700 Jahre Vilnius – Stadt unter dem Kreuz?

700 Jahre Vilnius – Stadt unter dem Kreuz?

Drei haushohe weiße Kreuze auf einem bewaldeten Hügel überragen die Altstadt von Vilnius. Sie erinnern an Franziskanermönche, die 1369 in der Regierungszeit des heidnischen Herrschers Algirdas ermordet wurden. Der Legende nach wurden dort sieben der vierzehn Mönche an Kreuze genagelt und in den nahen Fluss geworfen. Ende des 14. Jahrhunderts wurde Litauen schließlich christianisiert, und wohl schon bald tauchten auf dem ehemaligen Burghügel drei große Holzkreuze auf, die – immer wieder erneuert – bis ins 19. Jahrhundert dort standen.

Die russischen Behörden erlaubten jedoch nicht, dass die Kreuze wieder aufgebaut wurden. Erst 1916, während der deutschen Besatzung der Stadt im Ersten Weltkrieg, konnten neue Kreuze errichtet werden – und dieses Mal aus modernem Stahlbeton nach einem Entwurf des Architekten Anton Wiwulski. Eine Inschrift auf dem Sockel in lateinischer Sprache erinnerte an die „ersten Arbeiter [im Weinberg] Christi in Litauen“ und ihren Tod. Die Sowjets rissen die massiven Kreuze natürlich ab. Aber schon 1989, noch vor der Auflösung der UdSSR, entstand das Denkmal nach dem alten Vorbild neu.

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Vor den Kreuzen hat man heute von einer Terrasse einen hervorvorragenden Blick über die Altstadt von Vilnius. Man schaut auf rund zwei Dutzend Sakralbauten. Neben dem mächtigen Glockenturm der Universitätskirche dominieren die rosafarbenen Türme des Heilig-Geist-Klosteranlage die Silhouette des Zentrums. In der orthodoxen Kirche befinden sich die Leichname der drei Märtyrer Antonius, Johannes und Eustathius. Die Heiligen sollen 1347, ebenfalls in der Regierungszeit von Algirdas, umgekommen sein. Die drei toten Körper der Märtyrer sind in der Mitte der Kirche in einer Glasvitrine aufbewahrt und gelten als unverweslich (s.u. Foto).

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Für Katholiken gibt es zwei weitere sehr bedeutende Objekte der religiösen Verehrung in der Stadt: das Gnadenbild des Barmherzigen Jesus aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nach einer langen Odyssee in der sowjetischen Zeit hängt es seit 2005 in einer großen Kapelle im Herzen der Altstadt. Das mannshohe Gemälde wurde von einem Maler 1934 angefertigt, und zwar nach den genauen Angaben einer Nonne, die in mehreren Visionen angeblich Offenbarungen von Jesus erhalten hatte. Für polnische Katholiken sind das Gnadenbild und seine Reproduktionen seit drei Generationen wichtiger Teil der Frömmigkeit. Ähnliches gilt für das Marienbildnis im Tor der Morgenröte (s.u. Foto). Beide werden als gnadenstiftend und wundertätig angesehen.

Tor der Morgenröte in Vilnius

Tor der Morgenröte in Vilnius

Die Erneuerung des Glaubens symbolisiert wohl am besten die römisch-katholische Kathedrale. Wie die meisten Kirchen der Hauptstadt der Sowjetrepublik Litauen war sie zweckentfremdet worden, in diesem Fall als Kunstmuseum. Aber schon Anfang 1989 erhielt die Kirche das Gebäude zurück.  Seit 1997 steht auf dem Dachgiebel wieder eine Skulptur der Hl. Helena, die ein großes Kreuz im Arm hält. Der Gediminasprospekt führt von der Kathedrale an Regierungssitz, Ministerien und Parlament vorbei zu einer orthodoxen Kirche, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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Der Prachtboulevard wurde nach Fürst Gediminas benannt, der als Gründer der Stadt gilt. Um 1300 gab es sicher schon eine Siedlung auf den Hügeln beim Zusammenfluss von Vilnia und Neris. Erstmals wird der Ort aber 1323 erwähnt, als Gediminas mehrere Briefe in lateinischer Sprache nach Westeuropa schickte. Vilnius feiert daher in diesem Jahr 700 Jahre Stadtgeschichte. In einem der insgesamt sechs Briefe, der u.a. an die Städte Lübeck, Magdeburg und Köln gerichtet war, lädt Gediminas Ritter, Handwerker und Kaufleute in das Großherzogtum Litauen ein, um dort Handel zu treiben. Er sichert ihnen Abgabenfreiheit und freie Ausübung des christlichen Glaubens zu. (Mission der Heiden war aber noch nicht erwünscht, wie die oben geschilderten Todesfälle in der Herrschaftszeit von Gediminas Sohn Algirdas zeigen.)

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Brief von Fürst Gediminas, in dem Vilnius erstmals in historischen Quellen erwähnt wird

Die Einladung von Gediminas zeigte Früchte. Vilnius wurde durch die Zuwanderer aus allen Richtungen im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit eine in ethnischer und religiöser Hinsicht vielfältige Stadt. Die ersten Kirchenbauten wurden von den Orthodoxen errichtet; ein halbes Dutzend steht bis heute im Zentrum von Vilnius. Bald zog die Kirche Roms nach: die ältesten Sakralbauten dieser Kirche aus dem 15. Jahrhundert sind noch heute an ihren gotischen Bauelementen zu erkennen. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert folgte dann die große Zeit des Barocks in Vilnius. Abgesehen von der Kathedrale, die eine klassizistische Fassade erhielt, dominieren heute barocke Meisterwerke die katholische Kirchenarchitektur in der litauischen Hauptstadt. Prägenden Einfluss hatte dabei der deutsche Architekt Johann Christoph Glaubitz.

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Tor zur Klosteranlage der Katholiken griechischen Ritus von J. C. Glaubitz

Missionsgebiet

Gotteshäuser wohin man blickt, wichtige Sakralbauten und Orte des religiösen Kultes; hinzu kommen die Kirchen der Lutheraner und Reformierten sowie die Klosteranlage der Katholiken östlichen Ritus. Touristen in der Altstadt gewinnen den Eindruck, dass Vilnius eine Stadt mit christlichen Wurzeln ist. Aber eine Stadt, die immer noch unter dem Kreuz steht und auch heute vom Einfluss der christlichen Gemeinschaften geprägt wird?

Die Masse der Einwohner von Vilnius wohnt nicht in der überschaubaren Altstadt, sondern in den Trabantenstädten, die in der Sowjetzeit entstanden und sich bis heute weiter ausdehnen. Die Kommunisten ließen in diesen Stadtvierteln in den 70er und 80er Jahren natürlich keine kirchlichen Neubauten zu. In den vergangenen 35 Jahren wurden aber auch nur drei katholische Kirchen errichtet, ein Bau von diesen ist noch nicht abgeschlossen. Fährt man vom Norden in die Hauptstadt, sieht man bis zum Erreichen des Zentrums kein einziges Kirchengebäude – denn es gibt keines. Die dortige Johannes-Paul-II-Gemeinde plant sein langem einen Neubau, der sich aber immer noch im Planungsstadium befindet.

Auf dem gesamten Stadtgebiet der Hauptstadt befinden sich 18 Pfarrgemeinden (weitere sind Kirchen ohne Pfarrbezirk) – und das in einer Metropole mit bald 600.000 Einwohnern. Hannover zählt heute fast genauso viele Einwohner wie Vilnius und ist konfessionell ebenfalls von einer Kirche bestimmt, der ev. lutherischen. Zum ev. luth. Stadtkirchenverband gehören aber 59 Ortsgemeinden, also mehr als drei Mal so viele wie in der litauischen Hauptstadt. Manche katholischen Pfarrbezirke sind geradezu riesig – und die Kirchenbauten von überschaubarer Größe.

Und all diese Kirchen sind an einem normalen Sonntag keineswegs gut gefüllt. Über die Konfessionsgrenzen hinweg gilt leider, dass der Mess- bzw. Gottesdienstbesuch in den Großstädten Litauens mäßig bis schlecht ist. Katholiken selbst räumen nun nicht selten ein: wir sind nicht 80, sondern 8 Prozent der Bevölkerung. Gut Dreiviertel der Bevölkerung rechnen sich dem Katholizismus zu, aber am Gemeindeleben nimmt tatsächlich wohl nur ein Zehntel davon teil. Auf dem Land wird dieser Anteil höher sein, in Vilnius ist er sicher noch deutlich niedriger.

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Unter den protestantischen Kirchen besitzen nur die Lutheraner und Reformierten Jahrhunderte alte Kirchengebäude. Die Methodisten versuchten wieder Fuß zu fassen und an die Vorkriegsgeschichte anzuknüpfen, was ihnen jedoch nicht gelang. Ein großes „Bethaus“ besitzt seit vielen Jahrzehnten die russischsprachige Pfingstgemeinde in Vilnius. Seit 1988/1990 entstanden zahlreiche neue Gemeinden in der Stadt, mehr als ein Dutzend aus dem charismatisch-pfingstkirchlichen Spektrum. Im Rahmen des Pfingstbundes sind z.B. die „Assemblies of God“ aus den USA aktiv, die die „Journey Church“ gegründet haben. Aus den USA wurde auch ein Ehepaar von Heilsarmee-Offizieren zur Gemeindegründung entsandt. Natürlich sind außerdem ein halbes Dutzend Freikirchen baptistischer Prägung sowie der Ableger der „City Church“ aus Klaipeda zu nennen. Die „Freien Christen“ mit zwei kleinen Gemeinden gehören zu den Mennoniten-Brüdern.

Rein numerisch gibt es also mehrere Dutzend Gemeinden, die sich mehr oder weniger dem Erbe der Reformation verpflichtet sehen. Allerdings wird man in ihnen sonntäglich meist nur zwischen 20 und 50 Besucher antreffen, manchmal auch weniger. Genaue öffentliche Statistiken gibt es nicht, aber man kann davon ausgehen, dass von den protestantischen Gemeinden nur einige wenige mehr als einhundert Gottesdienstbesucher zählen.

Den Kirchtürmen und den Kreuzen über der Altstadt zum Trotz muss man daher festhalten, dass auch Vilnius eine schon stark säkularisierte Großstadt ist (und sich darin einigen ostdeutschen Städten ähnelt). Die allermeisten Einwohner halten sich die meiste Zeit von Kirchen fern – und das gilt für Katholiken, Orthodoxe und viele nominell Evangelische. Die politische Elite und auch der öffentlich-rechtliche Sender LRT in der Stadt machen teilweise aus ihrer Verachtung für organisierte Religion keinen Hehl. Litauen mit Vilnius an der Spitze kehrt in heidnische Zeiten zurück. Wieder ist die Stadt Missionsgebiet, und wieder muss den Menschen die Nachricht über den Gekreuzigten neu gesagt werden.

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