Was ist die Bibel? – Einblicke in den evangelikalen Liberalismus

Was ist die Bibel? – Einblicke in den evangelikalen Liberalismus

Artikel 2 der Lausanner Verpflichtung spricht von der „göttlichen Inspiration“ der Bibel und ihrer „gewiss machenden Wahrheit und Autorität“. Das „einzig geschriebene Wort Gottes“ ist „ohne Irrtum in allem, was es verkündigt, und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und Lebens.“ Das Dokument aus dem Jahr 1974, weitgehend verfasst von John Stott,  formuliert in dem Artikel die traditionelle protestantische Sicht der Bibel neu. Auch nach vierzig Jahren ist „Lausanne“ immer noch eine der wichtigsten theologischen Klammern der evangelikalen Bewegung, Teil der Glaubensgrundlage vieler Werke, Einrichtungen und Seminare. Der in der Verpflichtung umrissene Konsens wird nun jedoch von innen immer mehr aufgeweicht.

Man betrachte nur Rolf Krügers ausführlichen Beitrag „Ich will die Bibel mit Verstand lesen (dürfen)…“ auf seinem Blog in der vorvergangenen Woche, verlinkt von der jesus.de-Seite des Bundesverlages der FeG (Teil der SCM), deren Redakteur Krüger ist. Anlass seines Artikels war ein Beitrag Michael Dieners für die Zeitschrift “Zeitzeichen” zur Frage nach dem Bibelverständnis. Der Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung kritisiert, so Krüger in seiner Einleitung, „dass die Bibel für Protestanten profan geworden sei, weil sie dank historisch-kritischer Exegese wissenschaftlich ‘stranguliert’ worden wäre, dass man in der EKD zu wenig Rücksicht auf den biblischen Wortlaut nehme und mehr die Vernunft als der heilige Geist zu Rate gezogen werde. Kurz: Die Bibel werde nicht mehr als Gottes Wort gesehen. Aber die Frage ist doch: was dürfen wir von der Bibel erwarten? Und viel wichtiger: was erwartet sie von uns? Eine freundliche, aber bestimmte Gegenrede.“

Bis auf einige unnötige Seitenhiebe auf die Fundamentalisten ist an Dieners Ausführungen nichts auszusetzen, im Gegenteil. Eine kenntnisreiche und präzise Analyse. Warum eigentlich eine evangelikale (dem Lager rechnet sich Krüger ja zu) „Gegenrede“?  Sicher vor allem deshalb, weil er den bisherigen – so muss man ja schon sagen – Konsens der Schrift verlassen hat. Daher noch eine Gegenrede.

Texte, die Gottes Geist atmen

Es geht vor allem auch um die von Diener kritisierte historisch-kritische Methode (HKM) der Bibelauslegung und damit um das Bibelverständnis an sich. Vor vierzig Jahren rief Gerhard Maier ihr „Ende“ aus, was keine Vorhersage sein, vielmehr ihr Versagen unterstreichen sollte. Ähnlich scharf Rolf Hille vor einigen Jahren in einem „idea“-Interview: Die HKM steht am „Anfang einer tiefgreifenden Krise“ der Kirchen; sie ist „keine Erfolgsgeschichte“ und hat zur Ausblutung des kirchlichen Lebens beigetragen (s. hier).

Krüger jedoch will die HKM nicht als Wurzel vieler Übel ansehen: „Ist die historisch-kritische Methode schuld an der fehlenden Frömmigkeit in vielen evangelischen Christenherzen? Oder ist sie vielleicht einfach von denjenigen besonders dankbar rezipiert worden, die sich eh schon längst innerlich von einem lebendigen Glauben gelöst hatten und die nun endlich ihrer Entkehrung eine wissenschaftliche Grundlage geben konnten?“

Ihm scheint dagegen der Einsatz dieses Werkzeuges „sehr wichtig“, eines Werkzeuges, das an sich ganz neutral und ideologiefrei ist, „das in den falschen Händen zu allem möglichen Unfug missbraucht werden kann. Wer historisch-kritische Forschung bewusst mit dem Ziel anwendet, den lebendigen, persönlichen und auch fordernden Gott zu zähmen oder ganz zu verwerfen, weil man die eigenen Schwierigkeiten mit einem solchen kaschieren will, dem wird das mit Bravour gelingen. Das ist traurig, aber es ist nicht die Schuld des Werkzeugs.“

Dann nähert sich Krüger der Kernfrage, und hier kommt er gleich zur Sache: „Was ist denn die Bibel? Das Wort Gottes, sagen Christen meist reflexartig. Zunächst einmal aber ist sie eine Sammlung von Texten, in denen Menschen ihre Erfahrungen und Ansichten nieder geschrieben haben. Christen glauben, dass die Texte Gottes Geist atmen. Das tun sie aber nicht, weil sie zwischen genau diesen Buchdeckeln mit der Aufschrift ‘Bibel’ stecken. Sie tun es auch nicht, weil Gott die Buchstaben diktiert hätte, wie es die Moslems vom Koran glauben. Sie tun es, weil ihre Autoren offensichtliche Begegnungen mit dem lebendigen Gott hatten und man das diesen Texten abspürt. Von diesen Begegnungen wurden die Autoren inspiriert (!) und von ihnen berichten sie uns. Das unterscheidet die Texte aber nicht strukturell von allem, was Gottes Geist bis heute atmen kann: Eine Predigt, eine Erzählung, eine Skulptur, ein Gemälde, ein Buch, ein Theaterstück, ein Gebet, ein gutes Gespräch unter Freunden, ein Erlebnis, ein Blogbeitrag. Was die biblischen Texte besonders macht ist ihre ausgesprochene Qualität, bestätigt von unzähligen Generationen, die inspiriert (!) von diesen Geschichten und Gedanken ihr Leben neu verstanden und änderten. Viele, viele, viele unserer Vorfahren haben erlebt, wie diese Texte zu ihnen gesprochen haben – ja, wie Gott durch diese Texte zu ihnen gesprochen hat. Diese kollektive Erfahrung begründet die Besonderheit der biblischen Texte. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.“

Hier wird, theologisch gesagt, die traditionelle Verbal- und Realinspiration der Bibel vom Tisch gefegt und einzig die Personalinspiration übrig gelassen. Die Autoren der Bibel hatten „Begegnungen mit dem lebendigen Gott“ und zeugten davon. Sicher hatten sie die. Und sicher waren sie vom Geist inspiriert. Aber ist das auch alles?  Krüger betont ausdrücklich, dass sich die Bibel „strukturell“ von anderen Ausdruckformen des Geistes – Formen, die „Gottes Geist bis heute atmen“ – nicht unterscheidet. Die biblischen Autoren bezeugten also in ihren Texten spirituelle Erlebnisse, und im Prinzip in gleicher Weise geschieht dies bis heute in ganz unterschiedlichen anderen Weisen. Die Bibel ist also von ihrem Wesen her keineswegs einzigartig. Sie berichtet, „wie Gott geredet hat“, aber solche Berichte kann es natürlich viele geben. Sie hat sich nur durch ihre „ausgesprochene Qualität“ in der Geschichte als bewährt erwiesen, weil Gott sie benutzt und sie so zu vielen gesprochen und Leben verändert hat. Einzig diese „kollektive Erfahrung begründet die Besonderheit der biblischen Texte“. Einzig die Wirkung hebt sie heraus.

Man kann Krüger für die recht große Eindeutigkeit dieser Sätze nur dankbar sein. Denn hier präsentiert er uns nichts anderes als die klassische liberale Theologie vom Ende des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Herrmann z.B. konnte sich ganz ähnlich, ja fast genauso ausdrücken. Ich sehe hier keinerlei Unterschied zum Bibelverständnis seiner Generation. Eine seltsame Rückkehr der Geschichte. Und mal wieder wird deutlich, dass so ziemlich jede Irrlehre der Kirchengeschichte irgendwann mal wieder auftaucht. Oder nie so recht verschwindet.

Den Verstand ausblenden?

Einzelfall oder Ausrutscher bei Krüger? Keineswegs. Im Abschnitt „Bibel vs. Vernunft?“ betont er natürlich richtig, dass die biblischen Texte „eben nicht vom Himmel gefallen“ sind. Unser Glaube gründe sich nicht auf ein Buch, sondern auf die Person Jesus. „Viele Christen allerdings verklären die Bibel zu einem unantastbaren Heiligtum. Sie darf dann nicht mit offenem Verstand untersucht werden, so als ob man damit ihre Heiligkeit und ihr Potential zerstören würde. Stattdessen wird zur ‘Unterordnung der Vernunft unter die Schrift’ aufgerufen.“ Und weiter: „Ernsthaft? Die Vernunft soll sich unter die Autorität der Bibel fügen? Wie genau soll das funktionieren, ist doch unser Kopf das, was uns überhaupt Zusammenhänge und Inhalte verstehen lässt?“

Krüger betont, dass man die Bibel nicht „in irgendeiner Form losgelöst vom eigenen Denken erfassen“ könne. „Wer von uns kann unter Umgehung  seiner eigenen weltanschaulichen und biografischen Prägungen denken? Wer kann seinen Verstand abschalten und etwas gänzlich neutral interpretieren?“ Den Verstand „ausblenden und die Bibel ‘pur’ lesen“ – ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Bibel müsse „mit offenem Verstand untersucht werden“. Gewiss! Den Verstand ausblenden will und soll keiner. Natürlich brauchen wir ihn, um „Zusammenhänge und Inhalte [zu] verstehen“.  Doch warum sollte damit bewiesen sein, dass die Vernunft sich nicht der Autorität der Bibel unterordnen soll?? Die klassische christliche Position ist doch, dass sich der vom Geist erleuchtete Verstand seinen Grenzen und seiner Positionen unter Gott bewusst wird und sich deshalb Gott und seinem Wort unterwirft. Unterordnung der Vernunft unter die Schrift – ja! Ernsthaft! Was denn sonst! Denn dies heißt doch an sich überhaupt nicht Verwerfung oder Missachtung der Vernunft. Wo soll hier das Problem sein, wenn Gott auch Autor der Schrift ist und sie in diesem Sinne auch göttliche Attribute hat?

Gott ist nicht der einzige Autor der Schrift (Menschen haben sie niedergeschrieben), und es führt auch nicht viel weiter darüber zu diskutieren, ob er der ‘entscheidende’ oder ‘eigentliche’ Autor war oder nicht. Und wieder ist die klassische Position: Menschen sind Autoren der biblischen Texte, und gleichzeitig ist parallel (konkursiv) Gott ihr Autor – aber dies nun sicher nicht nachrangig oder zweitrangig. Nur wenn dies von vornherein ausgeschlossen oder als fragwürdig angesehen wird, macht Krügers Einwand („Ernsthaft?“) Sinn.

Krüger meint nun, dass „diese Selbstbeschneidung“ des Verstandes einher geht mit dem „miteinkalkulierte[n] Wirken des Heiligen Geistes. Den benötigt der Mensch nämlich dann, um ‘die Schrift aufzuschließen’, wenn er seinen Verstand nicht einsetzen darf. Ein nicht ungefährliches Unterfangen…“ Und weiter: „Aber sieht man den Heiligen Geist als einzige Möglichkeit, in der Bibel enthaltene allgemeingültige Wahrheiten richtig zu erkennen, dann setzt man voraus, dass dieser ständig und überall bei der Beschäftigung eines jeden Menschen mit biblischen Texten wirkt und er jede neue (richtige) Erkenntnis initiiert. Das aber behauptet weder die Bibel selbst, noch spiegelt es sich in der Praxis wider.“

Hier wirft er die Dinge wild durcheinander. Im letzten Zitat ist der erste Satz natürlich falsch. Auch ein Nichtgläubiger z.B. kann sicher in gewisser Weise „allgemeingültige Wahrheiten“ in der Bibel richtig erkennen. Auch ohne den Heiligen Geist ist ein bestimmtes Wissen über Inhalte der Bibel möglich (Luthers „äußere Klarheit“), und dies ist echtes Wissen. Nicht „jedes Lesen und jedes Verstehen“ ist vom Glauben abhängig, so G. Maier (Biblische Hermeneutik). Genauso bekräftigt ja Paulus, dass auch der rebellische Mensch bestimmte Dinge von Gott tatsächlich weiß.

Daher setzt natürlich niemand voraus, dass der Geist „ständig und überall bei der Beschäftigung eines jeden Menschen mit biblischen Texten wirkt“. Aber er ist gewiss nötig, um ein volles Verständnis der Schrift zu erhalten. Ohne die Erleuchtung durch Gottes innere Offenbarung bleiben die Augen gleichsam verklebt. Dieses Wirken ist also durchaus miteinzukalkulieren, aber es tritt nun nicht in Konkurrenz zum Verstand. Der Geist wirkt ja allermeist mit und durch den menschlichen Verstand, nicht an ihm vorbei. Johannes Calvin betonte, dass das Zeugnis der Bibel „nicht eher im Menschenherzen Glauben finden [wird], als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist… Dass die Schrift von Gott kommt, das glauben wir, weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, nicht aber auf Grund des eigenen Urteils oder desjenigen anderer Leute.“ So kommen wir zu der Überzeugung, „dass hier Gott in Person redet“. (Inst. I,7,4–5)

„Wollte Gott vielleicht gar keine so klare Sprache sprechen?“

Krüger daraufhin: „Bleibt noch eine andere Möglichkeit: Wollte Gott vielleicht gar keine so klare Sprache sprechen? Oder anders gesagt und frei nach dem Motto ‘Taten sprechen lauter als Worte’: Zieht es Gott vor, uns etwas vorzuleben statt uns etwas vorzuschreiben? Und ist deshalb Jesus in die Welt geboren worden und nicht ein Buch vom Himmel gefallen?“

Wieder baut er falsche Gegensätze auf. Gott hat sich in besonderer Weise Einzelnen oder Gruppen von Menschen durch machtvolle Taten offenbart. Höhepunkt der Heilsgeschichte ist die Inkarnation des Sohnes Gottes und dessen Taten. Aber ohne Worte, die von diesen Tatsachen berichten, sie deuten und erklären, keine Lehre und keine Rettung und kein Christentum. Ohne Worte wäre Jesu Tod am Kreuz nur das Sterben irgendeines Galiläers zu Zeiten des Pilatus gewesen. Worte erklären uns: dieser starb dort für deine Sünden. Ja, das Evangelium ist im Kern eine Person; aber genauso gilt auch: ja, das Evangelium ist im Kern ein Versprechen, eine Zusage, die aus Worten besteht. Hier besteht keinerlei Gegensatz.

Und wieso sollte Gott uns nichts vorschreiben? Natürlich wurde uns etwas vorgelebt, ein Beispiel vor Augen gestellt. Aber schon für dies Vorleben gilt doch: soll ich mir diesen Jesu zum Vorbild nehmen? Das Nacheifern ist doch ein Gebot, eine Vorschrift! Nein, Gott zieht gar nichts vor; er lebte in seinem Sohn vor und er schreibt vor.

„Wollte Gott vielleicht gar keine so klare Sprache sprechen?“ Sollte Gott wirklich klar gesprochen haben? Ja sollte Gott irgendetwas klar gesagt haben? Diese Umformulierungen in Richtung von Genesis 3,1 sind bewusst gemacht, um etwas von der Brisanz solcher Fragen zu verdeutlichen. Ich kann in Krügers Sätzen nichts, aber auch gar nicht Reformatorisches erkennen, denn die Reformatoren betonten ja einmütig die Klarheit der Schrift. Man betrachte nur zum Vergleich Calvins kurzes, aber brillantes Kapitel in Institutio I,6. Die spezielle Offenbarung in der Schrift ist notwendig, weil sie nämlich Klarheit schafft. Denn die allgemeine Offenbarung zeigt uns nur die „Umrisse“ von Gottes Wesen; wir brauchen ein „besseres Mittel“: Gott hat uns „das Licht seines Wortes hinzugegeben, um sich dadurch zu unserem Heil kundzumachen“; „so bringt die Schrift unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung, zerstreut das Dunkel und zeigt uns deutlich den wahren Gott“.

Hier wird einmal wieder deutlich, welche besondere Gefahr ein falscher Mystizismus darstellt. Die Mystik ist meist mit einer allgemeinen Verachtung der Worte verbunden. Das Wesentliche der Religion und des Glaubens liege jenseits der Worte. Gerade die nun auch im Westen immer populäreren östlichen Religionen propagieren dieses Denken. Und selbst unter den Christen reden junge Leiter und Autoren wie Rob Bell oder Pete Rollins einem neuen Mystizismus das Wort.

Wie ernst die Sache ist, zeigte auch Krügers Beitrag „Das Evangelium in 30 Sekunden“ auf dessen Blog. Seinen Text über die Versuche, das Evangelium „in neue, für die heutige Zeit verständliche und relevante Worte zu gießen“, beendet Krüger interessanterweise jedoch mit diesem Resumee: „Ich bin mehr überzeugt denn je: Es ist nicht möglich, das Evangelium in 30 Sekunden zu erklären. Auch nicht in einer Predigt oder einem knappen Text.“ Da bleibt dann eben nur das Vorleben. Diese Haltung ist nichts anderes als pseudodemütig und pseudofromm (und Resultat einer postmodernen Philosophie). Die Bibel selbst kennt nämlich durchaus knappe Zusammenfassungen und kurze Erklärungen, so dass auch bis heute je nach Situation und Zweck wenige Worte reichen können. Und wenn es sein muss, reichen auch knappe drei Sekunden: Gott rettet Sünder.

James I. Packer, Francis A. Schaeffer u.a. betonten immer wieder, dass Worte, menschliche Sprache als solche, durchaus göttliche Wahrheiten, ja Gott selbst mitteilen können. Sie widersprachen damit einer heute weitverbreiteten Skepsis gegenüber der Möglichkeit, wirkliche Wahrheit mit Worten mitzuteilen. Denn Sprache ist völlig angemessen, weil Personen kommunizierende Wesen sind. Gott ist Person und Menschen sind Personen, weshalb verbale Kommunikation nichts Nachrangiges ist. Je weniger persönlich das Gottesbild, desto unwichtiger wird daher auch die rationale Theologe in Wörtern und die verbale Verkündigung (der Buddhismus ist ja ein Beispiel).

„Die Liebe steht über allem“

Krüger meint nun, dass es „zwei Möglichkeiten“ gäbe. „Entweder wir attestieren Gott, versagt zu haben beim Übermitteln einer klaren Botschaft“, und dieses Versagen zeigt sich für ihn durch die vielen sich oftmals widersprechenden Bibelauslegungen. Gott habe aber gar nicht versagt, weil er diese klaren Botschaften gar nicht übermitteln wollte: „Oder wir lassen uns auf den Gedanken ein, dass es Gott gar nicht daran liegt, viele exakte und ewig gültige Botschaften zu verkünden. Außer ein paar ganz grundlegenden Dingen vielleicht: Die Liebe steht über allem. Es gibt Hoffnung über den Tod hinaus. Punkt. Deshalb auch kein Buch im Zentrum, sondern ein Mensch. Deshalb wenig Worte und viele Taten. Deshalb wenig Lehrstunden und viele Erfahrungen (!) mit dem lebendigen Gott.“

Und wieder der alte Liberalismus, der uns schon Ähnliches weißmachen wollte. Ein paar wenige Kernbotschaften, auf die man sich noch recht schnell einigen könne. Und ansonsten die bis heute bekannte Frage aus dem alten Social-Gospel-Roman In His Steps: What would Jesus do? Das tun, was Jesus womöglich heute tun würde. Eine Regel. Klingt einfach. Doch reicht es wirklich?

Laut Krüger will Gott uns durch Bibel nicht „absolute, göttliche Weisungen für unser Leben“  geben. „Die Bibel ist kein Regelwerk“; Gott wirft nicht mit einem „ermahnenden Buch nach uns“; und noch einmal: „sie ist ein Buch, in dem Menschen von ihren Erfahrungen mit dem lebendigen Gott berichten.“ „Jesu Handeln“ sei „von größter Klarheit“, und – wohlgemerkt – dieses solle „in unsere eigene Lebenswirklichkeit“ übersetzt werden. „Dabei entsteht dann tatsächlich ein vielstimmiges Orchester, weil das für eines jeden Lebenswelt anders aussehen kann. Und trotzdem hören alle auf denselben Dirigenten – nämlich Jesus.“

Doch man vergesse nicht: Deepak Chopra und andere Esoteriker seines Schlages schreiben auch ihre Jesus-Bücher, und mit den paar Grundregeln wie „die Liebe steht über allem“ oder „es gibt Hoffnung über den Tod hinaus “ haben sie genauso wenig Probleme. Sie übersetzen „Jesu Handeln“ in ihre Lebenswelt. Sie ignorieren fleißig das „ermahnende Buch“. Sie hören dennoch irgendwie auf Jesus. Sind sie daher nicht auch ins Orchester aufzunehmen? – Krüger demonstriert hier erschreckende Naivität, ja Dummheit, wenn er all dies dann auch noch als „pfiffigen“ Gedanken Gottes hinstellt.

„Keine Biblisten, sondern Christen“

Krüger kommt schließlich zu einem wichtigen Punkt, den er selbst hervorhebt. Erst fasst er zusammen: „Ich weiß, viele beunruhigt der Gedanke, weil wir es gewohnt sind, die Bibel als ‘Wort Gottes’ zu bezeichnen. Aber die Bibel redet nicht so von sich. Gottes Wort ist nach biblischem Zeugnis zuvorderst eine Person, nämlich Jesus von Nazareth. Durch ihn hat Gott geredet. Durch ihn lernen wir Gott kennen.“

Wir sparen uns hier die Widerlegung der Aussage, die Bibel rede nicht von sich selbst als Wort Gottes. Kursiv nun bei Krüger: „Wir sollten nie der Versuchung erliegen, die Bibel auf dieselbe Ebene wie Jesus zu heben. Diese Unterscheidung ist für mich nicht nur Haarspalterei. Wir sind keine Biblisten, sondern Christen. Wir orientieren uns am Vorbild Jesu, genauso wie die ersten Christen und damit die Verfasser des Neuen Testaments. Von ihnen können wir viel lernen.“ Und gegen Ende: „Was wir brauchen ist keine Überhöhung der Bibel zu etwas, was sie gar nicht ist. Was wir brauchen ist, Jesus wieder in den Mittelpunkt zu stellen.“

Und wieder diese elend falschen Gegensätze! Natürlich sind Christen keine Biblisten, die die Bibel anbeten. Gewiss gab und gibt es auch Christen, die die Bibel hochachten oder gar „überhöhen“, aber den Geist Jesu in der Praxis verachten und ihn aus der Mitte rücken. Und etwas Wahrheit steckt sicher in der scharfen Warnung Krügers. Jesus ist Gott, und das von seinem innersten Wesen her, ganz und gar. Die Bibel ist nicht Gott; sie ist ein geschaffenes Medium. Seinsmäßig ist sie von Gott unterschieden.

Nun ist aber doch schon in der Bibel zu erkennen, dass Gottes Person und seine Worte eng zusammenhängen: Gottes Worte offenbaren Gott (Dt 4,5–8; 2 Tim 3,15); Gottes Geist ist in seinem Wort anwesend (Gen 1,2; Ps 33,6; Jes 34,16; Joh 6,63; 1 Thess 1,5; 2 Tim 3,16); die Nähe Gottes ist die Nähe seines Wortes (Dt 4,5–8; Röm 10,6–8); die Rede Gottes hat göttliche Attribute: wunderbar (Ps 119,129); ewig (Ps 119,89.160); allmächtig (Gen 18,14; Jes 55,11); perfekt (Ps 19,7f); heilig (Dt 31,26; 2 Tim 3,15); wird gepriesen (Ps 34,3; 56,4.10; 119,48; Jes 66,5). Daher überrascht es auch nicht, dass Gott und sein Wort und die Schrift sehr stark überlappen, ja mitunter identifiziert werden wie Römer 9,17: „Die Schrift sagt zum Pharao“ (s. auch Gal 3,8).

Thomas Schirrmacher hat in seiner Ethik gleich zu Beginn (I,1) in einigen Tabellen sehr gut gezeigt, dass die Eigenschaften Gottes in der Bibel auch dem Wort und dem Gesetz Gottes zugesprochen werden (s. auch hier). Diese Gegenüberstellung ist recht beeindruckend und sollte schon vor dem Fehler des gegeneinander Ausspielens von Glauben an Gott/Jesus und sein Wort bewahren. (Weitere Stellen zum Glauben an Gottes Wort: 2 Chr 20,20; Ps 106,12.24; Ps 119,66; Jes 53,1; Hbr 4,2; 1 Thes 2,13; 1 Tim 4,6; Lk 24,25; Lk 1,20; Apg 24,14; Joh 2,22; 4,50; 5,46–47.)

Krüger spricht implizit von Ebenen (Jesus auf einer, die Bibel auf einer anderen – ‘darunter’). Häufiger drücken sich evangelikale Autoren heute so aus: Die Bibel sei nur „sekundäre Offenbarung“, d.h. sie gibt Zeugnis von der Offenbarung, dem Wort, nämlich Christus, der ersten Offenbarung. Gerade die neoorthodoxen/dialektischen Theologen wie Karl Barth oder Emil Brunner betonten, dass Offenbarung vor allem Personoffenbarung, nicht Wortoffenbarung sei. Viele unterstreichen nun, ähnlich wie Krüger: wir glauben nicht an ein Buch, sondern an eine Person.

Der Sprachgebrauch von der „sekundären Offenbarung“ ist sicher nicht unsinnig. In gewissem Sinne ist z.B. natürlich das Kreuz primär und die Botschaft vom Kreuz logisch sekundär – ohne Kreuz keine Botschaft davon. Doch die Kategorien primär und sekundär sind doch sehr wandlungsfähig und kontextabhängig und geben damit leider auch Missverständnissen Raum. So könnte man ja die allgemeine Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte begründet als primäre, zuerst kommende, bezeichnen. Macht das aber Sinn? Auch das Gesetz kommt in gewisser Weise zuerst, vor dem Evangelium der Gnade, weil ich „erstlich“ wissen muss, wie groß meine Sünde und mein Elend ist (Heidelberger Katechismus, Fr. 2). Aber wer würde schon von einem „sekundären Evangelium“ sprechen? Ich denke daher, dass man mit dem Sprachgebrauch von der „sekundären“ Offenbarung eher vorsichtig sein, ja ihn am besten fallen lassen sollte und das Wahre in ihm anders formuliert.

„Nur Gottes Autorität ist absolut“

Wirklich brisant wird diese Diskussion nämlich bei der Frage der Autorität. Krüger diskutiert sie ja nicht näher, aber sie steht in seinem Text ja vielfach im Hintergrund. Jesus hat Autorität, sein Vorbild, seine Taten, seine Haltung usw. Hier drückt er sich positiv aus. Im Hinblick auf die Bibel dagegen nur negative Abgrenzungen: Sie sei hingegen kein Regelbuch, gibt keine absoluten Weisungen usw. Ein Autoritätsgefälle ist hier deutlich. Und tatsächlich ist dies nur konsequent. Ich denke, dass es kaum möglich ist, die sekundäre Offenbarung der Bibel zu behaupten, ihr aber gleichzeitig volle und umfassende Autorität zuzusprechen. Fast automatisch rückt die Bibel auf eine niedrigere Autoritätsebene.

Als Beispiel sei hier Felix Ruther, Studienleiter der VBG in der Schweiz, genannt, der in „Bausteine“ (Februar 2010) meint: „Jesus und die Bibel müssen unterschieden werden: Beide sind ‘Gottes Wort’, haben aber nicht die gleiche Autorität“. Kein biblischer Text dürfe „an Jesus vorbei Autorität über mich gewinnen“. Es ist sehr zu vermuten, dass dieser Gedanke von Siegfried Zimmer stammt, der schon im Beitrag „Das reformatorische Verständnis der Heiligen Schrift“ (in: „Was ist Bibeltreue? Fundamente – aber kein Fundamentalismus“, VBG-Dokumentation 1/95) schrieb: Die Autorität der Bibel sei nicht „formal-dogmatisch“ zu fassen, sie bestehe vielmehr in ihrer „geistgewirkt-spontanen Durchsetzungskraft“. Die Schrift ist Autorität, weil sie der „‘Urheber’ von Ergriffensein, Erleuchtetsein und Verwandeltsein ist“. Ihre Autorität gründet also „auf der schöpferischen Kraft des mündlichen Wortes.“

Wie die Überschrift des Beitrags deutlich macht, soll die reformatorische Lehre widergegeben werden. Zimmer skizziert Luthers Lehre von der Schrift und meint, dieser unterscheide drei Ebenen: die Autorität Gottes, der Schrift und der Kirche. „Die Autorität der Heiligen Schrift und die Autorität der Kirche ist abgeleitete, relative Autorität… Nur Gottes Autorität ist absolut“. Und: „Zu dieser obersten Ebene der Autorität zählt Luther auch das Wort Gottes [im weiteren Sinne] bzw. das Evangelium.“ Zimmer belegt diese doch erstaunlichen Aussagen aber so gut wie gar nicht mit Luther-Zitaten. Ich bin kein Luther-Experte, um dies präzise widerlegen zu können, aber für die reformierte Tradition gilt ganz gewiss: auch die Schrift hat absolute Autorität. Niemand anders als noch John Stott fasst den reformatorischen Konsens in Evangelical Truth so zusammen: „Die Autorität Christi und die Autorität der Schrift gehen zusammen… Wir müssen uns daher der Autorität der Schrift unterwerfen, wenn wir uns Christus unterwerfen wollen, denn die Autorität der Schrift beinhaltet die Autorität Christi.“

Wohin bei Zimmer die Reise geht, zeigt der Beitrag „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ auf den VBG-Seiten (entweder Zitate aus dem gleichnamigen Buch oder Zusammenfassungen; in jedem Fall ist davon auszugehen, dass dies Zimmers Gedanken sind; Kritiken des Buches übrigens hier und hier): „Entscheidend ist nicht, dass der Satz in der Bibel steht. Entscheidend ist, in welcher Nähe er zu Jesus steht. Nicht alles, was in der Bibel steht, hat die Qualität von Jesus. Deshalb müssen wir die Bibel auch kritisch lesen – nicht aus Überheblichkeit, sondern aus Gehorsam Jesus gegenüber. Wenn wir von Jesus her die Bibel kritisch lesen, stellen wir nicht uns über die Bibel sondern Jesus. Jesus allein ist unser Herr – auch über die Bibel. So können wir nicht mehr sagen, wir seien bibeltreu. Die Frage muss lauten: Sind wir Jesus treu?“

Hier werden Bibeltreue und Jesustreue gegeneinander ausgespielt, und hier wird der klassischen Bibelkritik Tür und Tor geöffnet. Wer soll denn darüber entscheiden, was Jesus nah und fern steht? Und was soll „Ferne“ eigentlich heißen? Was so fromm klingt („Gehorsam Jesus gegenüber“) wird zu einem weitgehend willkürlichen Zerstückeln der Bibel führen. Schon Schleiermacher konnte mit dem AT kaum noch etwas anfangen – weit von Jesus weg.  Wir müssen dagegen festhalten: Wer Jesus gehorsam sein will, unterwirft sich wie dieser vorbehaltlos (nicht blind!) der Autorität der Schrift. Francis Schaeffers Lehrer Cornelius Van Til (1895-1987) im Hinblick auf die Ethik: “Die christlich- theistische Vorstellung eines absoluten Gottes und eines absoluten Christus und einer absoluten Schrift gehen Hand in Hand. Wir können nicht das eine ohne das andere akzeptieren. Wir begegnen Diskussionen über ethische Fragen, mit denen wir konfrontiert werden, mit der Heiligen Schrift als einer absoluten und einer absolut umfassenden Autorität.” (Christian Theistic Ethics)

Wahre und falsche Religion?

Die attraktive Jesuszentriertheit begegnet uns bei Zimmer auch im Hinblick auf die Religionsfrage. Im Vortrag/Aufsatz „Dialog und Freundschaft zwischen den Religionen in einer bedrohten Welt“ (auf siegfriedzimmer.de) betont er, es gäbe einen Absolutheitsanspruch Jesu, aber nicht des Christentums, das sei „ein großer Unterschied“. Nur Jesus selbst steht dieser Anspruch zu, „nicht uns Christen. Wir sind nicht Jesus Christus“. Es sei ganz Jesus Sache, diesen seinen Anspruch durchzusetzen. Absolutheitsanspruch mache Dialog zwischen Religionen unmöglich, ja er sei eine „schwere Belastung für den Frieden“. Daher gilt: „Man kann nicht pauschal sagen: das Christentum ist die wahre Religion.“ Leider sei dies lange gelehrt worden. Zimmer weiter: es gäbe keine „dogmatisch Gewissheit“ über die Wahrheit des eigenen Glaubens; man kann nur persönlich und existentiell sagen: „Ich bin bejaht von der Person, die die Wahrheit ist. Ich bin von Gott geliebt. Ich bin angenommen.“ Daraus folgt für ihn, dass ich kein Recht habe, „das Angenommensein und Geliebtsein anderen Menschen in anderen Religion in Abrede zu stellen“.

Sicher hat Zimmer in manchem recht: wir verfügen nicht über diesen Anspruch, es gibt Wahres wie Falsches im konkret gelebten Christentum, und im Blick auf die Kirchen stimmt sogar dies: „alle Religionen haben Stärken und Schwächen“. Doch mit seinen Thesen beerdigt den Anspruch des Christentums auf objektive Wahrheit und nebenbei auch jede wahre Apologetik. Es erhebt nämlich den Anspruch, wahre Religion zu sein, weil seine Kernaussagen wahr sind. Das wir Menschen diese oftmals falsch formulieren und verzerren, steht auf einem ganz anderen Blatt. Zimmer stellt sich hier gegen weite Teile der Kirchengeschichte, in denen um die wahre und falsche Religion gerungen wurde. (Mehr dazu in Robert Spaemanns Das unsterbliche Gerücht, s. auch hier.)

Aus Zimmers Ansatz folgt direkt diese Frage: „Woher wollen wir wissen, dass wenn ein Mensch auf dieser Welt sich geliebt, getröstet und bejaht weiß, dabei nicht auf verborgene Weise Jesus Christus im Spiel ist?“ Er traut ihm hier ausdrücklich viel zu. Damit verbietet sich aber jede deutliche und auch persönlich zugespitzte Kritik von nichtchristlicher Religion. Wir sind ganz dicht an den anonymen Christen von Rahner, und von einer Dringlichkeit der Mission und Evangelisation wird hier in der Praxis nichts mehr übrig bleiben. Mit dem Geist der Lausanner Verpflichtung oder des Manifests von Manila hat dies nichts mehr zu tun.

Zimmer leitet schließlich aus dem Koran folgende Frage ab: „Welche Religion praktiziert mehr Nächstenliebe, mehr Gastfreundschaft, mehr Hilfe in Not, mehr Verlässlichkeit, mehr Frieden?“ Diesen Ansatz über die „ethische Seite“ hält er für „produktiv“. Die Wahrheit der Religionen sei ja für uns nicht zu klären, also bleibt dieser moralische „Prüfstein“. Dies ist genau der Schluss von G.E. Lessings Stück Nathan der Weise, der Aufklärungstraktat zur Religionsfrage schlechthin. Dies macht deutlich, wessen Geistes Kind Zimmer ist.

„Fan der Bibel“

Es sollte zu denken geben, dass alle großen Evangelikalen des 20. Jahrhunderts wie John Stott, Martyn Lloyd-Jones, Francis Schaeffer, Billy Graham oder Carl F.H. Henry Zimmer widersprochen hätten. Hier sei nur noch Packer zitiert, der in ‘Fundamentalism’ and the Word of God (1958) ebenfalls betonte, dass im Hinblick auf die Direktheit der Autorität Gott und die Bibel auf einer Ebene stehen. Packer (geb. 1926) hatte damals genau begriffen, dass es letztlich um die Frage der Autorität geht. Verschiedene Kirchen können ein im Wesentlichen gleiches Autoritätsverständnis haben und daraufhin zu theologischen Übereinkünften kommen; unterschiedliche Autoritätsverständnisse führen zu unterschiedlicher theologischer Methodik und schließlich zu radikaler Spaltung. Packer zum reformatorischen und evangelikalen Konsens:  „Was die Schrift sagt, sagt Gott. Die Bibel ist inspiriert in dem Sinne, dass sie Wort-für-Wort von Gott gegeben ist.“ Die Autoren schrieben genau das, was Gott wollte.

Ein Christ ist ein Jesusnachfolger, der diesem gehorsam ist. In einem weiteren Inter Varsity-Bestseller, Knowing God / Gott erkennen, betont der britische Theologe aber, das ein Christ genauso ein Mensch unter dem Wort ist: „Was ist ein Christ? Man kann ihn aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben, doch aus dem Gesagten geht hervor, dass wir all das unter der folgenden Aussage zusammenfassen können: er ist ein Mensch, der Gottes Wort anerkennt und Ihm gemäß lebt. Der sich dem Worte Gottes, wie es im ‘Buch der Wahrheit’ (Dan 10,21) geschrieben steht, uneingeschränkt unterwirft, der Lehre glaubt, auf die Verheißung vertraut und die Gebote befolgt. Der seine Augen auf den Gott der Bibel als seinen Vater und auf den Christus der Bibel als seinen Erlöser gerichtet hat.“ Und auch Wilfried Joest fasst zusammen: „Leben im Glauben heißt im AT wie im NT: Gottes Gebote hören und tun.“ (Dogmatik)

Zimmer beherrscht die Kunst der netten Verpackung. Die HKM und die Bibelkritik im Zuge der Aufklärung wird bei ihm zur „Bibelwissenschaft“, die Gegenseite ist meist die der Fundamentalisten. Da muss man heute nicht lange wählen. Krüger verfährt gegen Ende seines Beitrages ähnlich.  HKM&Co., ja das Thema bei Diener und Anlass der Gegenrede, wird auf die Aspekte reduziert, mit denen alle Evangelikale übereinstimmen. Woran viele von ihnen traditionell Anstoß nehmen, wird einfach ausgeblendet:

„Ziel aufrichtiger Bibelkritik ist es, zu erforschen, was die ursprünglichen Schreiber sagen wollten und wie es die ursprünglichen Hörer vermutlich verstanden. Es gilt auch die Interessen herauszufinden, welche die Schreiber beim Verfassen der Texte hatten (einen Text ohne ein solches Interesse gibt es nicht einmal im Lexikon). Es gilt zu unterscheiden, welche Textgattung vorliegt und wie die Überlieferungswege waren. Es gilt, den Bibeltext möglichst nicht zu bevormunden, wenn man seine Erkenntnisse auf die heute Situation überträgt. Das alles geht nur mit dem Einsatz eines wachen Verstands.“

„Brückenbauer zwischen wissenschaftlicher Theologie und erwecklichem Glauben“ nannte die „Antenne“ des Schweizer ERF (03/2013) den Theologen Zimmer. Wie seine Beiträge für „Faszination Bibel“ (01/12), ein Auftritt bei „Spring“ und nun in diesem Sommer bei der Allianz-Konferenz zeigen, ist er offensichtlich endgültig in die evangelikale Großfamilie aufgenommen worden.  Krüger baut auch fleißig an dieser Brücke und verlinkt Zimmers „Worthaus“-Videos regelmäßig. Überall so viele „Fans der Bibel“, so dass auch „Klartext“, das Online-Magazin des Bibellesebundes für junge Erwachsene, den Beitrag Krügers auf seiner Facebook-Seite empfiehlt.

„Worthaus“ ist ein äußerst professionell gemachtes Projekt, das den Evangelikalen wohl endgültig den Kopf verdrehen wird – auch dank Reklame auf jesus.de. Der Ton ist einladend und nicht polarisierend. Doch hier und da merkt man, was auf der anderen Brückenseite auf die Reisenden wartet; ab und an werden die Masken fallengelassen – der Wolf spuckt die Kreide wieder aus. So meinte Thomas Breuer in seinem unsäglichen Vortrag über den Kreuzestod Jesu (s. auch hier): „Wir müssen nicht nur deshalb an etwas glauben, weil Paulus es so schrieb“. Kommt Zimmer immer nett und fromm daher (zumindest öffentlich), so wird Breuer auch gerne deutlicher. Paulus habe „neben all dem Klugen auch unkluge Sachen [geschrieben] – wie ich finde.“ Er spottet über die „hanebüchene Aussagen zur Haartracht“. Das ist dann wohl selbst für „Faszination Bibel“ zu heiß.

Francis Schaeffer sah all dies schon kommen und warnte in seinem letzten Buch 1982 vor The Great Evangelical Disaster (dt. Die grosse Anpassung). In Lausanne 1974: „Wir müssen liebevoll, aber klar sagen: der Evangelikalismus ist nicht wirklich evangelikal (consistently evangelical), wenn nicht eine klare Linie gezogen wird zwischen denen, die an der vollen Autorität der Schrift (full view of Scripture) festhalten, und denen, die dies nicht tun“.

„Die Evangelikalen brauchen eine Reformation“, so meldete idea.de gestern. Der Brite Os Guinness, der seit Jahrzehnten in den USA lebt, hat in Schaeffers L’Abri fellowship gearbeitet und setzt dessen Tradition in mancher Hinsicht fort. Vor vier Jahren bei „Lausanne III“ in Kapstadt erinnerte er – ganz wie einst Schaeffer – an die Wichtigkeit der Wahrheit, objektiver Wahrheit („Why Truth Matters“). „idea“ wies nun auf sein neues Buch hin: Renaissance: The Power of the Gospel However Dark the Times (hier ein Interview dazu mit der “Christian Post”). Reformation, Renaissance oder Revival (Erweckung) – dazu wird es nur kommen, wenn wie im 16. Jahrhundert zur Wahrheit des solus Christus und des sola scriptura zurückgekehrt wird. Und wenn endlich, so unpopulär es in Zeiten des Brückenbauens auch ist, auch einmal Zäune gezogen werden, außerhalb derer sich Krüger, Zimmer und andere evangelikale Liberale wiederfinden.