Pharisäer dieses Prinzip der gerechten Vergeltung aus dem Bereich des Gerichtswesens (wo es hingehört) in den Bereich der persönlichen Beziehungen (wo es nicht hingehört) übertragen. Sie versuchten damit private Rache zu rechtfertigen, obwohl das Gesetz dies ausdrücklich untersagte: ‘Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks.’ [Lev 19,18] Auf diese Weise  wurde ‘dies gute, wenn auch strenge gesetzliche Vergeltungsprinzip als Entschuldigung für das verwendet, wogegen es ursprünglich gerichtet war – nämlich die persönlich Rache’[John Wenham, Christ and the Bible]… Es ist unsere Pflicht, Menschen, die uns Unrecht tun, dies Übel nicht heimzuzahlen und Vergeltung zu üben; vielmehr sollen wir das Unrecht hinnehmen.“ (The Message of the Sermon on the Mount)

Dies bewegt sich ganz auf der Linie Luthers. Ich würde noch ergänzen, dass die Kirche als Ganze oder als Gemeinschaft von Gewaltlosigkeit und Nicht-Vergeltung gekennzeichnet sein soll. Die Bergpredigt ist die Ethik des geistlichen Reiches Christi, des Reiches Gottes, und dies verwirklicht sich vor allem in der Gemeinschaft der Jünger. Die Kirche hat nach innen wie nach außen kein Schwert der Gewalt und des Zwangs, sondern ‘nur’ das Schwert des Geistes.

Die Kirche und Gemeindezucht

Im bürgerlichen wie im christlichen Reich gibt es Autorität wie auch konkrete Strafe und Disziplin, aber die Gemeindezucht in der Kirche gestaltet sich deutlich anders als im staatlichen Strafrecht (Oliver O’Donovan in The Desire of Nations oder David VanDrunen weisen gut darauf hin). Schon Calvin hielt fest, dass „geistliche Gewalt“ von dem „Schwertrecht [der Obrigkeit] voll und ganz geschieden werden“ muss. Die Kirche verfügt über keine physische Gewalt, nur die „Gewalt des Wortes“ (Inst. IV,11,5). Luther schreibt in den Schmalkaldischen Artikeln, dass man „halsstarrige Sünder“ nicht „zum Sakrament oder anderer Gemeinschaft der Kirche kommen lässt“ – mehr Strafen gibt es nicht; er warnt davor, geistliche und weltliche Strafe zu vermengen (III,9).

Im staatlichen Bereich gilt voll und ganz der Grundsatz der Vergeltung (lex talionis – „Auge um Auge“…). Barmherzigkeit und Liebe im engeren Sinn sind hier nicht die dominierenden Faktoren. Gerechtigkeit ist hier eine ganz juridische. Ein Verbrechen muss schließlich geahndet werden.

Gerichtsbarkeit hat in der Gemeinde, dem Hort der Gnade, einen anderen Charakter. Der Christ ist schon gerichtet; ihm droht keine Verurteilung mehr. Bei Sünde und der Beurteilung von Fehlverhalten unter Christen in der Gemeinde geht es daher nicht um ausgleichende Vergeltung (die Strafe hat Christus ja auf sich genommen), sondern meist um Versöhnung untereinander. Christen sollen daher Streit nicht vor Gericht austragen (1 Kor 6).

Die Gemeinde hat kein Strafrecht im eigentlichen Sinn zur Verfügung. Das bedeutet z.B., dass ein von Herzen reuiger Ehebrecher gleich wieder zum Abendmahl zuzulassen und in die christliche Gemeinschaft wieder voll aufzunehmen ist – er muss nicht seine ‘verdiente’ Strafe absitzen (dass er nicht alle Dienste übernehmen kann oder soll, steht auf einem anderen Blatt). Ein Mörder sitzt zu Recht im staatlichen Gefängnis, aber die christliche Gemeinschaft unter dem Wort und am Tisch des Herrn ist bei herzlicher Buße sofort wieder herzustellen.

Der eigentliche Richter für den Gläubigen ist Gott selbst. Wie die Fürsten und Staatsoberhäupter im bürgerlichen Regiment keine Entsprechung in der Kirche haben (Christus ist ihr König), so auch die weltlichen Richter nicht. Das einzige Strafmittel der Kirche ist das „Amt der Schlüssel“ (Mt 16,18–19; 18,15–18): Hirten der Gemeinde sprechen damit aber ‘nur’ Gottes Urteil zu, und die einzige Sanktion ist das Aufheben der Gemeinschaft (1 Kor 5,11; 2 Thes 3,6), d.h. der Ausschluss vom Abendmahl oder dann der Ausschluss aus der Gemeinde. Das evangelische Verständnis ist eben, dass die Kirche sich nicht nach ihrem Gutdünken kirchliche Bußstrafen (wie in der katholischen Kirche) ausdenken kann. Sie hat nur die Freiheit, die moralischen Anweisungen der Bibel zu lehren. (s. Heidelberger Katechismus, 83–85)

Natürlich gibt es zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und Kirchenzucht auch  Ähnlichkeiten, bis hin zu den Prozeduren (s. z.B. 1 Tim 5,19–21). Aber es gibt auch wichtige Unterschiede: Strafrecht ist immer gleich öffentliches Recht. Doch Fälle von Sünde in der Kirche sollen ja nicht sofort vor die Gemeindeversammlungen getragen werden, sondern in ersten Schritten ‘privat’ oder genauer: seelsorgerlich unter Brüdern geklärt werden. Und gilt im Staat der unbedingte Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ (Schuld muss unbedingt bewiesen werden), so ist eine Gemeinde natürlich nicht gezwungen, einen Privatdetektiv anzuheuern, um einem Pastor seinen Ehebruch auch nachweisen zu können. Hier genügen ernste, begründete Verdachtsmomente, um den Mechanismus der Gemeindezucht in Gang zu setzen; ein perfekter Schuldnachweis ist nicht nötig.

Grundsätzlich gilt, dass in der Kirche Kooperation und Freiwilligkeit dominieren sollen, weshalb es einen Raum für Langmut (1 Thes 5,14) gibt. Hier ist der Bereich der Schulung der Selbstdisziplin und Selbstzucht, nicht des meist blinden Zwangs von Außen wie im Staat. Z. Ursinus, Autor des Heidelberger Katechismus, hat wie folgt unterschieden:

„1. Die staatliche Gewalt bestraft vi corporali [mit körperlicher Gewalt], die Kirche ermahnt nur durch das Wort und schließt aus der Gemeinschaft aus. 2. Der Staat beschränkt sich auf die Ausübung der Gerechtigkeit in der Strafe, die Kirche aber sucht die Besserung und das Heil der Menschen. 3. Der Staat geht zu Strafe über, wo die Gemeinde brüderlich ermahnt, ‘um durch eine baldige Besserung die Strafen der staatlichen Gewalt zu vermeiden’. 4. Der Staat bestraft viele Laster nicht, die der Kirche schaden und von ihr getadelt werden müssen.“ (zit. in T. Schirrmacher, Führen in ethischer Verantwortung)

Die Kirche und ihre Aufgaben  

„Nicht durch menschliche Gewalt, sondern durch das Wort“ (lat. sine vi sed verbo, Augsburger Bekenntnis, XXVIII) – das ist der Grundsatz für den kirchlichen Dienst nach Innen und Außen. Daher muss natürlich auch Evangelisation gewaltlos erfolgen. Schon Luther hatte ja erkannt, dass es in Glaubensdingen keinen Zwang geben darf.

In einem neueren Dokument, „Das christliche Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ (dazu auch hier) heißt es in diesem Geist unter „Grundlagen“: „Wenn Christen/innen bei der Ausübung ihrer Mission zu unangemessenen Methoden wie Täuschung und Zwangsmitteln greifen, verraten sie das Evangelium…“ (6) Und dann unter „Prinzipien“ „Ablehnung von Gewalt. Christen/innen sind aufgerufen, in ihrem Zeugnis alle Formen von Gewalt und Machtmissbrauch abzulehnen, auch deren psychologische und soziale Formen. Sie lehnen auch Gewalt, ungerechte Diskriminierung oder Unterdrückung durch religiöse oder säkulare Autoritäten ab. Dazu gehören auch die Entweihung oder Zerstörung von Gottesdienstgebäuden und heiligen Symbolen oder Texten.“ (6)

Die friedliche Verbreitung des Glaubens ohne das Schwert der Obrigkeit ist heute unter Christen im Grund unumstritten. Anders sieht es schon mit der Bekämpfung der Armut aus. Es dürfte kaum bezweifelt werden, dass Aussagen wie diese im Grunde richtig sind: Gott „bedeuten die Armen wirklich etwas“; die Armen „sind Gott extrem wichtig“; „wenn es um die Armen geht, müssen wir etwas tun.“ Und wenn es heißt, „die christlichen Gemeinden und Kirchen müssen etwas tun“, so kann man dem auch noch etwas abgewinnen.

Doch z.B. der Dokumentarfilm „58“, vom internationalen christlichen Hilfswerk „Compassion“ in Auftrag gegeben, geht deutlich darüber hinaus (ausführlich dazu hier). „Die Zeit ist gekommen, der extremen Armut ein Ende zu setzen“. Wessen Verantwortung ist dies? Der Film wird eingerahmt durch folgende These: „Es liegt im Verantwortungsbereich christlicher Gemeinden, extreme Armut zu beenden. Wir verfügen über die nötigen Mittel.“

Scott C. Todd, leitender Mitarbeiter von „Compassion“, ist im Film zu hören und hat auch ein Begleitbuch geschrieben: Fast Living. Er kämpft darin eingangs gegen die „Zombies der niedrigen Erwartungen“ an. Wir sollen vielmehr „erwarten, dass Christen durch Gottes Gnade und Kraft tatsächlich der weltweiten extremen Armut in den kommenden 25 Jahren ein Ende setzten werden.“ Es geht eindeutig um wirtschaftliche (also nicht geistliche) Armut, sie könne aus der Welt verbannt werden. Und zwar durch die Christen: „Gott hat uns für diese Aufgabe das Mandat und jedes nötige Mittel gegeben“, so der Autor. Dies sei eine Aufgabe, die Gott uns gezeigt hat, und deshalb dürfen wir keine falsche Demut zeigen: „Ich glaube Gott will, dass wir weltweite Armut auslöschen, und Er hat uns die nötigen Ressourcen dazu gegeben,… um dies auch zu tun.“

Wie im Film, so auch hier: Die Ausmerzung der extremen Armut sei das klare „Mandat“ der Kirche. Eine gewagte These. Wie lautet eine biblische Begründung? Die einzige, die ich auf den mehreren Hundert Seiten gefunden habe, sieht wie folgt aus: Wir sollen als Christen das Reich Gottes ausbreiten, „und diese Ausbreitung schließt die Ausmerzung des Bösen der extremen Armut ein“.

An dieser Stelle wird deutlich, wohin die Ignoranz der Zwei-Reiche-Lehre führt. Sicherlich geht die Ausbreitung des Reiches Christi auch in gewisser Weise mit einer Ausmerzung des Bösen einher – aber in erster Linie und direkt in der Kirche selbst! Es ist klare Aufgabe der Christen, sich um die notleidenden Geschwister in der Gemeinde zu kümmern; zuallererst in der Ortgemeinde, dann in der Gesamtkirche, und auch die weltweite Dimension ist nicht aus den Augen zu verlieren. Hier hat Todd durchaus Recht, wenn er die Budgetprioritäten der Kirchen in den USA hinterfragt: Hunderte Millionen von Geschwistern leben in lebensbedrohlicher Armut, und „der amerikanischen Kirche ist die Geldbörse des Reiches anvertraut“.

Mit dem Ausbreiten der Kirche bzw. von Gemeinden korreliert der Rückgang von verschiedenen gesellschaftlichen Übeln manchmal, manchmal aber auch nicht. Die Zusammenhänge sind hier komplex (man denke nur an Südafrika, eines der Länder mit dem besten Kirchenbesuch weltweit, gleichzeitig jedoch einer schrecklichen Kriminalitätsrate). Es ist gewiss nicht das Mandat der Kirche, den Mord, die Bestechung, die Kindesmisshandlung und wer weiß was für Übel in einem ganzen Land direkt auszumerzen. Dies ist oftmals die direkte Verantwortung der staatlichen Obrigkeit (das die Kirche indirekt, vor allem durch ihre Verkündigung, dazu mitbeitragen kann, steht ja außer Frage).

Todd meint, dass die „Tyrannei der extremen Armut schon jetzt gebrochen wird“. Nun leben nicht mehr 52% der Weltbevölkerung in extremer Armut wie noch 1981, sondern nur noch 26. „Wir müssen den Motor verstehen, der uns von 52 zu 26 gebracht hat“, so im Buch. Die Frage sei nicht, ob wir die Armut ausmerzen können, sondern wie dies geschehen kann.

All das stimmt in gewisser Weise. Aber wer ist das „wir“? Wer hat den Anteil der Armut halbiert? Welches ist denn der Motor, der Armut reduziert? Immer wieder wird heute von vielen Christen gefordert, man müsse sich intensiver mit weltweiter Armut beschäftigen. Richtig. Aber genau deshalb ist auch zu fragen: Welchen Anteil hatte die Kirche bei dieser Halbierung der Armut? In Film und Buch findet sich allerdings keinerlei Nachweis, dass die christlichen Kirchen der Motor waren, der von 52 zu 26% geführt hat. Sie hat sicherlich mit dazu beigetragen, doch hat wirklich sie Hunderte Millionen aus der Armut befreit? Wenn die Halbierung aber im Wesentlichen nicht auf das Konto der Kirche geht, warum soll sie dann auf einmal den Rest ausmerzen?

Welches ist also nun der Motor? Hilfe für Geschwister in Not ist eine Sache, sicher eine wichtige Sache, der Motor, der Armut auf breiter Front reduziert, aber eine andere (entsprechend eben wieder den beiden Reichen). Um es klar zu sagen: Der Motor ist nicht die Kirche, sondern dies Mandat hat Gott der Wirtschaft und Arbeit zugeteilt. Und die Wirtschaft ist auch dem irdischen Reich zuzuordnen, eben nicht dem Reich Gottes. Natürlich hat die Kirche ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und daher in gewissem Sinne ein soziales Mandat (s. z.B. die Lausanner Verpflichtung, Art. 5). Doch dies ist keineswegs ein Mandat, weltweite Armut auszumerzen!

Henry Hazlitt schreibt in The Conquest of Poverty (Die Überwindung der Armut, 1973): „In seiner ganzen Geschichte hat der Mensch nach einem Mittel gegen die Armut gesucht, und doch hat immer die Lösung vor seinen Augen gelegen… Dieses individuelle Mittel war Arbeit und Sparen“. Der US-Ökonom betont, dass das viel gescholtene System des Kapitalismus „die Menschheit aus der Massenarmut gehoben hat“ und dieser „in den Industrieländern Massenarmut schon überwunden hat“. Nur Produktion sorgt für Wohlstand, dazu braucht es u.a. Begeisterung für Technik und Unternehmergeist.

Ähnlich stellt Jay W. Richards in Money, Greed, and God dar, dass Schaffung von Reichtum langfristig die Armut reduzieren wird. „Wohlstand wird geschaffen, wenn unsere kreative Freiheit in einer Umwelt des freien Marktes blühen kann und dies getragen wird von einer Herrschaft des Rechts und einer reichen moralischen Kultur.“ Und eindeutig: „Das einzig bekannte Gegenmittel gegen weitverbreitete Armut über Generationen hinweg ist Kapitalismus. So ist es.“ Wohltätigkeit (charity), Regierungshandeln haben ihre Aufgabe, sind oft entscheidend in extremen Katastrophensituationen. „Es gibt jedoch keinerlei Beleg, dass sie das Problem der Armut auf breiter Front oder langfristig lösen.“ Was hilft tatsächlich? Eigentumsrechte, Herrschaft des Rechts, persönliche Tugenden – das ist „langweilig, schafft aber Wohlstand“. So ist es auch kein Zufall, dass Länder mit ökonomischer Freiheit und Herrschaft des Rechts auf lange Sicht blühen.

Richards nennt schließlich ein Programm der zehn Schritte oder Maßnahmen zur Armutsreduzierung, in dem  die Kirche direkt gar nicht vorkommt. Demütigend für Todd und alle christlichen Armutsvernichter. Aber gewiss hat sie eine wichtige Rolle zu spielen. Ihre Aufgabe bei der wirklich breiten Reduzierung der Armut ist aber eine eher indirekte: bei der Schaffung von kulturellen Sitten, Traditionen und Tugenden ist sie natürlich an vorderster Front beteiligt.

Todd und „58“ wollen die Christen und Gemeinden wachrütteln, und ihr Anliegen ist sicher kein dummes: Gläubige im Norden verfügen zum Teil über gewaltige Vermögen, und von diesen könnten sie gewiss mehr abgeben. Doch diese Forderung nach mehr Großzügigkeit kommt auch gut ohne die Überhöhung der Hilfe und ihre theologische Überfrachtung aus. Auf der Agenda der Kirche steht nicht die Lösung des weltweiten Armutsproblems. Dies Problem wird durch eine freie und globalisierte Wirtschaft gelöst. Es fällt gleichsam in die Kompetenz des irdischen Reiches. Wenn wir die Bibel fragen, wie das globale Problem der Armut gelöst werden kann, dann erhalten wir keine direkte Antwort. Wir erfahren, wer mein Nächster werden kann und wir selbstlos in Not Geratenen helfen sollen. Doch woher hatte der barmherzige Samariter sein Geld? Und auf welchen Wegen kann mehr davon geschaffen werden, wie kann Wohlstand kreiert werden, damit dann wieder mehr gegeben werden kann? Dies interessiert die Bibel nur am Rande, und hier sind unbedingt die besten Theorien der Volkswirtschaft zu konsultieren.

Bild o.: „Gesetz und Gnade“ von Lukas Cranach d.Ä., 1529.