Die Vergeltung des Diktators
Litauen und Weißrussland (Belarus) sind historisch eng miteinander verbunden. Das Gebiet, das der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko beherrscht, gehörte viele Jahrhunderte zum Großfürstentum Litauen. Auch die reformierte Kirche Litauens hatte bis zum Ersten Weltkrieg weißrussische Bezirke. Selbst das Wappen der Länder ist fast identisch: der Ritter zu Roß mit gezogenem Schwert heißt in Litauen „Vytis“, weißruss. „Pohanja“. Lukaschenko führte jedoch 1995 in seinem Land ein neues Wappen im alten, sowjetischen Stil ein; auch die Flagge in Weiß und Rot ließ er ersetzen. Sie und der Ritter sind nun Symbole der Opposition in Belarus – und jetzt auch in Vilnius an vielen Ecken zu sehen. Als in Riga, der Hauptstadt Lettlands, bei der Eishockey-WM im Mai die rot-weiße Flagge der Opposition gehisst worden war, kam es zu einem diplomatischen Krach zwischen Minsk und Riga (s.u. Foto).
Nach den Wahlfälschungen im vergangenen August beherrschte das Weiß-Rot der Demonstranten die Straßen und Plätze in Minsk. Aber Lukaschenko läßt sich nicht so leicht vertreiben. Er hat seine Lektion von Chinesen und anderen Tyrannen wie Assad gelernt: Proteste aussitzen, die militärische Elite an der Seite halten, sich starke Freunde sichern (Putin) und vor keiner Brutalität zurückschrecken. So wurde die Spitze der Opposition bald ins Ausland gedrängt. Swetlana Tichanowskaja, 2020 Lukaschenkos wichtigste Gegenkandidatin, residiert mit ihrem Team in einem gläsernen Hochhaus in Vilnius, unweit der Stadtregierung. Diese stellt großzügig Wohn- und Büroräume für Exilanten zur Verfügung. Eine ganze Universität, die EHU, ist seit 2004 im Exil in Vilnius. Vor der Botschaft von Belarus protestieren regelmäßig Exil-Weißrussen und litauische Unterstützer (s. Foto ganz oben).
Vilnius, die Exilhauptstadt von Belarus, liegt dicht dran am Geschehen – von (weißruss.) „Vilnia“ sind es nur gut zwei Stunden mit dem Auto nach Minsk. Und die litauische Staatsführung ist ganz auf ihrer Seite. Das neue weißrussische Atomkraftwerk in Astrawez (s. „Labas“ 07/2020) sorgte eigentlich nur im Baltikum für Wirbel, aber der abgefangene Flug der Ryanair-Maschine im Mai brachte die EU auf den Plan. Ziel der Aktion war der Aktivist Roman Protassewitsch, der von Athen nach Vilnius reisen wollte und nun in Minsk in Haft sitzt.
Die EU verhängte im Juni weitere Sanktionen gegen Belarus. Die Vergeltungsaktion des Diktators ließ nicht lange auf sich warten: Seit Anfang des Sommers läßt Lukaschenko Flüchtlinge – vor allem aus zentralasiatischen Staaten – nach Litauen ‘weiterreisen’. Bisher war für Migranten an der EU-Außengrenze zwischen Belarus und Litauen fast immer Schluß. Nun macht’s Lukaschenko wie Erdogan: er dreht den Flüchtlingshahn auf. Aber es kommen keine Weißrussen, sondern u.a. Afghanen. So erlebt Litauen, das 2015 so gut wie keine Syrienflüchtlinge aufnehmen wollte, seine erste Migrantenkrise. Die Gesamtzahl von gut 1300 bis Anfang Juli klingt in deutschen Ohren fast schon lachhaft, aber die litauischen Behörden bringt schon diese kleine Ansturm in die Bredouille. Am Aufnahmezentrum in Pabradė ist schon eine kleine Zeltstadt entstanden, die aus allen Nähten platzt. Jüngst bat daher die Regierungschefin Litauens, Ingrida Šimonytė, beim Ratspräsidenten der EU um Hilfe. Der Belgier Charles Michel besuchte die litauischen Grenzeinrichtungen Anfang Juli. Und pikanterweise sprach Remigijus Šimašius, der liberale und progressive Bürgermeister von Vilnius, fast schon im Stil von Trump von stärkeren Grenzbefestigungen, die es nun unbedingt bräuchte.