Christ, Politik und Flüchtlingskrise

Christ, Politik und Flüchtlingskrise

Es reicht für den Kaiser, daß er Vernunft hat. (Martin Luther, 1528)

Politik „der Offenherzigkeit und Nächstenliebe“?

So viel Debatte war lange nicht in den deutschen Medien. Weil es eben um die nüchterne Wirklichkeit geht, die dem Staat aus der Hand zu gleiten droht. Wer hätte es vor einem Jahr für möglich gehalten, dass der bayerische Ministerpräsident aus der Schwesterpartei der Kanzlerin mit dem Verfassungsgericht droht? Oder dass beträchtliche Teile der Unionsfraktion im Bundestag Merkel Kontra bieten? Dass CDU-Mitglieder von der Basis ihrer Chefin offen Versagen vorwerfen (wie die Tage in Sachsen)?

Die Regierungschefin hält bislang an ihrer Flüchtlingspolitik ohne Grenzen – ohne die zahlenmäßige Obergrenze, ohne Zurückweisungen und ohne den vielbeschworenen ‘Stacheldraht’ – fest. So wundert es nicht, dass selbst ein besonnener FAZ-Mitherausgeber wie Berthold Kohler in einem Kommentar fragt: „Was aber wollen wir? Niemand will, dass Deutschland sich einmauert wie die DDR. Doch heißt das im Umkehrschluss, man könne niemanden mehr davon abhalten, nach Deutschland zu kommen? Kann ein Staat tatsächlich nicht mehr bestimmen, wer sein Gebiet betritt?“

Andere werden noch deutlicher. Stefan Aust bezeichnete die These Merkels, es läge nicht in unserer Hand, wie viele Flüchtlinge zu uns kommen, als ebenso falsch wie gefährlich und als einen „politischen Offenbarungseid“. Weiter auf „Welt-online“: „Moralisch verbrämt wird hier Nichtstun als Politik ausgegeben.“ Der frühere „Spiegel“-Chefredakteur: „Das Dublin-Verfahren, das die Grenzen an den äußeren, ärmsten Rand Europas verlegte, ist faktisch außer Kraft gesetzt. Damit hat Deutschland keine gesicherte Außengrenze mehr. Aber ein Staat ohne Grenzen gibt sich selbst auf.“

Der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest wird auch vom christlichen Medienmagazin „pro“ zitiert: „Die Politik muss unbarmherzige Maßnahmen ergreifen, damit Bürger weiterhin barmherzig sein und sich für Flüchtlinge engagieren können, ohne überfordert zu werden. Denn: Eine Herausforderung, die grenzenlos erscheint und kein absehbares Ende hat, entmutigt eher, als zur selbstlosen Hilfe zu motivieren.“ Und Historiker Michael Stürmer auf „Welt-online“: „Es zeigt sich, dass Fremdheit in homöopathischen Dosen bereichert, als regellose Überwältigung aber zum Kampf ums Überleben führt.“

Harte Worte, und bekanntlich ließe sich aus den Leitmedien noch mehr zitieren. Aber betreibt die Bundeskanzlerin nicht eine Politik „der Offenherzigkeit und Nächstenliebe“? Präsentiert sie sich nicht – anspielend auf den Parteinamen der CSU – als die wahre „christsoziale Kanzlerin“? „Ihr Flüchtlings-Programm beginnt mit dem großen C für Nächstenliebe und dem großen S für Solidarität“, so auf Handelsblatt.com.

Dem würde Kardinal Marx, Bischof in München und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, sicher zustimmen. Christliche Identität bedeute als erstes dem zu helfen, der schwach ist, so betont er gerne. Und konkreter: Menschen in Not dürfen wir an unseren Grenzen nicht sterben lassen. Wir können uns nicht abschotten und allein auf der Wohlstandsinsel bleiben. Bei Christoph Markschies auf Seiten der EKD hört sich das genauso an. Die Bibel ist voller Geschichten über Menschen, die ihre Heimat verlassen, so der Theologe; sie sei „migrantenfreundlich strukturiert“. Daher sollen wir freundlich mit Migranten umgehen. In die Tiefen der Tagespolitik wagen sich die Kirchenleute nicht herab.

Auch bei der Jahrestagung der Europäischen Evangelischen Allianz (EEA) Anfang Oktober stand das Thema Flucht und Migration oben auf der Tagesordnung.  Bei „idea“ wird ein Leiter der EEA wiedergegeben: „Viele Gemeinden und Christen starteten Hilfsaktionen, während andere zurückhaltend bis ablehnend auf die Flüchtlingsströme reagierten“. Diese Skepsis könne aber überwunden werden: „Wir müssen mit einer biblischen Theologie über Flüchtlinge theologisch dagegensteuern.“

Abwehrrechte und Anspruchsrechte

Viele wollen heute die „öffentliche Relevanz und Sprachfähigkeit von Theologie und Kirche“ fördern, was immer gut klingt. Aber dies scheitert häufig schon an falschen Alternativen, die das Denken auf die falsche Bahn lenken und sicher nicht zur Relevanz beitragen. So ja auch die Äußerungen von Kardinal Marx: Alles, was auch nur irgendwie nach Stacheldraht riecht, sei ipso facto unchristlich. Den Dialog mit politisch Verantwortlichen wird das nicht verbessern.

„Unsere Antwort muss das Recht der Menschen auf Asyl in unseren Ländern anerkennen“. So heißt es auch in „Justice and Compassion Responding to the Refugee Crisis in Europe“, einer ausführlichen Stellungnahme der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), verfasst von  Thomas Albinson. Im Abschnitt „Justice – Human Rights“ wird festgehalten, dass man sich bei einer Suche nach eine gerechten Antwort auf die Flüchtlingswelle an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention orientieren will.

Wie nun aber das Asylrecht aus theologischer Perspektive einzuordnen, biblisch zu begründen und konkret zu deuten ist, wird dort in keiner Weise deutlich. Es erscheint einfach alternativlos und bedarf offensichtlich keiner besonderen Rechtfertigung. Auch Pastor und Blogger Peter Aschoff hält das „Asylrecht und die Menschenrechte für nicht verhandelbar“. Wer diese hochhält und sich in Solidarität für Flüchtlinge einsetzt, „handelt keineswegs unvernünftig. Er folgt nur nicht der berechnenden, kühl kalkulierenden und konkurrierenden Vernunft derer, die sich das Elend dieser Welt (das sie aktiv und passiv mit verschuldet haben) so weit wie möglich vom Leib halten wollen, etwa mit so realitätsverzerrenden Parolen wie: ‘Wir können schließlich nicht die ganze Welt retten.’“ So jemand folge einer „empathischen Vernunft, die sich mit dem Leid anderer identifiziert“, und nach deren Rechtsverständnis  „Grund- und Menschenrechte nicht unter Finanzierungsvorbehalt stehen.“

Wer will sich schon mangelnde Empathie bescheinigen lassen? Tatsächlich sollte der Einzelne seine Hilfe für Notleidende nicht kühl berechnen. Aber folgt daraus, dass es auf staatlicher Ebene keine Alternative zu einem umfassenden, uneingeschränkten Asylrecht gibt? Entweder man akzeptiert kritiklos das ganze Menschenrechtspaket (und es ist inzwischen schon nicht zu klein: man denke an das Recht auf „regelmäßigen bezahlten Urlaub“, „unentgeltliche grundlegende Bildung“ oder einen angemessenen Lebensstandard, Art. 24–26 der AEMR) oder man ist einer herzlosen Vernunft verfallen?

Wer auf die Realität hinweist, betreibe nun Realitätsverzerrung, so Aschoff. Jan Fleischhauer hat dies jüngst in seiner „Spiegel-online“-Kolumne als „Inversion der Werte“ bezeichnet. Nun ist auf einmal nicht der „ein Verfassungsfeind, der sich über europäisches Recht hinwegsetzt, sondern derjenige, der zu ihm zurückkehren will… Realitätssinn beweist, wer Grenzen für ein Instrument von gestern erklärt, realitätsuntüchtig ist, wer an ihnen festhält.“

Der katholische Philosoph Robert Spaemann erinnerte schon 1982 (!) im Aufsatz „Wer hat wofür Verantwortung?“ (nun in einem Sammelband mit dem heute seltsam klingenden Titel Grenzen) daran, dass hier unbedingt differenziert werden muss. Manche Rechte stehen eben doch „unter Finanzierungsvorbehalt“:

„Daß man sich allerdings mit der Übernahme von Verantwortung auch übernehmen kann, zeigt das deutsche Asylrecht. Die Zahl der Menschen auf der Welt, die aufgrund echter Gefahr für Leib und Leben dieses Recht in Anspruch nehmen könnten, ist so groß, daß dies den Zusammenbruch unseres Staatswesens zur Folge haben könnte, wenn auch nur ein erheblicher Prozentsatz von ihnen dies täte. Hier gilt zweifellos der Satz des Evangeliums, daß der, der einen Turm bauen will, gut daran tut, zuvor die Kosten zu berechnen. Menschenrechte auf bestimmte Leistungen anderer Menschen können immer nur bedingte Rechte sein, denn die Erfüllung setzt erstens immer voraus, daß es Subjekte entsprechender Pflichten gibt, die diese Leistungen zu erbringen auch imstande sind, und es setzt voraus, daß diese Subjekte nicht vielleicht durch vordringlichere Pflichten an der Erfüllung dieser Ansprüche gehindert sind. Abwehrrechte hingegen, die andere nur dazu verpflichten, bestimmte Handlungen zu unterlassen, sind jederzeit erfüllbar.“

Spaemanns notwendige Unterscheidung, die vom klassischen Liberalismus hochgehalten wurde, wird in diesen Tagen einfach nicht thematisiert. Gerne greift man auf die unbedingt zu schützende Menschenwürde zurück, so auch die Kanzlerin am 12. Oktober in Stade. Sie betonte das „C“ der Partei; das Asylrecht sei „aus leidvoller Erfahrung geboren“, und daher gelte: Wer flieht, der wird menschenwürdig behandelt und dem geben wir Asyl. Punkt. – Wenn Abwehrrechte und Anspruchsrechte in einen Topf geworfen werden, ja ihr Unterschied geradezu systematisch ausradiert wird, dann muss solch ein Alternativlosigkeit dabei herauskommen.

Auch Thomas K. Johnson, Berater der WEA, wirft in einem aktuellen Beitrag eine Alternative auf: „Xenophobia or hospitality?“, Fremdenfeindlichkeit oder Gastfreundschaft. Johnson hat dabei seinen Wohnort in Tschechien im Blick, und tatsächlich gibt es in einigen zentraleuropäischen Ländern nicht zu wenig offenen und latenten Rassismus, verständliche und irrationale Angst vor Fremden. Zu recht spricht der reformierte Theologe dies an. Im persönlichen Umgang haben hier tatsächlich viele Nachholbedarf. Aber trifft diese Alternative auch den politischen Umgang mit der Krise? Zeigen die Zentraleuropäer in Verantwortung schon damit ihre Xenophobie, dass sie nicht mit offenen Armen jede Verteilungsquote aus Brüssel liebend gerne akzeptieren? Oder noch konkreter: Ist diejenige Regierung, die nicht Massen von Flüchtlingen aufnehmen will und sich für den Grenzschutz stark macht, allein schon deshalb der Fremdenfeindlichkeit verfallen? (Das gilt schließlich für alle östlich von Berlin.)

„Politik der Gnade“

Wird die politische Dimension berührt, dann ist aus christlicher Feder kaum wirklich Hilfreiches zu lesen. Im jüngsten „Aufruf zum Handeln an die Evangelikale Bewegung in Europa – Appell der Generalversammlung der Europäischen Evangelischen Allianz zur Flüchtlingsfrage“ heißt es: „Wir sind nicht naiv angesichts des ungeheuren Ausmaßes der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die vor uns liegen, aber wir stehen standhaft ein gegen eine ‘Politik der Angst’ und für eine ‘Politik der Gnade’. Und wir erwarten von den politisch Verantwortlichen die Intensivierung der Bemühungen um eine politische Lösung der Konflikte, die den derzeitigen Exodus ausgelöst haben.“

Was soll man von solchen Sätzen halten? Wer soll hier zum Handeln aufgerufen werden? Man kann Gift darauf nehmen, dass die politische Spitze in Europa sowieso mit Hochdruck an einer politischen Lösung der Konflikte arbeitet, zu arbeiten versucht. Aber wem soll geholfen sein mit einem Appell zu einer „Politik der Gnade“? Was soll man darunter verstehen? Sicher, die europäischen Staaten zeigen sich auch in gewisser Weise gnädig, indem sie Hunderttausende Fliehende in die Länder lassen – und die reichen Golfstaaten zieren sich. Aber hat es noch irgendeinen Sinn in diesen Tagen politische Verantwortungsträger in Staat und Verwaltung zu einer weiterhin gnädigen Politik aufzufordern? Übersetzt ins politische Handeln: Bloß keine geschlossenen Grenzen! Wäre es nicht gnädig, wenn man Familien aus dem Kosovo, die nun bald wirklich keiner mehr hier haben will, die aber oft all ihr Hab und Gut verkauft haben, um dem durch und durch korrupten Land zu entkommen, wenn man diese doch nicht abschiebt? Überhaupt keine Abschiebungen trotz fehlendem Grund für Asyl – das wäre wohl barmherzig. Soll aber so von staatlicher Seite gehandelt werden? Doch das will nur eine recht kleine Minderheit am linken Rand.

Politik der Gnade,  Politik der Angst – solche Etikettierungen helfen nun wahrlich nicht weiter und sind leider wohl nichts anderes als Phrasen der denkerischen Hilflosigkeit. Denn die Frage ist doch, wie in dieser Krisensituation gute Politik aussehen kann und soll. Echte Orientierungshilfe für die Verantwortungsträger aus christlicher und konkret auch aus evangelikaler Sicht ist hier leider so gut wie gar nicht zu entdecken.

„Wir müssen der Politik deutlich machen…“

Problematisch ist dabei vor allem, dass die persönliche und die politische Dimension in der Argumentation meist wie wild durcheinander gemischt wird. In „Justice and Compassion – Responding to the Refugee Crisis in Europe“  wird im Abschnitt „Compassion – Biblical Mandate“ ganz richtig betont: „Gott erwartet von seinem Volk, Fremde mit Gerechtigkeit zu behandeln.“ Von Christen, so dort weiter, wird aber noch mehr verlangt: Jesus befiehlt uns, unseren Nächsten zu lieben und den Fremden willkommen zu heißen. Es wird auf Mt 25,35f („Denn ich bin hungrig gewesen…“) hingewiesen, und schon die „kleine Auswahl“ von Schriftstellen zeige, „dass Gott von uns erwartet aktiv das Wohlergehen von Flüchtlingen und Asylbewerbern zu suchen.“

Diese Bibelstellen sind „unbequem“. Daher könnten viele „versucht sein zu glauben, dass dieses Mandat nicht für alle Fremden gelten könne und vor allem nicht für diejenigen, die Grenzen ‘illegal’ überschreiten. Das erinnert an den Kontext, in dem Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählte.“ Es bestehen Ähnlichkeiten zwischen „Asylbewerbern und Flüchtlingen in unserer heutigen Welt“ und dem Opfer in der Geschichte. „Man kann sich nur schwer vorzustellen, dass Jesus uns etwas anderes sagen will, als dem Beispiel des Helden in der Geschichte zu folgen.“

Natürlich sollen Christen dem Beispiel des Samariters folgen und einem Menschen in Not, dem sie zum Nächsten werden, selbstlos helfen. Aber es wird ja in „Justice and Compassion” auch noch mehr gesagt und zu verstehen gegeben, dass das Wohlergehen von allen Flüchtlingen und Asylbewerbern aktiv zu fördern sei, und das lässt sich dann wohl kaum mit Zurückweisen an Grenzen, mit Abschieben, Abschrecken usw. vereinbaren.

In einer Stellungnahme der EEA vom September („A statement on the current ‘refugee crisis’ and Evangelical responses”) wird betont, dass entsprechend der evangelischen Überzeugungen der Zugang zum Problem von Asyl und Migration nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt „von Sicherheit und Verteidigung“ gesehen werden dürfe. Migranten sind nicht als „Feinde oder Invasoren“ zu betrachten, sondern zuallererst als Menschen. Christen seien einer Ethik der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und der Integration von Fremden verpflichtet; der Schutz der Schwachen ist ihnen in besonderer Weise anbefohlen. Diese Werte seien universal, und daher müssen alle Regierungen und Individuen sich für Gerechtigkeit einsetzen, Demagogie, Populismus und Fremdenfeindlichkeit das Gehör verweigern. Es folgt der Hinweis auf Migrationsgeschichten und auf Lk 10,25f (der Samariter); Menschen in Not sei ohne zu Zögern Hilfe zu gewähren.

Hier wird einmal mehr viel Richtiges gesagt, aber auch das politische Handeln direkt angesprochen, und es ist zurückzufragen: Warum sollten staatliche Organe Sicherheit und Verteidigung eigentlich nicht als Priorität ansehen? Ist der Schutz der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität sowie die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung nicht Hauptaufgabe der zivilen Obrigkeit? Die Fliehenden aus Syrien sind gewiss keine Feinde oder Invasoren, auch keine „räuberischen Horden“ (kriminelle Banden kommen eher aus den neuen EU-Ländern). Aber so wird impliziert: Wer doch Sicherheitserwägungen obenan stellt, behandelt sie als Feinde. Wieder wird in falsche Alternativen hineingezwängt.

Der Samariter hingegen hat sicher ein hohes persönliches Risiko auf sich genommen (schließlich befand er sich im ‘feindlichen’ Judäa), und genauso haben diejenigen, die Menschen in Not bei sich aufnehmen, Sicherheitsbedenken nicht in den Vordergrund zu schieben. Doch hier befinden wir uns eben nicht auf der Ebene des staatlichen Handelns. Der einzelne Bürger und Christ ist frei, ein mehr oder weniger großes Risiko einzugehen, denn er oder sie kann dies angemessen einschätzen. Der Staat kann dies jedoch in der Weise nicht. Er muss um seiner Bürger willen zuerst die Sicherheit aller bedenken.

Schließlich heißt es dort, dieser Aufruf zur Hilfe „gibt keine vollständige Antwort darauf, wie die EU oder einzelne Länder ihre Migrationspolitik gestalten sollen. Hier kommen Christen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen – soweit sie denn mit der biblischen Ethik vereinbar sind.“ Wo’s interessant wird, kneifen die Autoren. Die Frage ist doch, was die Grenzen einer biblischen Ethik für die Politik sind, in deren Rahmen sich alle bewegen sollten. Migrationspolitik – kann hier aus christlicher Sicht einmal etwas Substanz geboten werden? Etwas mehr als der nun wirklich schon stereotype Hinweis auf die Migrationsgeschichten der Bibel und die Offenheit gegenüber den Fremden?

Und „keine vollständige Antwort“ ist sicher zu schmeichlerisch: Ich kann hier so gut wie gar keine konkreten Positionen jenseits der persönlichen Ethik erkennen, abgesehen von Allgemeinplätzen (Schutz der Schwachen, universale Werte, Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit usw.). Echte Leitlinien – Grundsätze, die Anleitung zum Handeln liefern – für Verantwortliche im Staat sind nicht zu finden.

Die Europäische Allianz wendet sich in ihrer Erklärung („Aufruf zum Handeln“, s.o.) aber auch mit einem Appell an die Politik. „Wir müssen der Politik deutlich machen, dass den Flüchtenden in ihren Herkunftsländern die Zustände geschaffen werden müssen, die den Menschen dort das Leben leichter machen“, so Harmut Steeb, Generalsekretär der Deutschen Ev. Allianz (im Text ist von einer „Intensivierung der Bemühungen um eine politische Lösung der Konflikte“ die Rede). „Deshalb ist die Bitte der Europäischen Allianz an Politiker, sich diesen Aufgaben langfristig zu zuwenden.“

Mit einer konkreten Bitte, ja einem Appell wendet man sich an die Regierenden. Doch es geht nicht um den eigentlichen Kompetenz- und Verantwortungsbereich des staatlichen Handelns, der nun mal das Territorium des Landes (und die EU) umfasst. Fokus ist die Außenpolitik, doch hier sind die Möglichkeiten, in anderen Ländern Umstände grundlegend zum Besseren zu ändern, sehr begrenzt. Politische Lösungen in Syrien, im Irak, in Afghanistan?? Und wo sind entsprechende Hinweise für die Innenpolitik? Ein zu heißes Eisen? Welche Zustände sind im Inneren, in Justiz und Verwaltung, anzustreben? Muss nicht der Politik deutlich gemacht werden, dass die Zustände in der deutschen Verwaltung an manchen Orten vor dem Zusammenbruch (vom „Kollabieren“ ist hier und da schon die Rede) zu bewahren sind?

„Solch Unterschied dieser zwei Reiche einbleuen“

Die angemahnte „biblische Theologie über Flüchtlinge“ bleibt weitgehend in den Ansätzen stecken, da das nötige Instrumentarium nur noch in Restbeständen vorhanden ist. Die notwendige Unterscheidung von „Brüderlichkeit und Gerechtigkeit“, auf die schon Ökonom Frédéric Bastiat Mitte des 19. Jahrhunderts im gleichnamigen Aufsatz hingewiesen hatte, wird kaum noch getroffen (hier und hier mehr dazu).

Dies hat auch damit zu tun, dass gerade in Deutschland die Zwei-Reiche-Lehre in Vergessenheit geraten ist. Der Begriff entstand zwischen den Weltkriegen, aber die Lehre selbst geht bekanntlich auf die Reformatoren wie Luther und Calvin (Inst. III, 19,15; s. auch hier) zurück. Wenn Heiko A. Oberman bildreich meinte, die Prädestinationslehre sei nur noch auf Flohmärkten zu finden, so kann man wohl entsprechend sagen, dass die Zwei-Reiche-Lehre in der Rumpelkammer des Kellers vor sich hin verstaubt. Und nun könnten wir sie händeringend gebrauchen!

Leider hat das Verhalten mancher Kirchen im „Dritten Reich“ diese Lehre in den Augen vieler diskreditiert. Sie wird, so Christiane Tietz in „Die politische Aufgabe der Kirche im Anschluss an die Lutherische Zwei-Regimenten-Lehre“, „für die kritiklose Unterordnung lutherischer Christen unter die jeweiligen obrigkeitlichen Verhältnisse“ verantwortlich gemacht. Die klare Unterscheidung der Bereiche Politik und Religion „machte man als Ursache für die Untätigkeit der Kirche gegenüber dem nationalsozialistischen Unrecht aus.“ Sie wird als schuldig für den anpasserischen Zug im Luthertum betrachtet. Tietz zitiert Ernst Troeltsch: „Die Weichheit seiner ganzen innerlichen Spiritualität schmiegte sich den jeweils herrschenden Gewalten an.“ Karl Barth meinte daher, die Zwei-Reiche- Lehre sei „vorläufig“ zu „suspendieren“.

Walter Künneth (1901–1997) stellte in Der Christ als Staatsbürger diese Kritik zusammenfassend dar: Der Lehre wird vorgeworfen, sie hätte zur „Verselbständigung“ und zu „selbstherrlicher Autonomie“ der Obrigkeit geführt; „Staatshörigkeit“ und „Kadavergehorsam“ auf Seiten der Christen und Bürger wird ihr angelastet. Dabei sind, so betonte er, die bürgerliche Ordnung und das geistliche Reich zwei Weisen, mit denen Gott die Welt regiert. Sie stehen als die zwei Regimenter Gottes beide unter ihm und sind beide in Verantwortung vor Gott auszuüben. Die genannten Kritikpunkte betreffen also den Missbrauch dieser Lehre. Künneth: „Diese Verantwortung vor Gott gilt ebenso bei dem Richter, der ein hartes Urteil zu fällen hat, wie auch für sein Privatleben, wo er zum Vergeben und zum Leiden an der Ungerechtigkeit bereit sein soll“. Es ergibt sich eine „zweifache Verhaltensweise je nach den verschiedenen Lebens- und Berufssituationen“.

Luther selbst hielt diese Unterscheidung für ganz wesentlich. „Wer nun diese zwei Reiche, wie unsere falschen Rottengeister tun, ineinandermengen wollte, der würde Zorn in Gottes Reich setzen und Barmherzigkeit in der Welt Reich.“ 1534 schrieb er: „Ich muss immer solch Unterschied dieser zwei Reiche einbleuen und einkäuen, eintreiben und einkeilen, ob‘s wohl so oft geschrieben und gesagt ist. Denn der leidige Teufel hörte nicht auf, diese zwei Reiche ineinander zu kochen und zu bräuen.“

Auch Künneth bemerkte in den Spuren Luthers schon vor Jahrzehnten: „Die erstaunliche Blindheit gegenüber der Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen ‘Weltreich’ und ‘Gottesreich’ ist als eine der wesentlichen Ursachen der heutigen politisch-ethischen Krisensituation geltend zu machen.“ Die Zwei-Reiche-Lehre „besitzt eine Kompaßqualität. Sie setzt klare Signale, an denen sich die Geister, damals wie heute, scheiden. “

Wer schafft was?

Dieser Kompass fehlt heute. Selbst im Magazin „Reformation. Macht. Politik.“ zum Themenjahr „Reformation und Politik“ (2014) der Lutherdekade der EKD wird die Zwei-Reiche-Lehre hier und da natürlich genannt, aber nirgends erläutert, und schon gar nicht wird erkennbar, dass sie uns heute von Nutzen sein könnte.

In „Christen und die Politik – Das Verhältnis von Kirche und Staat in Geschichte und Gegenwart“ lieferte Stephan Holthaus jüngst einen guten Überblick zu den verschiedenen Sichtweisen im Verlauf der Kirchengeschichte. Im letzten Abschnitt, in dem der FTH-Prorektor seine Sicht schildert („Transformierender Glaube: Christen durchdringen die Politik“), skizziert Holthaus auch Hauptgedanken der Zwei-Reiche-Lehre: „Glaube und Politik sind zwei getrennte Dinge. Beim Glauben geht es um das ewige Heil, bei der Politik um das irdische Wohl… Die Regeln der Politik sind andere als die Regeln der Gemeinde. Glaube und Politik müssen getrennt werden, Politik und Evangelium dürfen nicht vermischt werden.“

Ja und Amen. Der Ethikdozent ist ganz auf der richtigen Fährte. Welche Hinweise erhält in dem Abschnitt nun der Christ im Staatsapparat und in Regierungsverantwortung? Allgemein gehe es darum, „die Gesellschaft mit den Werten des Evangeliums“ zu durchdringen. Das klingt heutzutage eingängig, bleibt aber sehr diffus und wäre nun unbedingt zu konkretisieren (und es wäre zu klären, wie dies von einer Vermischung von Politik und Evangelium, die er ja selbst ablehnt, zu unterscheiden ist). Holthaus kommt dem nahe, wenn er die für Christen „besonders wichtigen Werte“ wie „Lebensschutz, die Stärkung von Ehen und Familie, der Schutz vor irreführender Sexualität oder die Religionsfreiheit“ nennt, für die sich Gläubige einsetzen sollen, da diese gefährdet sind. Außerdem ginge es um „eine gemeinsame Strategie, wie wir den unchristlichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft Paroli bieten können.“ Und dem Staat sei „deutlich zu machen, dass er auf Fundamenten ruht, die er selber nicht schaffen kann.“

Alles gut und schön. Aber dabei bleibt es leider. Welches die anderen Regeln der Politik sind, wird nicht erkennbar. Was ist aus dieser Sicht die Aufgabe der Obrigkeit als solcher? Was soll sie anders machen als die Kirche? Was will Gott, dass ich nun als Christ in Verantwortung in Staat und Verwaltung tue (das Gesagte berührt ja nur Teilaspekte)? Nach welchen Werten, Prinzipien und Grundsätzen soll ich mich orientieren? Ist es möglich, Nächstenliebe und „politische Steuerung“ im Staat gleichermaßen hochzuhalten (wie Marx und Bedford-Strohm gerne am derzeitigen Handeln der Kanzlerin loben)?

Holthaus gibt zu verstehen, dass Christen den Raum der Politik gleichsam mit ihrer Andersartigkeit infizieren sollen. Das Stichwort Transformation fällt. Damit wird aber in keiner Weise deutlich, worin das Eigenrecht des Politischen und des staatlichen Handelns liegt. Was ist zum Wirken des Staates zu sagen, in dem Christen nicht transformierend wirken? Welchen Kriterien Gottes unterliegt das Handeln dort – ganz unabhängig vom Glauben des Akteure?

Luther hat dies 1528 deutlicher auf den Punkt gebracht: „Christen braucht man für die Obrigkeit nicht. So ist es nicht nötig, dass der Kaiser ein Heiliger ist, es ist für sein Regiment nicht nötig, dass er ein Christ ist. Es reicht für den Kaiser, dass er Vernunft hat.“ Dies ist provokant, aber ganz treffend gesagt. Christen in der Politik sind nicht in erster Linie in ihrem Handeln danach zu beurteilen, inwieweit sie sich den christlichen ‘Spezialthemen’ widmen (so wichtig das auch sein kann!), sondern ob sie gute und das heißt eben vernünftige Politik machen. Und das ist, ob es nun Aschoff und anderen gefällt oder nicht, berechnende, kühl kalkulierende Vernunft. Ich möchte wahrlich nicht von einem Heißsporn, der Entscheidungen vor allem aus dem Bauch trifft, regiert werden.

Aufgabe der Staatsführung ist auch nicht die Umsetzung einer „regierungsamtlichen politischen Theologie“, die die Kanzlerin gleichsam als „Hohepriesterin der deutschen Flüchtlingspolitik“ erscheinen lässt. Christian Geyer-Hindemith von der FAZ, der hier weiter bemerkte:  „Auf die Frage des ‘Deutschlandfunks’, ob Angela Merkel nicht in gewisser Weise die Jeanne d’Arc urchristlicher Werte sei, antwortete [Schriftsteller Martin] Mosebach: ‘Das geht doch eben gerade nicht. Urchristliche Werte sind immer höchst persönlich. Der Staat ist nicht zur Nächstenliebe angehalten, weil er gar keinen Nächsten hat. Er ist keine Person. Ich meine, das konnte Ludwig XIV. von sich sagen, der Staat bin ich, aber Angela Merkel ist nicht der Staat.’“

Aufgabe der Christen und der Kirche ist es im Hinblick auf die Politik vor allem, den  Staat an seinen spezifischen Auftrag von Gott zu erinnern. Um den Merkelschen Satz aufzugreifen: Was kann und soll der Staat schaffen? Das, was der Staat schaffen kann, ist eben recht begrenzt. Darin liegt ja auch ein Hauptproblem im Satz der Kanzlerin. Wer ist das „wir“ im „Wir schaffen das!“? Wir alle? Die Gesellschaft? Deutschland? Seit wann spricht ein Regierungschef für die Leistungsmöglichkeiten von allen? Was der Einzelne leisten und bewältigen kann, muss er oder sie schon selbst festsetzen und beurteilen. Auf der persönlichen Ebene sind solche Entscheidungen zuhause. Hier gilt, was Detlef Löhde von der SELK über den barmherzigen Samariter zusammenfasste:

„Wie haben wir uns als Christen in der Flüchtlingsfrage zu verhalten? In der persönlichen Begegnung haben wir Flüchtlingen freundlich und hilfsbereit entgegen zu kommen. Die Nächstenliebe dürfen wir nicht nur auf Angehörige unseres Volkes beschränken wollen… Das heißt, der einzelne Christ und die Kirche handelt an Fremden und Flüchtlingen immer nach dem Gebot der Liebe und keiner wird abgewiesen.“

Dies umreißt gut das moralische Gebot in der Geschichte. Wenn man das ernst nimmt, haben wir wahrlich genug zu tun. Wenig hilfreich ist hingegen die Überschrift auf der Seite der evangelikalen Initiative „We Welcome Refugees“ (s. Screenshot o.): Wir müssen weltweit „zu einer kollektiven Stimme werden und zusammenarbeiten, um die Hände und Füße Jesu zu sein und genügend Hebelwirkung schaffen, um das Blatt bei diesem dringenden und wichtigen Thema zu wenden“ (to create enough leverage to start to turn the tide on this urgent and significant issue). Geht’s nicht etwas bescheidener? Ist das wirklich die Aufgabe der Kirche? Ist das nicht sogar eine christliche Hybris, die der auf Seiten der Politik entspricht?

MDR-Mitarbeiter Michael Voß wünschte sich in einem „pro“-Beitrag „mehr Samariter, die Hilflose uneigennützig in Sicherheit bringen und für deren Wohl sorgen“. Dem Beispiel des Samariters sei „ganz eindeutig“ zu folgen. „Angela Merkel und die Bundesregierung haben das offenbar verstanden.“ Kein Wunder, dass Luther vom Einbläuen der Zwei-Reiche-Lehre sprach.