Lust wecken auf Militärisches

Lust wecken auf Militärisches

Ganz im Westen der Sowjetunion gelegen war Litauen bis Anfang der 90er Jahre geradezu vollgestopft mit Waffen und Soldaten. Ganze Städte wie Šiauliai mit dem damals größten Militärflughafen in der westlichen UdSSR waren für ausländische Besucher geschlossen. Bis 1993 rückten dann alle russischen Einheiten ab. Litauen baute eigene Streikkräfte auf und führte die Wehrpflicht ein. 2004 wurde das Land im Rahmen der zweiten NATO-Osterweiterung in das Militärbündnis aufgenommen.

Die Finanzkrise ab 2008 traf Litauen hart. Nur durch harte Sparmaßnahmen konnte der Staatsbankrott vermieden werden. Vor allem das Verteidigungsbudget wurde in den folgenden Jahren zusammengestrichen; dessen Haushalt erreichte noch nicht einmal ein Prozent des BSP, sank 2013 sogar auf 0,77% – von der NATO gefordert sind bekanntlich mindestens zwei Prozent. Manchen Berufssoldaten wurde in diesen Jahren die Karriere vermasselt, da die Zahl der Posten für Offiziersränge stark reduziert worden war. 2008 wurde die Wehrpflicht abgeschafft. Alles sah danach aus, dass man es sich unter dem Schutz der NATO gemütlich eingerichtet hatte.

Die Stimmung kippte mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. Seitdem lautet das Stichwort in der Politik Nachrüstung – oder kritisch formuliert: Waffeneuphorie. In ihrer zweiten Amtszeit (bis 2019) gab Präsidentin Dalia Grybauskaitė – zuvor hatte sie noch alle Sparmaßnahmen abgesegnet – die kämpferische Linie vor (laut Verfassung bestimmt das Staatsoberhaupt die Richtlinien der litauischen Außen- und Sicherheitspolitik). Ohne große Diskussionen wurde im Frühjahr 2015 die Wehrpflicht für junge Männer holterdiepolter wieder eingeführt.

In den letzten zehn Jahren hat sich der Verteidigungsetat Litauen vervielfacht (s.u. Graphik). Die Zwei-Prozent-Richtlinie ist schon erreicht, und nun will man die Drei-Prozent-Marke anstreben. Auf einmal ist für Waffensystem Geld in Hülle und Fülle da. Den Anfang machte 2016 ein großer Einkauf von „Boxer“-Radpanzern für Hunderte Millionen. Ende vergangenen Jahres macht der Kaufvertrag zum HIMARS-Raketensystem aus den USA Schlagzeilen: eine halbe Milliarde wird Litauen (über Jahre gestreckt) für dieses hochmoderne Waffensystem hinblättern.

KAM

Die anständige Ausrüstung der Armee ist das eine, die Militarisierung der ganzen Gesellschaft etwas anderes. Natürlich hat der Krieg in der Ukraine hier massiv verstärkend gewirkt. Es gilt nun zu als Dogma, dass nach einem Sieg Russlands in der Ukraine die baltischen Staaten das nächste Opfer russischer Aggression sein würden. Eine rationale Diskussion in der Öffentlichkeit über diese Grundannahme ist nicht möglich. Der Tenor ist ganz klar: Frieden schaffen mit immer mehr Waffen.

Landesverteidigung ist eine nüchterne Angelegenheit, die gut durchdacht sein will. Die von der Politik in Litauen ständig befeuerte Kriegseuphorie, was das Ringen der Ukraine betrifft, verdeckt, wie schlecht es immer noch um die konkrete Verteidigungsfähigkeit steht. Mit viel Stolz lieferte Litauen u.a. Schützenpanzer vom Typ M113, Haubitzen und Munition in die Ukraine, militärisches Gerät im Wert von einer halben Milliarde Euro. Einfache Hausaufgaben bleiben hingegen liegen. So sind im strategisch wichtigen „Suwalki-Gap“, der schmalen polnisch-litauischen Verbindung zwischen Kaliningrad und Belarus, Straßen und Brücken für schwere Militärfahrzeuge häufig nicht befahrbar. Seit vielen Jahren bemängeln Experten dies, und genauso lang tut sich nichts. Und von Wehrgerechtigkeit kann keine Rede sein: nur einige Tausend junge Männer werden jährlich gezogen, ein Bruchteil eines Jahrgangs. Für mehr besteht einfach nicht die nötige Infrastruktur. Das hindert Politiker – bis hin zum Präsidenten – aber nicht daran, über eine allgemeine Dienstpflicht für alle (Frauen wie Männer) zu spekulieren.

Anstatt das Militär zu professionalisieren, angemessen auszustatten und die Verteidigungsfähigkeit konkret zu erhöhen, wird lieber die Gesellschaft militarisiert. Eine wichtige Rolle fällt hier dem Litauischen Schützenverband (Lietuvos šaulių sąjunga) zu. Die Schützen sind nicht mit Sportsschützen zu verwechseln, sondern eine Art Bürgerwehr, ursprünglich gegründet in den Zeiten der litauischen Unabhängigkeitskämpfe nach dem I Weltkrieg. Alle erwachsenen Bürger, aber auch schon Jugendliche, können Mitglieder in diesen paramilitärischen Einheiten werden. Die Schützen erhalten eine Mini-Grundausbildung, tragen Uniform und dürfen leichte Waffen wie Gewehre nutzen. Ihr Beitrag zur tatsächlichen Verteidigung des Landes bei einem Angriff durch Russland dürfte minimal sein.

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Junge Schützen beim Appell vor dem Verteidigungsministerium

Der Schützenverband ist letztlich eine staatliche Einrichtung zur Wehrerziehung und – ertüchtigung. Das vom Staat finanzierte Budget wurde allein im vergangenen Jahr vervielfacht (!). Seit neustem sind die Schützen der Regierung unterstellt, nicht mehr dem Verteidigungsministerium und den militärischen Strukturen. Da die Schützen mit leichten Waffen ausgestattet sind und auch im Land gleichsam als Hilfspolizei eingesetzt werden dürfen, befürchten Kritiker, dass sich die Regierung hier eine Armee zur eigenen Verfügung im Inneren heranzieht.

Brisant wird‘s nun langsam auch in den Schulen. Schon seit einigen Jahren bieten einige Schulen einen mehrtägigen Kurs „Staatsbürgerkunde und Verteidigungsfähigkeit“ an. Dabei wird erste Hilfe und Überleben in der Natur unterrichtet, aber eben auch Heranführung an Waffen wie vor allem Fotos zeigen (s. Foto ganz o.). Ab 2024 wird dieser Kurs, verantwortet und durchgeführt vom Schützenverband, Pflichtprogramm für alle Schüler.  Was sollen Eltern dann tun, die nicht wollen, dass ihre Kinder den Umgang mit Waffen lernen?

Nicht wenige Prominente wie Journalisten, Influencer und Politiker sind Mitglieder bei den Schützen. Sie und viele andere machen Werbung für Waffenlieferungen. Am 20. Januar demonstrierten Hunderte vor der deutschen Botschaft in Vilnius, damit Kanzler Scholz endlich Panzer in die Ukraine schickt. Im vergangenen Jahr sammelte eine private Initiative innerhalb weniger Tage Millionen für eine türkische Kampfdrohne vom Typ Bayraktar, in diesem Jahr folgte eine ähnliche Aktion für Radarsysteme zur Flugabwehr – privat, aber wieder mit massiver Unterstützung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, der Leitmedien und der Regierung.330572386_1130508971683695_826615411021728967_nFrieden wird nun in Litauen als „Siegfrieden“ der Ukraine verstanden, Sieg nur durch Kapitulation Russlands. Waffenstillstand, Dialog und Kompromisse werden als Teufelszeug angesehen. Und wenn christliche Gemeinden beten, dann für die Ukraine. Es kann auch passieren, dass in einer christlichen Sozialeinrichtung für Kinder der freikirchlichen evangelischen Gemeinde in Panevėžys Minderjährigen mit Waffen vertraut gemacht werden (s.o. Foto). In Russland spricht die orthodoxe Kirche von einem Kreuzzug und segnet in guter alter Manier Waffen und den Kampf der Armee. In Litauen sieht man sich natürlich auf der ‘richtigen’ Seite, aber der Militarismus droht sich in eine ähnlich abstoßende Richtung zu entwickeln.

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Ende März 2022 vor Kiew zerstörter Panzer, nun ausgestellt vor dem Kathedralsplatz in Vilnius