Bei null anfangen
Vor fast einem Jahr, Mitte April 2022, verloren drei orthodoxe Priester Litauens plötzlich ihren Job, zwei weitere schlossen sich ihnen aus Solidarität an (s. hier). Seit dem 17. Jahrhundert gehören die orthodoxen Gemeinden Litauens zum Patriarchat von Moskau. Bekanntlich unterstützt Patriarch Kyrill I. (bürgerlich Wladimir Gundjajew) die Kriegsführung des russischen Präsidenten in der Ukraine. Die Priester in Litauen wurden wegen ihrer Kritik an der Position Kyrills und am russischen Angriffskrieg gefeuert. Von heute auf morgen standen sie auf der Straße. Sie zahlten einen hohen Preis für ihre Gewissensentscheidung, schließlich gibt es in Litauen für Geistliche keinerlei Lohnfortzahlung im Fall der Arbeitslosigkeit.
Die große Mehrheit der über 50 Priester im orthodoxen Bistum von Litauen blieb jedoch der Moskauer Linie treu. Nur in Klaipeda und Vilnius bildeten sich um die Ausgestoßenen Gruppen von Gläubigen. Mit der Entfernung aus dem Priesterstand bald nach dem Rauswurf wurden ihnen die Möglichkeit genommen, Amtshandlungen durchzuführen. Für Priester und Laien sehr schmerzhaft war der Verzicht auf den Messempfang, so katholisch formuliert. Der römisch-katholische Erzbischof von Vilnius lud die Orthodoxen zwar zur Messe ein, aber meist begnügten diese sich mit ‘protestantischem’ Gebet, Bibellesen und Gesang.
Traditionell pflegen die orthodoxe und die reformierte wie auch die lutherische Kirche Litauens gute Beziehungen miteinander. Schließlich sind alle drei neben der seit dem 18. Jahrhundert klar dominierenden katholischen Kirche recht kleine Minderheiten. Im 14. Jahrhundert war jedoch die orthodoxe Kirche die erste christliche Konfession im Land, noch vor der katholischen ‘Taufe’ des Großfürstentums. Die ältesten Kirchengebäude im Land wurden von den Orthodoxen erbaut.
Theologisch trennt reformierte Christen viel von den Orthodoxen. Marien-, Engel- und Heiligenkult ist Evangelischen fremd. Gemeindegesang fehlt bei den Orthodoxen weitgehend, und die Predigt schrumpft in der „Heiligen Liturgie“ (Gottesdienst) von über eineinhalb Stunden Länge auf meist magere zehn Minuten. Gerade für Reformierte ist wegen des Bilderverbots die Verehrung von Ikonen anstößig. Dennoch verbindet uns der Glaube an den dreieinen Gott (bei den Orthodoxen ganz großgeschrieben) und das Erlösungswerk Jesu, und unter Druck und Leid merkt man eben, wo dieser Glaube persönlich und echt ist.
Als reformierte Gemeinde streckten wir den entlassenen Priestern und der Gruppe von Orthodoxen in Vilnius eine helfende Hand entgegen. Gleich im April letzten Jahres halfen wir finanziell, und mehrfach stellten wir die Kirche und den Gemeindesaal für Proben des orthodoxen Chors zur Verfügung (im orthodoxen Gottesdienst dominiert Chorgesang). Im Sommer fand in unserer Kirche außerdem die Vorstellung des Buches „Was ist das Evangelium?“ statt. Es sprach der Autor, ein orthodoxer Priester aus den USA, der als Kind von evangelikalen Missionaren aufwuchs, später aber konvertierte. Übersetzer und Herausgeber war Gintaras Sungaila, einer der gefeuerten litauischen Priester. Bei der Veranstaltung wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen unseren Konfessionen deutlich.
Die Entlassenen hatten sich bald an das Patriarchat von Konstantinopel als höchste Appellationsinstanz um Hilfe gewendet. Der Patriarch der alten byzantinischen Hauptstadt (heute Istanbul) hat in der orthodoxen Weltgemeinschaft eine Art Ehrenvorsitz inne. Als Gründer des Patriarchats gilt der Apostel Andreas, der heutige „ökumenische [d.h. für die ganze Welt zuständige] Patriarch“ Bartholomäus ist der 270. Nachfolger des Jüngers Jesu. Konstantinopel liegt schon eine Weile im Klinsch mit Kyrill in Moskau. Der Krieg in der Ukraine hat den Konflikt nur weiter verschärft.
Überraschend schnell wurde dem Anliegen der fünf Priester aus Litauen entsprochen: Mitte Februar hob Bartholomäus die Entlassung auf und versetzte sie zurück in den Priesterstand. Und damit nicht genug: Vom 20. bis zum 23. März besuchte der 1940 geborene Bartholomäus Litauen – der erste Besuch eines Patriarchen von Konstantinopel überhaupt im baltischen Land, dessen orthodoxe Gemeinden einst (bis vor etwa vierhundert Jahren) diesem Patriarchat unterstellt waren.
Bartholomäus wurde der rote Teppich ausgerollt, traf sich mit der gesamten Staatsführung (Präsident, Regierungschefin und Parlamentspräsidentin). Kyrill ist die Einreise in Litauen nicht mehr erlaubt, sein Gegner aus Konstantinopel wurde umso mehr hofiert. Für die aus dem Moskauer Patriarchat Entlassenen war der Besuch ihres neuen Chefs natürlich noch bedeutsamer. Sie erhielten die Erlaubnis, die „Heilige Liturgie“ zu zelebrieren und können sich nun sogar Hoffnung auf die Einrichtung eines Exarchats machen, einer Diözese in der Diaspora.
In Vilnius gibt es immerhin ein Dutzend orthodoxer Kirche, aber sie befinden sich alle im Besitz des zu Moskau gehörenden Bistums. Seit diesem Monat versammeln sich die Konstantinopel-Orthodoxen in der ehemaligen Gefängnis-Kirche von Lukiškės. Der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zarenreich errichtete Knast mitten in der Stadt wurde vor einigen Jahren geschlossen und in einer Kunst- und Kulturzentrum umgewandelt. In der ehemaligen Kirche finden nun Konzerte statt. Am Sonntag bauen die Orthodoxen nun ihren Altartisch und Ikonen auf und feiern Gottesdienste: um acht Uhr in litauischer Sprache, dann um zehn in den slawischen (ukrainisch und russisch).
Das große Echo in den Medien und die breite Bekanntheit der Priester (Sungaila, Dauparas und Mockus sind durch Auftritte in zahlreichen TV- und Radiosendungen gerade prominent) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Konstantinopel-Orthodoxen neben den Moskau-Orthodoxen nur eine sehr kleine Gruppe darstellen. Bisher zumindest erreichen sie gerade ein paar Dutzend Gläubige. Man hofft aber, Anlaufstation für Geflüchtete aus der Ukraine und Belarus zu werden.
Ähnlich wie protestantische Missionsgemeinden fangen die fünf Priester sowie zwei Diakone und ihre Anhänger bei null an. Eigene Räumlichkeiten gibt es keine, die für sie so wichtigen Gerätschaften für Kultus und Gottesdienst und natürlich auch Ikonen müssen besorgt werden; einzig liturgische Gewänder (für Orthodoxe ebenfalls unentbehrlich) hatten einige schon im privaten Besitz oder wurden nun von Bartholomäus geschenkt. Von staatlicher Seite wurde Bereitschaft signalisiert, den Konstantinopel-Flügel zügig als „traditionelle Religion“ anzuerkennen, was dann gewisse Privilegien mit sich bringt. Geld aus dem Budget der Stadt oder des Landes gibt es vorerst gar nicht.
Daher finanzieren sich die ‘neuen’ Orthodoxen durch Spenden über einen Verein. Durch Vermittlung unserer Kirche beteiligte sich auch die Lippische Landeskirche mit einer soliden Summe an der Unterstützung der Glaubensgeschwister. Die Kirche mit Sitz in Detmold ist seit 1992 mit der reformierten und der lutherischen Kirche Litauens freundschaftliche verbunden.
Bartholomäus I, Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel (seit 1991)
Bartholomäus mit Regierungschefin Šimonytė am 21. März
Der Marienkuzlt verbindet Katholiken und Orthodoxe (mit Erzbischof Grušas vor dem Marienbildnis im Tor derMorgenröte in Vilnius)
Nach dem ökumenischen Gebet für Frieden am 24. Februar
Der orthodoxe Chor probt in den ref. Gemeinderäumen