Die Vergiftung der Sprache

Die Vergiftung der Sprache

Friedrich Nietzsche beantwortete im Aufsatz „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ (1873) die Frage „Was ist also Wahrheit?“ wie folgt: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen… die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben…“

Die Saat des deutschen Philosophen ist inzwischen aufgegangen. Auch viele Christen haben sich nun ihr eigenes Wahrheitskonzept zusammengebastelt. So befasst sich Arnd Brummer, Chefredakteur des deutschen kirchlichen Monatsmagazins „chrismon“, mit dem Einwand eines Nichtgläubigen, dass die neutestamentliche Pfingstgeschichte doch nur erfunden sei (06/2012). Brummer kann dem nur zustimmen (!) und bekennt, dass diese Geschichte genau deshalb ‘wahr’ sei, weil sie jemand erfunden habe: „Lukas hat sich die Pfingstszene in der Apostelgeschichte ausgedacht und die Bethlehemgeschichte am Beginn seines Evangeliums ebenso. Beide sind historisch nicht belegt. Und dennoch sind sie wahr.“

Das ist heutige Theo-Logik. Brummers originelles Wahrheitskriterium: die emotionale Betroffenheit. „Ich kann glauben, was ich für wahr halte. Und den Wahrheitsgehalt einer Geschichte erkenne ich an ihrer Wirkung, an dem, was sie mir vermittelt – daran, ob sie mich erreicht.“ Der edle Begriff Wahrheit ist vor die Hunde gekommen. Genau aus diesem Grund sah sich Francis Schaeffer (1912–1984) gezwungen, von „true truth“ zu reden, von wahrer Wahrheit…

Interessant ist, dass sowohl Christen wie Schaeffer als auch Nichtgläubige wie Friedrich A. von Hayek um unsere Sprache gerungen haben. Hayek (1899–1992; Bild o. gegen Ende seines Lebens) war einer der wichtigsten Denker im 20. Jahrhundert. Wie auch sein Freund Karl R. Popper (1902–1994) beklagte der aus Wien stammende Brite, dass Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und eben Wahrheit nun ihre einstmals klare Bedeutung verloren haben. In seinem letzten Buch The Fatal Deceit (Die verhängnissvolle Anmaßung) von 1989 über die „Irrtümer des Sozialismus“ sprach Hayek von der „Vergiftung der Sprache“.

Dies Thema beschäftigte Hayek auch schon in seinem ersten großen Werk, dem vor siebzig Jahren in London erschienenen The Road to Serfdom (Der Weg zur Knechtschaft) – eine prägnante und scharfe Abrechnung mit dem Sozialismus und der Planwirtschaft (übrigens auch der Variante der Nazis). Das Buch machte seinen Autor auf einen Schlag einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Dort beschreibt Hayek in Kapitel XI den „Der Verlust der Wahrheit“. Die Wahrheit ist Grundlage der Moral und natürlich der Kommunikation. Dieser Verlust führte zu einer „völligen Verdrehung der Sprache“. Der Trick war (und ist), „alle Worte beizubehalten, aber ihren Sinn zu verändern“. So wurde nach und nach die ganze Sprache zerstört. Es bleibt eine leere Hülle, so dass ein Wort oftmals das Eine wie dessen Gegenteil bedeutet. Man hält jedoch gerne den Begriff bei – wegen seiner positiven emotionalen Assoziationen. Ein Beispiel ist natürlich das Wort „Freiheit“, das gerade damals von den Tyrannen auf der Linken wie Rechten missbraucht wurde. Für Hayek, in der Linie der „großen Apostel der politischen Freiheit“, bedeutet dies noch ganz eindeutig Befreiung von Despotie und willkürlichem Zwang.

Unter die Räder ist natürlich auch der Begriff der „Gerechtigkeit“ geraten. In der vergangenen Woche stellte die Arbeitsministerin der Bundesrepublik „das neue Rentenpaket“ vor, dazu das Motto: „So packen wir Gerechtigkeit“. Mehr als Dreiviertel der Bevölkerung finden es gut, wenn man unter bestimmten Bedingungen schon mit 63 in Rente gehen kann. Und vor einigen Tagen meldete „idea“, dass die Micha-Initiative an alle Bundestagsabgeordneten die „Gerechtigkeitsbibel“ verteilen ließ: „Mit der Bibel für Gerechtigkeit sorgen“. So viel Gerechtigkeit war lange nicht – alles wunderbar? Die Schlagzeile, dass das „gerechte“ Rentenpaket, von einer demokratischen Mehrheit getragen, bis 2030 zusätzliche 160 Milliarden kosten wird, versendete sich.

Die Begriffe Gerechtigkeit und Demokratie erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Die Idee der Gerechtigkeit ist für Hayek inhaltlich das gleiche wie für Popper nämlich vor allem das Prinzip, dass die gleichen Regeln für alle gelten. Hayek unterstreicht darüber hinaus immer wieder, dass Gerechtigkeit wesentlich aus Verhaltensregeln für den Einzelnen besteht. Dieser kann sich gerecht oder ungerecht verhalten. Sie ist also eine Eigenschaft (und Tugend) des Individuums, das dessen Handeln anleitet. Unsere ganze Moral ist ein System der persönlichen Handlungsregeln, so in Law, Legislation and Liberty (Recht, Gesetz und Freiheit, in drei Bänden 1973/1976/1978). Das Problem der Gerechtigkeit, so Hayek, taucht erst dort auf, wo eine bestimmte Person oder Personen eine Handlung ausführen oder etwas meiden sollen. Streng genommen kann nur menschliches Handeln als gerecht oder ungerecht bezeichnet werden. Reine Tatsachen oder Zustände, die niemand ändern kann und für die auch niemand direkt verantwortlich ist, können gut oder böse sein, der Begriff „gerecht“ paßt hier aber nicht.

Wird z.B. jemand Opfer einer Naturkatastrophe und liegt dabei kein menschliches Versagen vor, so ist dies natürlich ein Übel und wird meist als unfair angesehen (warum muss gerade mir dies passieren?), doch mit Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne hat dies nichts zu tun. Oft werden auch Einkommens- und Wohlstandsunterschiede als ungerecht empfunden, und es kann natürlich sein, dass diese auf ungerechtes Handeln zurückzuführen sind. Doch als solche sind sie nicht ungerecht. Natürlich sah Hayek, dass auch die Handlungen von Organisationen, Einrichtungen, Staaten gerecht oder ungerecht sein können. Das ändert aber nichts daran, dass in diesen Kollektiven einzelne Menschen handeln.

Gerechtigkeit hat es zu tun, so Karen Horn, Leiterin der deutschen Hayek-Gesellschaft in Berlin, mit „Regeln gerechten Verhaltens“ (s. hier). Diese „sind im Grunde nichts anderes als allgemein anerkannte Normen des ‘Das tut man nicht’. Sie ziehen eine Grenze zwischen ‘Erlaubt‘ und ‘Untersagt’, zwischen ‘Mein’ und ‘Dein’. Die ältesten bekanntesten Klassiker solcher Regelungen, die überzeitlich Geltung beanspruchen können, sind die sieben lebensweltlichen Vorschriften der Zehn Gebote, die von ‘Du sollst nicht töten’ (fünftes Gebot) bis zu ‘Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut’ (zehntes Gebot) reichen.“

„Gerechtigkeit heißt Wiederherstellung“, so lesen wir heute bei Theologen. Sie wird mit Zuneigung, Barmherzigkeit oder Gnade vermischt. Allgemein gilt sie fast schon als Synonym für allerlei Wohltaten und die Armutsbekämpfung überhaupt. Gerechtigkeit und Brüderlichkeit werden so durcheinander gemengt, so schon Frédéric Bastiat (1801–1850; s. hier). Die Sozialisten, so der französische Ökonom, verfolgen den „Plan, das Glück der Menschheit herbeizuführen“. Aufgabe des Staates ist jedoch nur, „uns alle und unter allen Umständen in den Grenzen unseres Rechtes zu halten“, und zwar durch Verhinderung und Unterdrückung von „Diebstahl, Betrug, Strafdelikten, Verbrechen, Gewalttaten“. Die Aufgabe der Obrigkeit ist es, „unter den Bürgern Gerechtigkeit herrschen zu lassen“, so dass in der Folge der Herrschafts- und Verwaltungsapparat klein bzw. einfach ist.

Hayek steht in dieser Linie des klassischen Liberalismus. Für ihn besteht die Aufgabe des Staates darin, „eine Rahmenordnung zu schaffen, in der Einzelpersonen und Gruppen erfolgreich ihre jeweiligen Ziele verfolgen können… Zwang ist nur gerechtfertigt, um solch eine Rahmenordnung zu errichten, in der jeder seine Fähigkeiten und Kenntnisse für seine eigenen Zwecke nutzen kann, solang er nicht die gleichermaßen geschützten individuellen Sphären anderer beeinträchtigt.“

Die wesentliche Stärke der Demokratie sieht er genauso wie Popper darin, „dass sie uns als vorbeugende Maßnahme gegen Machtmissbrauch dient. Sie befähigt uns, eine Regierung loszuwerden und zu versuchen, sie durch eine bessere zu ersetzen.“ Er warnt jedoch davor, sie gleichsam zu vergöttern, denn sie ist „bei weitem nicht der höchste Wert“. Seine Kritik: „In ihrer heute unbeschränkten Form hat die Demokratie weitgehend die Fähigkeit eingebüßt, als Schutz vor willkürlicher Gewalt zu dienen. Sie bietet keine Sicherung der persönlichen Freiheit mehr, keine Schranke gegen den Machtmissbrauch der staatlichen Gewalt.“

Hayek hat den wunden Punkt moderner Demokratien genau erfasst. Der Staat sieht seine Aufgabe darin, möglichst Vielen möglichst viel Gutes zu tun und konkret den Reichtum gerecht an alle zu verteilen, er geht also weit über die Schaffung einer Rahmenordnung hinaus. Wo soll das Problem sein, wenn alles demokratisch zugeht? Hayek weist auf eine falsche Vorstellung von Souveränität des Volkes hin. Er lehnt den Glauben ab, „dass diese höchste Quelle der Macht eine unbeschränkte sein muss“; auch die „höchste Macht“ soll dem „Gerechtigkeitstest unterliegen“. Heute dagegen meint man, der „Mehrheit des Volkes oder deren gewählten Vertretern“ stehe es frei „zu beschließen, worauf immer sie sich einigen können“ – die demokratische Herrschaft kommt sich „allmächtig“ vor.

Um an der Macht zu bleiben, muss die Mehrheit sich um die „Beschwichtigung und Belohnung der Interessengruppen“ kümmern, und die Demokratie verkommt so zu einem „Prozess des Stimmenkaufs“. Hayek: „Inzwischen wissen wir, dass gerade die Allmacht, mit der man die Abgeordnetenversammlung ausgestattet hat, diese einem unwiderstehlichen Druck aussetzt, ihre Macht zugunsten von Sonderinteressen zu gebrauchen – ein Druck, dem eine Mehrheit mit uneingeschränkten Befugnissen nicht widerstehen kann, wenn sie in der Mehrheit bleiben will.“

Sehr nahe rückt uns dies im Bereich der Finanzen. Das Prinzip, dass eine Mehrheit das Recht hat, einer Minderheit Steuern aufzulegen, die diese selbst nicht zahlen braucht, muss zwangläufig zu einer immer weiteren Steigerung der öffentlichen Ausgaben führen. Hayek prophezeite: „Die öffentlichen Finanzen werden schnell vollkommen in Unordnung geraten. Wie könnte es anders sein, wenn der Staat auf sich nimmt, alle mit allem zu versorgen? Das Volk wäre erdrückt von Steuern, man emittiert eine Anleihe nach der anderen, nachdem man die Gegenwart erschöpft hat, verschlingt man die Zukunft.“

Des einen Sonderinteressen werden bedient, und die anderen werden an der Nase herumgeführt: „Nun wurde aber die ganze Finanzpolitik in dem Streben entwickelt, den Steuerzahler zu überlisten, ihn mehr, als ihm bewusst ist, zahlen zu lassen und ihn dazu zu bewegen, Ausgaben zuzustimmen – in dem Glauben, dass jemand anderer dafür werde zahlen müssen.“

Markus Feldenkirchen scheint Hayek gelesen zu haben, wenn er im aktuellen „Spiegel“ schreibt: „Etwas blöd ist nur, dass all diese passgenauen Gerechtigkeitsrenten finanziert werden müssen. Die Große Koalition unternimmt bislang größte Anstrengungen, um dieses Problem zu verschleiern. Sie stiftet gezielt sprachliche Verwirrung und denkt sich immer seltsamere Begriffe rund um die Rente aus – in der Hoffnung, dass jüngere Beitragszahler nicht mehr durchblicken und auch weiter brav bezahlen“. (6/2014)

Intelligente Volkswirtschaftler wie z.B. Thomas Mayer, Ex-Chefökonom der Deutschen Bank, schätzen Hayek. Doch dies nährt natürlich nur Verschwörungstheorien: Hayek sei eine Marionette der Hochfinanz. Gemeinwohlfans und Globalisierungsgegner schmähen ihn gern als Ideengeber von Margaret Thatcher; Hayek wird als Buhmann des Neoliberalismus gebrandmarkt, ja hier und da wird er fast schon zu einem Dämon (vielleicht auch deshalb, weil er allen sozialistischen Weltverbesserern die Maske heruntergerissen hat?).

Sei’s drum. Hayek machte konkrete Vorschläge für ein Mehrkammersystem, um die Allmacht der Regierenden und ihrer Mehrheit zu begrenzen. Zu Beginn eines Kapitel in Recht, Gesetz und Freiheit zitiert er John Trenchard aus dem Jahr 1721 in Cato’s Letters – einfache Forderungen mit großer Weisheit, die sich an der Gerechtigkeit orientieren und wahre Demokratie ermöglichen:

„Wenn sie [die Abgeordneten] keine Gesetze erlassen können, außer solchen, denen auch sie und ihre Nachkommen gehorchen müssen; wenn sie kein Geld ausgeben können, außer dem, zu dem sie ihren Anteil beitragen müssen; wenn sie kein Unheil anrichten können, das nicht zugleich mit ihren Landsleuten auch sie selbst treffen muss, dann dürfen ihre Wähler gute Gesetze, geringes Unheil und große Sparsamkeit erwarten.“