„Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“
(Claude) Frédéric Bastiat (1801–1850) war in der ersten Hälfte des 19. Jhdt. ein wichtiger Ökonom und Politiker in Frankreich, ab 1848 Mitglied der Nationalversammlung. Er ist dem klassischen Liberalismus zuzuordnen, setzte sich gegen Protektionismus, also für Freihandel sowie gegen staatlichen Subventionen ein. 1849 fasste Les Harmonies Économiques (Die wirtschaftlichen Harmonien) seine wirtschaftspolitischen Lehren zusammen. Kurz vor Bastiats Tod erschien außerdem sein vielleicht wichtigstes Werk La Loi (das Gesetz). Eine Art Kurzversion stellt der Aufsatz „Justice et Fraternité“ (Gerechtigkeit und Brüderlichkeit), 1848 erschienen im „Journal des Économistes“, dar. Übersetzungen ins Deutsche finden sich hier.
Zu seiner Zeit galt Bastiat als einer der wichtigsten Journalisten der Politik und Wirtschaft. Leider wirkte er damals durch seine verschiedenen Schriften nur wenige Jahre und geriet, vor allem auch in seiner Heimat selbst, bald weitgehend in Vergessenheit. Heute werden seine Texte wieder geschätzt und sind nicht zuletzt dank des Internets jedermann zugänglich. Obwohl über 150 Jahre alt, zeichnen sich Bastiat Werke bis heute durch ihre gute Lesbarkeit aus: präzise und prägnant, eindeutig und klar, bildreich und anschaulich, bissig und manchmal provokativ schrieb der Franzose über die brennenden Themen seiner Zeit. Er zeigte so auch großes didaktisches Talent. Sein „Was sichtbar und was unsichtbar ist“ kann tatsächlich als eine Einführung in die Volkswirtschaft in einer Lektion bezeichnet werden. Hören wir also auf den, so Joseph Schumpeter, „größten Journalisten der Ökonomie aller Zeiten“.
In „Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“ analysiert Bastiat das Verhältnis beider Begriffe zueinander. Er warnt eindrücklich vor einer Vermengung, was ja auch bis heute oft geschieht (nun gebraucht man häufig „Solidarität“ als eine Art Synonym von Brüderlichkeit; Christen reden natürlich mehr von Nächstenliebe). Er beschäftigt sich auch mit der Frage, welches die Aufgaben des Gesetzes und des Staates allgemein sind.
Bastiat nimmt gleich eingangs kein Blatt vor den Mund: Es gibt einen radikalen Unterschied zwischen der „ökonomischen Schule“ (oder „politischen Ökonomie“), der er angehörte, und den verschiedenen „sozialistischen Schulen“. „Die politische Ökonomie kommt zu dem Schluss, vom Gesetz nichts zu fordern als die allgemeine Gerechtigkeit.“ Nach der sozialistischen Auffassung hat der Gesetzgeber umfassende Aufgaben: „Der Sozialismus, in seinen verschiedenen Zweigen, und durch Maßnahmen von naturgemäß unbeschränkter Zahl, fordert außerdem vom Gesetz die Verwirklichung des Dogmas der Brüderlichkeit.“
Nach Bastiat ist es die Aufgabe des Gesetzes, die bestehenden Rechte des Menschen durchzusetzen und somit der „Schutz aller Personen, aller Arbeiten, aller Besitztümer, aller Rechte, aller Interessen“. Ähnlich wie dann im 20. Jhdt. Karl Popper formuliert er den liberalen Grundsatz: „Offensichtlich hat das Recht eines jeden das ganz gleiche Recht aller anderen zur Grenze. Das Recht kann also nichts anderes tun, als diese Grenze anzuerkennen und ihr Respekt zu verschaffen. Wenn sie einigen zugesteht, sie zu brechen, wäre es zum Schaden einiger anderer. Das Gesetz wäre ungerecht.“ Im Hinblick auf Eigentum und Handel ist es Aufgabe des Gesetzes, „Diebstahl, Gewalt und Betrug“ zu bestrafen. Damit werden aber „Hingabe und Großzügigkeit“ keineswegs verboten.
Das Gesetz wird mit Zwang durchgesetzt: „Das Gesetz operiert durch Zwang, man kann vom ihm nur Gerechtigkeit verlangen.“ Wohltätigkeit kann dagegen nicht erzwungen werden, denn sie ist „ein freiwilliges Opfer aus brüderlichem Gefühl“. Bastiat verwirft die Vorstellung, Brüderlichkeit mit dem Gesetz durchsetzen zu wollen als „verwerfliche“ Idee und betont: „Brüderlichkeit ist spontan oder es gibt sie nicht. Sie verordnen heißt sie zerstören. Das Gesetz kann wohl den Menschen zwingen, gerecht zu sein. Vergeblich würde es versuchen, ihn zu zwingen, hingebend zu sein.“
Nun wird aber den Liberalen von den Sozialisten vorgeworfen, sie würden die Brüderlichkeit aus der Gesellschaft und den menschlichen Beziehungen verbannen wollen, ja sie überhaupt leugnen. Bastiat gibt ihren Einwand so wieder: „‘Da die Gesellschaft ganz im Gesetz liegt’, sagen sie, ‘und da Ihr vom Gesetz nur Gerechtigkeit fordert, verbannt Ihr also die Brüderlichkeit aus dem Gesetz, und folglich aus der Gesellschaft’.“ Die Liberalen werden „der Starrheit, der Kälte, der Härte, der Trockenheit“ bezichtigt; die Worte der Sozialisten dagegen sind „voll Selbstlosigkeit und Wohltätigkeit“.
Bastiat unterstreicht, dass er und seine Schule – ganz anders als unterstellt – überhaupt nichts gegen die Brüderlichkeit haben: „Glaubt nur, auch wir begrüßen dies Wort Brüderlichkeit begeistert, das einmal vor achtzehnhundert Jahren von der Höhe des heiligen Berges gefallen ist… Auch wir wünschen uns zu sehen, dass die Individuen, die Familien, die Nationen sich vereinigen, füreinander einstehen, sich untereinander helfen auf der mühsamen Reise des sterblichen Lebens.“
Diese Anspielung an Jesus ist nicht der einzige Hinweis auf das Christentum in seinem Artikel. Das Evangelium hat uns Hingabe gelehrt, „es hat uns die Brüderlichkeit nicht nur erklärt, es hat uns das vollständigste, bewegendste und erhabenste Beispiel dafür auf dem Gipfel von Golgatha gegeben.“ Bastiat zitiert die Worte des „göttlichen Gründers unserer Religion“ über das Gesetz, wonach wir anderen keinen Schaden zufügen dürfen, und von der Liebe, die mehr als das vom Gesetz Geforderte tut. Die „Trennungslinie“ zwischen beiden Bereichen ist nicht absolut, aber es gibt dennoch einen Unterschied „zwischen dem Bereich, der vom Gesetz umschrieben wird und dem unendlichen Reich menschlicher Spontaneität“.
Bastiat unterscheidet zwischen dem Bereich der Gerechtigkeit und dem gesamten Bereich der Tugend und Nächstenliebe. Die Gerechtigkeit betrifft die Rechtspflichten; wir schulden sie einander, d.h. ich darf meinen Mitbürger in keinem Fall unterdrücken, ausbeuten, betrügen usw. Wird hiergegen verstoßen, reagiert man mit Empörung und fordert Zwangsmaßnahmen. Es gibt aber auch eine Pflicht zur Tugend, zur Brüderlichkeit und Nächstenliebe. Aber diese schulden wir anderen im rechtlichen Sinne nicht. Sie kann (vom Staat) nicht verlangt, sondern nur erbeten werden. Diese ‘Mehrleistungen’ von Mitleid und Wohltätigkeit sind freiwillig zu erbringen. Bleiben sie aus, ist man enttäuscht, kann aber nicht zu Polizei und Gericht laufen.
Der Bereich der Gerechtigkeit ist daher wesentlich begrenzt und klar: „Gerechtigkeit: da weiß man, was sie ist, wo sie ist.“ Für den der persönlichen Moral gilt: „Aber Brüderlichkeit: wo ist ihr Fixpunkt? Wo ist ihre Grenze? Was ist ihre Form? Offensichtlich ist sie unendlich.“ Und er hält fest, dass „das Opfer von Natur aus nicht wie die Gerechtigkeit eine Grenze hat.“
Bastiat betont die Unterscheidung der beiden Bereiche ohne sie aber ganz auseinanderzureißen. Dass die „Trennungslinie“ nicht absolut ist, zeigt er am Beispiel der staatlichen Hilfe in Notsituationen: „Wenn die Sozialisten sagen wollten, dass der Staat für außergewöhnliche Umstände, für dringende Fälle gewisse Ressourcen bereitstellen muss, bei manchem Unglück helfen, bei manchem Umbruch beistehen muss, mein Gott, wir würden einverstanden sein.“
Aber diese vereinzelte Nothilfe darf nicht dazu führen, dass der Staat Aufgaben aus dem Bereich jenseits der Gerechtigkeit übernimmt. Die Sozialisten, so Bastiat, verfolgen den „Plan, das Glück der Menschheit herbeizuführen“. Doch solche Ideen sind falsch, ihre Projekte „ebenso kindisch wie verderblich“ – weil völlig unrealistisch: „Wäre uns gezeigt worden, dass man das Glück durch eine künstliche Organisation oder, indem man Brüderlichkeit verordnet, auf ewig auf die Erde herabbringen kann“, dann würde auch er sich dafür einsetzen. Doch wie soll das gehen – die Menschen dadurch glücklich machen, dass ihnen die Wohltätigkeit durch Zwang auferlegt wird? „Das Opfer, das den einen zu Gunsten anderer über die Steuern auferlegt wird, verdirbt offensichtlich den Charakter der Brüderlichkeit.“
Eine Gesellschaft kann nicht glücklich werden, wenn der Dienst zum Wohl des Nächsten erzwungen wird. „Wenn sie [die Brüderlichkeit] frei ist, spontan, freiwillig, erkenne ich sie an und spende ihr Beifall. Ich bewundere das Opfer um so mehr, je vollständiger es ist“. Aber wenn die Brüderlichkeit durch das Gesetz auferlegt wird, wenn „die Früchte der Arbeit über das Gesetz verteilt werden“, dann ist man der Willkür des Gesetzgebers ausgeliefert und von wahrem Glück keine Spur. Man kann eben nicht per Gesetz verordnen: „kein Egoismus mehr“. Schön wäre es, doch es ist arg zu bezweifeln, „dass die Menschheit auf so kurzem und leichtem Wege zu Vollkommenheit und Glück gelangt“.
(Auch der Philosoph Popper [1902–1994] hielt den Wunsch, die Menschheit glücklich zu machen, für ein gefährliches Ideal. In einem Interview, ganz im Sinne Bastiats: „Natürlich soll man sich bemühen, seine nächsten Freunde glücklich zu machen, aber nicht ‘die Menschheit’. Der Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten, produziert stets die Hölle. Die Leute, die sich einbilden, daß sie die Menschheit glücklich machen können, sind sehr gefährliche Menschen.“)
Bastiat spricht außerdem den zugrunde liegenden Fehler der Sozialisten an: Die Idee, „dass die Regierung und die Gesellschaft ein und dasselbe sind“. Er nennt sie unverblümt die „falscheste und unheilvollste Idee die es je gab“. Bastiat dagegen betont, „dass die Gesellschaft mehr umfasst als das Gesetz, dass außerhalb und jenseits des Gesetzes sehr viele Taten vollbracht werden und eine Flut von Gefühlen strömt.“
Er betrachtet schließlich die Folgen der beiden unterschiedlichen Ansätze. In seinem liberalen Gesellschaftsentwurf kümmern wir als Bürger uns „um unsere Arbeit, um unsere Geschäfte, um unsere Bildung, um unseren Fortschritt, um unseren Glauben“; dem Staat wird gesagt: „Eure einzige Aufgabe wird sein, uns alle und unter allen Umständen in den Grenzen unseres Rechtes zu halten“, und zwar durch Verhinderung und Unterdrückung von „Diebstahl, Betrug, Strafdelikten, Verbrechen, Gewalttaten“. Die Aufgabe der Obrigkeit istes, „unter den Bürgern Gerechtigkeit herrschen zu lassen“, so dass in der Folge der Herrschfts- und Verwaltungsapparat klein bzw. einfach ist. Vor allem Sicherheit wird so geschaffen; Wohlstand und Frieden sind Folge.
Im alterativen sozialistischen Modell hat der Staat zu viele ihm eigentlich fremde Aufgaben übernommen – mit entsprechenden Folgen: „Heute, wo man im Prinzip davon ausgeht, dass der Staat die Aufgabe hat, den Reichtum an alle zu verteilen, fordert man von ihm natürlich eine Einlösung dieser Zusage. Um es zu halten, vervielfältigt er die Steuern und schafft mehr Elend, als er heilt.“ Folgende Sätze sind geradezu prophetisch: „Die öffentlichen Finanzen werden schnell vollkommen in Unordnung geraten. Wie könnte es anders sein, wenn der Staat auf sich nimmt, alle mit allem zu versorgen? Das Volk wäre erdrückt von Steuern, man emittiert eine Anleihe nach der anderen, nachdem man die Gegenwart erschöpft hat, verschlingt man die Zukunft.“ Da der Staat seine Hauptaufgaben – Sicherheit, rechtlicher Schutz – wegen der Aufgabenlast vernachlässigt und Abgabenwillkür herrscht, ist das Resultat dieses: „eine entsetzliche Unsicherheit, eine tödliche Unsicherheit [wird sich] über den ganzen Bereich der privaten Aktivität ausbreiten.“
Bastiat formuliert seinen Hauptgedanken immer wieder neu: Wird Brüderlichkeit gesetzlich verankert, führt dies zu Ungerechtigkeit. Denn „die Brüderlichkeit kann Milliarden unbekannter Formen annehmen“; wenn sie durch Gesetze vorgeschrieben wird, kann sie daher „Milliarden unvorhergesehene Dekrete hervorbringen“. Es ist also schädlich, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit auf diese Art zu vermengen, und es ist nicht nötig: „Gibt es im Menschenherzen nichts als was der Gesetzgeber dort hineingelegt hat?“ Natürlich nicht. Das Gesetz fordert ‘nur’ Gerechtigkeit, doch damit wird ja nicht verboten, sich um die Wohltätigkeit zu kümmern. Selbstaufopferung und Barmherzigkeit verschwinden nicht, wenn sie nicht vom Gesetz als Pflicht auferlegt werden – im Gegenteil. Sie erhalten den nötigen Freiraum. „Auf welches geschriebene Gesetz, auf welchen Eingriff der Regierung muss man die Gründung des Christentums zurückführen, den Eifer der Apostel, den Mut der Märtyrer…?“, so fragt Bastiat. Gegen Ende macht er deutlich, dass diese Ordnung von Gott gewollt ist; Er hat es so eingerichtet, „dass die beste Bedingung für Fortschritt Gerechtigkeit und Freiheit ist.“
Werfen wir noch einen Blick auf die Bibel und Theologie. Paulus bestätigt in Röm 13,1–7, dass zu den Hauptaufgaben des Staates der Kampf gegen das Böse und dessen Einschränkung gehört, konkret die Bestrafung der Übeltäter und Gesetzesbrecher (s. auch 1 Pt 2,13–14). Auf der Ebene der persönlichen Moral und Tugend ist jeder selbst zum Kampf gegen das Böse (zu allererst in einem selbst) verpflichtet; auch Familien und Kirchen haben hier ihre Aufgabe. Doch wir Christen und einfache Bürger sind nicht verpflichtet, mit Mitteln der Gewalt gegen das Böse zu kämpfen (Röm 12,19). Dies tut vielmehr der Staat. Eine der wichtigsten Aufgaben des Staates ist daher die innere Sicherheit, hinzu kommt der Schutz der Bürger vor Gefahren von Außen, z.B. anderen Staaten. Damit der Staat die Schuldigen zur Verantwortung ziehen kann (Röm 13,4), muss er ein funktionierender Rechtsstaat sein, d.h. die gute Arbeit von Richtern gewährleisten und Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Recht garantieren (so dass Verbrecher auch wirklich bestraft werden). Durch all diese Maßnahmen sorgt der Staat für Ruhe, Ordnung und Frieden (s. 1 Tim 2,2).
Augustinus betonte den letzten Punkt in seinem Gottesstaat. Der Staat hat vor allem die Aufgabe, den Frieden aufrechtzuerhalten (XIX,17), den „irdischen Frieden“ (XV,4), und dieser besteht vor allem „in der geordneten Eintracht der Bürger“ (XIX,13). Die Obrigkeit soll die äußeren Folgen der Sünde der Menschen, Ungerechtigkeit und Gewalt, eindämmen und Frieden und Gerechtigkeit zumindest im irdischen/zeitlichen Sinn herstellen. Den Egoismus in der Gesellschaft schränkt er so ein, beugt dem Kampf aller gegen aller vor. Dies alles muss auf geordnete Weise geschehen, d.h. im Rahmen des Rechts. „Rechtsgleichheit“, so der Kirchenvater, ist nötig, denn nur dann kann von einem Staat im eigentlichen Sinne die Rede sein, wenn er „gut und gerecht“ regiert wird (also nicht durch einzelne Tyrannen oder eine Volkstyrannei, II,21.29). Der Staat hat also keinerlei religiöse Funktion (wie noch in der Antike), und auch nur eine eher indirekte moralische Funktion (da Gesetze immer auch moralisch Maßstäbe setzen). Theologe Jan Rohls: „Die Ausrichtung des Staates auf die Glückseligkeit und Vollkommenheit des Menschen fällt weg und damit auch die Vorstellung vom Staat als eines ethischen Erziehungsinstituts“ (Geschichte der Ethik).
Diese Lehre wurde in den christlichen Kirchen weitgehend übernommen. So heißt es auch im Zweiten Helvetischen Bekenntnis (1566): „Vornehmste Aufgabe der Obrigkeit ist es, für den Frieden und die öffentliche Ruhe zu sorgen und sie zu erhalten…. Die Rechtsprechung übe sie gerecht aus. sehe nicht die Person an und nehme keine Geschenke entgegen. Witwen. Waisen und Bedrängten stehe sie bei; Ungerechte, Betrüger und Gewalttätige halte sie in Schranken…“ (XXX,2–3).
Die Bibel bestätigt also Bastiats Auffassung, dass der Staat für die Aufrechterhaltung der äußeren Gerechtigkeit zuständig ist. Sie kennt auch die Unterscheidung von Liebe und Gesetz (entsprechend Bastiats Gerechtigkeit und Brüderlichkeit), die aber in keinem Gegensatz zueinander stehen. Schon Hiob 23,12 macht deutlich, dass es einen Bereich der Pflicht und einen der Liebe gibt, der in gewisser Weise darüber hinaus geht. Liebe ist mehr als das Gesetz. Das Gesetz schützt die Ehe vor Ehebruch, Hass, Missbrauch und Gewalt usw., wahre eheliche Liebe erfüllt das Gesetz. Und doch umfasst ehelich Liebe natürlich wesentlich mehr, eben all das, was die Ehepartner aus Liebe füreinander tun und im Gebot nicht direkt vorgeschrieben ist.
Die Brüderlichkeit kennt keine Grenze, so Bastiat. Das, was das Gesetz fordert, kann man einhalten, aber „Meilės nebus per daug“ (Liebe gibt es nie zu viel, Lied der lit. Gruppe „Fojė“). Dies macht Paulus in 1 Thess 4,9–10 deutlich. Der Apostel lobt die Thessalonicher, ermahnt sie aber auch: „Dass euer Verhalten untereinander von Liebe bestimmt sein soll, brauchen wir euch nicht zu schreiben…, und das befolgt ihr ja auch gegenüber allen Geschwistern in ganz Mazedonien. Trotzdem möchten wir euch eindringlich bitten, Geschwister: Lasst eure Liebe zueinander noch stärker werden!“
Interessant ist, dass Paulus nach den Versen zur Obrigkeit in Röm 13,1–7 einen Abschnitt über die Liebe hinzufügt. Der Staat sorgt für die Bestrafung der Verbrecher, Schutz der Bürger und den Rechtsstaat, damit Menschen in Liebe zusammenleben und freundschaftlich und aufopfernd miteinander umgehen können. In diesem Sinne ist das indirekte Ziel des staatlichen Handelns die Liebe, die er selbst nicht schaffen kann und soll. Er sorgt aber für die Bedingungen, also den Rahmen, in dem diese entstehen und gedeihen kann. Bastiat sah dies genauso.
Der gerechte Staat beschränkt sich also auf seine gottgegebene Aufgabe, das böse Werk zu bestrafen und Gerechtigkeit und Frieden zu garantieren. Er regiert durch Gesetze und durch Bestrafung ihrer Übertretung. Er verurteilt auf gerechtem Wege nur die Werke, nicht das Denken der Menschen. Dies bedeutet, dass der Staat nicht das Gute oder das Glück schaffen kann.
Es sei hier nur kurz erwähnt, dass zwei Generationen nach Bastiat der Niederländer Abraham Kuyper ganz Ähnliches lehrte. Auch er wirkte als Journalist (neben seiner Tätigkeit als Theologe und Politiker) und unterschied streng zwischen Staat-Regierung und Gesellschaft. „Die höchste Pflicht der Regierung bleibt die Gerechtigkeit“, so Kuyper, Anfang des 20. Jhdt. Premier in seiner Heimat und einer der Köpfe der „neo-calvinistischen“ Bewegung. Er warnte scharf vor einem allmächtigen Staat: „Der Staat darf nicht zu einer Krake werden, die das gesellschaftliche Leben erstickt“ (Lectures on Calvinism).
Zitieren wir zum Abschluss dieses Abschnitts nur noch Udo Di Fabio, bis Ende 2011 Richter am deutschen Verfassungsgericht, der in Kultur der Freiheit ähnlich wie Bastiat schreibt: „Wenn die Idee der Gleichheit nicht das Leitprinzip der Freiheit beschädigen soll, muss Gleichheit im wesentlichen auf Rechtsgleichheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, beschränkt und das heißt heute wieder zurückgeführt werden.“ Di Fabio stimmt mit Bastiat darin überein, dass es keineswegs Hauptaufgabe des Staates ist, aus einer Haltung der Brüderlichkeit für Gleichheit zu sorgen:
„Wen es schmerzt, dass die Ungleichheit [des Wohlstands] zu krass wird, wen Mitleid packt, wenn er den Gescheiterten, den Hilflosen sieht, der handelt nicht, um Gleichheit herzustellen, sondern aus Brüderlichkeit. Die Nächstenliebe ist systematisch etwas anderes als Gleichheit. Sie ist die Freiheit, im Anderen den gleichen Menschen zu erkennen und seine Würde nicht… missachtet zu sehen.“
Ausgleich von wirtschaftlichen Ungleichheiten durch den Staat ist daher die Ausnahme. Umverteilung von Reichtum ist nur gerechtfertigt, um einen „Mindeststandard menschenwürdiger Existenz und den friedlichen Zusammenhalt der Bürger zu gewährleisten“. Alle anderen Initiativen der Brüderlichkeit sind der Freiheit der Bürger überlassen. Der „Mindeststandard menschenwürdiger Existenz“ entspricht in etwa der Nothilfe, die auch Bastiat nennt und gegen die auch F.A. von Hayek nichts einzuwenden hatte.
[…] klar dargestellt: die Brüderlichkeit oder Nächstenliebe kennt keine Grenzen (s. ausführlich hier). Hier gibt es kein Zuviel. Trennt man dies nicht klar vom staatlichen Handeln und den Steuern, […]
[…] Kritik unterzogen (wobei auch er damit in einer Traditionslinie steht; s. Frédéric Bastiats „Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“ aus dem 19. Jhdt.). Der Gerechtigkeitsbegriff wird heute in fataler Weise überdehnt, so der […]
[…] und Brüderlichkeit werden so durcheinander gemengt, so schon Frédéric Bastiat (1801–1850; s. hier). Die Sozialisten, so der französische Ökonom, verfolgen den „Plan, das Glück der Menschheit […]
[…] oder in teurer Hofhaltung verprasst werden. Doch schon Frédéric Bastiat (1801–1850, s. auch hier) stellte in seinem berühmten Aufsatz „Was man sieht und was man nicht sieht“ fest, dass man […]
[…] des 19. Jahrhunderts im gleichnamigen Aufsatz hingewiesen hatte, wird kaum noch getroffen (hier und hier mehr […]
[…] wieder, die schon eineinhalb Jahrhunderte zuvor Frédéric Bastiat [1801–1850] formulierte, hier […]
[…] Obwohl über 150 Jahre alt, zeichnen sich Bastiat Werke bis heute durch ihre gute Lesbarkeit aus: präzise und prägnant, eindeutig und klar, bildreich und anschaulich, bissig und manchmal provokativ schrieb der Franzose über die brennenden Themen seiner Zeit. Er zeigte so auch großes didaktisches Talent. Sein „Was sichtbar und was unsichtbar ist“ kann tatsächlich als eine Einführung in die Volkswirtschaft in einer Lektion bezeichnet werden. „Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“ (1848) ist ein Muss für alle, die sich mit Sozialethik und konkret dem Problem der Armut beschäftigen (s. hier). […]