„Was ist die Wahrheit wert?“

„Was ist die Wahrheit wert?“

Gert Scobel widmet sich in seinen Sendungen auf 3Sat ernsten Themen, und nicht weniger ernsthaft ist offensichtlich die Vorbereitung des Journalisten. In der vergangenen Woche (18.09.) umriss er gleich in der Anmoderation von „scobel“ viele philosophische Fragen, die der Begriff „Wahrheit“ heute mit sich bringt. Man durfte also gespannt sein.

Highlight der Sendung: gleich zu Beginn das Interview mit der Noch-Leiterin des ZDF-Büros in Moskau, Anne Gellinek (im kommenden Jahr geht sie nach Brüssel). C.S. Lewis sagte einmal, dass er bei Schustern und Autoren von Kriminalgeschichten noch ordentliches Handwerk antrifft – hier wären auch die Journalisten zu ergänzen. Solche wie Gellinek. Denn diese zeigte in ihren Antworten eine vorbildliche Ethik ihrer Profession. Zum aktuellen Konflikt in der Ukraine, Russland und Putin hatte sie viel Interessantes zu sagen. Obwohl vor Ort und der russischen Sprache mächtig, muss sich die Journalistin und studierte Slawistin teilweise heftige Kritik von Russlandverstehern gefallen lassen. Doch Gellinek beherrscht eben ihr Handwerk und weiß, was sie zu tun hat: neugierig, offen, nachbohrend und selbstkritisch der Wahrheit auf den Grund gehen. Sehr sympathisch, sehr lehrreich – und fast schon tröstend: im Fernsehen machen viele einen sehr guten Job.

Journalist ist jedoch kein angesehener Beruf. In der Rangliste des Prestiges von Berufsgruppen landen Journalisten immer im hinteren Drittel (und z.B. die Ärzte ganz oben; dass sie bzw. Medizinstudenten es mit der Wahrheit oftmals gar nicht genau nehmen, zeigte der zuvor ausgestrahlte Film „Lügen und betrügen“, in dem es auch um ein Plagiatssystem unter angehenden Ärzten an der Uni Münster ging). Dabei haben Reporter, Presseleute und die schon einmal verächtlich nur Schreiberlinge Genannten oftmals ein natürliches Gespür für Wahrheit und Lüge. Sie sind meist eben dicht dran an der Realität.

Nach dem Gellinek-Interview kippte leider das Niveau der Sendung, und das sicher nicht wegen des gut vorbereiteten Gastgebers (der selbst Philosophie studiert hat). Scobel stieg in die nächste Gesprächsrunde mit einem Einspielfilm ein: Jesus vor Pilatus und dessen berühmte Frage „Was ist Wahrheit?“. Bei ihm zu Gast nun Simone Dietz, Professorin für Praktische Philosophie an der Uni Düsseldorf, und Heiner Geißler, den man ja nicht weiter vorstellen muss.

Scobel knüpfte an dem Dialog der beiden Männer an. Dietz vertrat die Ansicht, dass es darin um „religiöse Wahrheit“ gegangen sei, die also mit Tatsachenwahrheit nichts zu tun habe. Geißler nannte das Gespräch beim Prokurator rundheraus „eine Erfindung der Journalisten“, womit er die Evangelisten meinte (ein wohl unbewusster Seitenhieb auf die Berufsgruppe: Journalisten erfinden Dinge oder verdrehen die Wahrheit). Die Pilatusepisode sei eine „reine Entschuldigungsgeschichte zugunsten der Römer“.

Anschließend zitierte Scobel ausführlich aus „Unterlagen von einem [katholischen] Kaplan“, die sein Sohn in der Schule erhalten hat, vermutlich im Religionsunterricht. Darin wird ein „unbestreitbarer Vorrang“ des Christentums unter den anderen Religionen bekräftigt; mehrfach fällt die Wendung „keine andere Religion…“, denn das Christentum sei wegen Gottesbild, Stillung der Sehnsucht nach Erlösung, Opferbegriff usw. einzigartig und allein absolut wahr. Einzelne Religionen hätten nur Teilwahrheiten. Scobel, der hier seine ablehnende Haltung nicht verbergen kann oder will, kommentierte schließlich, dass dies offensichtlich leider „immer noch eine gängige Meinung“ sei.

Dietz nennt den zitierten Text bzw. die Haltung dahinter ganz kühl „erschütternd“, ja einen „Skandal“. Man könne schließlich den Wahrheitsgehalt einer Religion nicht objektiv bestimmen. Sie fragt sich, „ob man den Religionsunterricht so verantworten kann“.

Geißler spricht gleich von den Ajatollahs, auch den christlichen. Diese glauben die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Und zu Paulus: „Was der über die Frauen gedacht hat, kann keine Wahrheit sein“. Sein Kriterium zur Bewertung von Religionen ist die „menschenfreundliche Botschaft“. Dietz fügt noch hinzu:  „Friedensschluss der Religionen beruht darauf, dass man nicht die objektive Wahrheit für seinen Glauben in Anspruch nimmt, sondern sagt: das ist meine Glaubenswahrheit, und die gilt für mich und meine Glaubensgeschwister…“ Diese religiöse Wahrheit sei „keine objektive Wahrheit, die wir in der Schule unterrichten“.

Scobel scheint das alles auch so zu sehen. Glaubenswahrheit sei „das, worauf man sich im Leben und Tod verlassen kann“ (reformierte Ohren hören da den Heidelberger, Fr. 1, heraus), „etwas Existentielles, aber nicht eine Wahrheit im naturwissenschaftlichen Sinn“.

Etwas mühsam quält sich das Gespräch dann durch das Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit und Wahrheit in der Rechtsprechung. Anschließend geht es zu den Naturwissenschaften. „Kommen die Naturwissenschaften der Wahrheit am nächsten?“ fragt Scobel. Der Jurist Geißler, hier nun wahrlich nicht recht zuhause, meint, dass physikalische Gesetze bewiesen werden müssen, und wenn das der Fall ist, dann sind sie eben wahr. Scobel: „An der Idee der absoluten Wahrheit halten wir als Regulativ in der Naturwissenschaft fest?“ Irgendwie sei dies zu bejahen. Dietz: Wenn ein Naturgesetz stimmt, ist es wahr. Es kommt mit einem Anspruch daher: es stimmt oder es stimmt nicht. Mehrfach wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung der „Tatsachenwahrheit“ bekräftigt.

Scobel hat auch katholische Theologie studiert (von ihm stammt z.B. der Aufsatz „Postmoderne für Theologen? Hermeneutik des Widerstreits und Bildende Theologie“, 1992). Er ist nun wirklich drin in der Materie, so dass man es nur den Eigenarten des Fernsehens zuschreiben kann, dass ausgerechnet Geißler (eben ein bekanntes Gesicht) in so eine Sendung geladen wurde. Zur Erhellung der Frage der Sendung trug er herzlich wenig bei. Aber auch die Stärken der Philosophin Dietz liegen gewiss nicht auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie. Hätte die Redaktion einmal einen wirklich kompetenten Gast geladen wie z.B. Robert Spaemann! Der ach so schreckliche Text des Kaplans wäre nicht einfach nur lächerlich gemacht worden.

Durch die Sendung waberte die heute populäre Auffassung, das Festhalten an objektiver und absoluter Wahrheit führe zu Intoleranz und schließlich auch Gewalt – wie selbstverständlich wurde dem zitierten Kaplan und Seinesgleichen Gewaltbereitschaft der Ajatollahs unterstellt. Wer den Frieden will, so ja auch der bekannte Soziologe Ulrich Beck, müsse sich von der (absoluten) Wahrheit verabschieden. In den Naturwissenschaften will man das nicht so recht gelten lassen, aber für Ideen und den Bereich der Weltanschauungen, Ideologien und Religionen gelte dies allemal.

Dummerweise löst sich ohne Wahrheit die Toleranz einfach auf, die ganze Kategorie wird unbrauchbar. Denn Toleranz bedeutet das Dulden einer Person neben mir, die eine ganz andere Ansicht als ich hat, die ich für unwahr halte. Wenn es keine Wahrheit und Falschheit gibt, kann ich auch niemanden im eigentlichen Sinne tolerieren. Die Hoffnung, dass der Verzicht auf objektive Wahrheit den Frieden bringt, ist naiv. Nicht die Wahrheit stört; selbst wenn wir sie als Kategorie beseitigen, haben die Menschen immer noch den natürlichen Drang, andere zu unterdrücken, zu beseitigen, zu hassen.

Und es ist so gerade die Wahrheit, die uns gleichsam rettet. Sie verlagert die Intoleranz und den Kampf auf die Ideen. „Ideen sind ihrer Natur nach intolerant, auch sogenannte liberale Ideen“, so der katholische Philosoph Spaemann. Denn sie sind entweder wahr oder falsch. „Menschen dagegen können und sollen im Umgang mit Menschen, die andere – ihrer Meinung nach falsche – Ideen haben, tolerant sein. Denn nur so können sich Ideen mit anderen Ideen messen… Der Kampf der Ideen gehört zu jeder freien Gesellschaft. Nicht Mission ist dem bürgerlichen Frieden abträglich, sondern die Unterdrückung von Mission.“ (Das unsterbliche Gerücht)

Ähnlich übrigens auch Jürgen Habermas: „Tolerierung ist zuerst dann notwendig, wenn man die Überzeugungen von anderen ablehnt: Wir brauchen nicht tolerant sein, wenn wir dem Glauben und den Ansichten anderer gleichgültig oder indifferent gegenüber stehen“ (Intolerance and Discrimination). „Missionarische Religionen wie das Christentum und der Islam sind in ihrem Wesen intolerant gegenüber anderen Glaubenssystemen“, so der Philosoph und Soziologe. Mit „intolerant“ meint er den erwähnten Kampf der Ideen.

Oder mit den Worten Spaemanns: „Universalistische Religionen sind ihrem Wesen nach missionarisch…“, denn sie beruhen auf „Überzeugungen, welche für bestimmte Urteile über die Wirklichkeit Allgemeingültigkeit, das heißt Wahrheit beanspruchen.“ Von der subjektiven „Glaubenswahrheit“ à la Dietz hielte er also gar nichts. Das Christentum ist von seinem Wesen her missionarisch, denn „die geglaubte Wahrheit über die Welt impliziert einen Heilsweg für alle Menschen und einen Anspruch Gottes an alle Menschen“.

Auch Geißlers Geschwätz von den Evangelisten-Journalisten hätte ein Spaemann widersprochen: „Im Christentum werden gewisse Wahrheitsansprüche erhoben, die sich unmittelbar auf empirische Tatsachen beziehen.“ Hier ist z.B. das leere Grab Jesu zu nennen. Die Autoren der Evangelien wollten ihre Leser davon überzeugen, dass dies eine Tatsache war. Entweder haben sie sich geirrt oder sie wollten betrügen, so Spaemann. Natürlich ist die religiöse Wahrheit des Christentums mehr als eine empirische Wahrheit (viele Aussagen lassen sich natürlich nicht empirisch festmachen). Doch die Wahrheit dieser Religion ist eng mit Tatsachenwahrheiten verknüpft und ruht in Teilen auf diesen: „Das Christentum steht und fällt mit der Wahrheit einer historischen Tatsachenbehauptung“. Leider wurde nichts dergleichen in der Sendung erkennbar. Schade.