Eine kurze Theologie des Gesichts (und der Masken)

Eine kurze Theologie des Gesichts (und der Masken)

Seit eineinhalb Jahren tragen wir im öffentlichen Leben häufig Gesichtsmasken. Nun, im Sommer, wurden die Vorschriften in vielen Staaten zwar gelockert, aber in Deutschland wie in Litauen werden wir wohl auch in den warmen Monaten vor allem in Geschäften Masken tragen müssen. Und beim Singen in Gottesdiensten sind sie – je nach Bundesland – meist immer noch Vorschrift (Stand Juli). Viele sehen in den Masken nur ein Stück Stoff vor Mund und Nase – sollten wir zu dieser geringen Einschränkung unserer Freiheit nicht gerne bereit sein, um Menschenleben zu bewahren? Muss man sich nicht ans Tragen von Masken gewöhnen wie an das Händewaschen?

Zu Masken kann man unterschiedliche Meinungen haben, und dennoch sind sie kein theologisch neutrales Thema. Denn wir bedecken damit schließlich nicht unsere Beine oder Ellbogen, sondern weite Teile des Gesichts – und vom Gesicht oder Antlitz ist in der Bibel überraschend oft die Rede. Es hat eine in vielerlei Hinsicht besondere Bedeutung.

Gott selbst hat keinen Körper aus Fleisch und Blut wie wir Menschen; schließlich ist er kein geschaffenes Wesen. Wenn in der Bibel von seinen Händen oder Augen gesprochen wird (s. z.B. 2 Mose 15,6ff), so ist dies daher auf der einen Seite nicht in falscher Weise wörtlich zu verstehen. Mit solchen und ähnlichen Ausdrücken soll uns Gottes Handeln verständlich gemacht werden. Gott ist schließlich ein Geistwesen (Joh 4,24), der Unsichtbare (Kol 1,15). Aber dies meint andererseits nicht, dass Gott in keinerlei Hinsicht sichtbar wäre bzw. sein wird. Gott hat eine Gestalt, aber wegen der Sünde können wir sie, also Gott selbst, nicht direkt sehen. Noch „sehen wir alles nur wie in einem Spiegel“, so Paulus, doch in der Ewigkeit „werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen“ (1 Kor 13,12). Wenn die Menschen bei Gott „wohnen“ werden (Off 21,3), gibt es sicher etwas zu sehen! (Es war aber auch unter den Theologen der Reformationszeit umstritten, was genau von Gott dann sichtbar sein wird.)

Es ist kein Zufall, dass bei Paulus vom Gesicht oder Antlitz Gottes die Rede ist. Mose redete mit Gott selbst, kam ihm so nah wie wohl kein anderer irdischer Mensch. Er wollte aber auch noch die „Herrlichkeit“ Gottes direkt sehen (2. Mose 33,18), was Gott dem Sünder jedoch verwehren musste: „Mein Gesicht darf niemand sehen“ (33,20; NGÜ). Gott bekräftigt also selbst, dass er so etwas wie ein Gesicht hat, und gerade in diesem zeigt sich seine Herrlichkeit, sein vollkommen heiliges Wesen.

Nach dem Sündenfall versteckten sich die ersten Menschen vor dem „Angesicht Gottes“ oder seiner „Gegenwart“; in vielen Übersetzungen von 1. Mose 3,8 heißt es auch einfach „vor dem HERRN“ oder „vor ihm“. Denn das Gesicht Gottes repräsentiert die Person Gottes selbst. Daher ist das verborgene Antlitz Gottes ein Zeichen des Gerichts (Hiob 13,24), lässt den Menschen erschrecken (Ps 30,8) und flehentlich rufen: „Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?“ (Ps 13,1). Umgekehrt ist es Ausdruck von Gnade, wenn Gott uns sein Antlitz zuwendet oder und leuchten lässt (Ps 80,20; 4. Mose 6,25). Der Gläubige sucht Gottes Angesicht, d.h. seine Gegenwart und Gemeinschaft (Ps 27,8; 105,4).

In erster Linie ist das Gesicht Repräsentant einer Person, steht für das Ganze des Individuums. Das gilt für Gott wie für den Menschen, der nach dem Bildnis Gottes geschaffen wurde. Nicht zufällig bliess Gott den Lebensatem dem ersten Menschen in die Nase, also ins Gesicht (1. Mose 2,7). Wir sind Personen wie Gott, der eine dreieinige Person ist. Gott hat uns mit Gesichtern gemacht, damit wir unser Menschsein (z.B. Gefühle und Stimmungen) ausdrücken und miteinander kommunizieren können. Schließlich sind wir wie Gott mitteilende und liebende Wesen. Ein wahrhaft menschliches Zusammenleben ohne das Sehen von Gesichtern, ohne den Austausch zwischen Gesichtern ist kaum möglich. Gesichter sind der wichtigste Spiegel unserer Seele.

Übrigens sagte der aus Litauen stammende französische Philosoph Emmanuel Levinas (1906–1995), dass das Gesicht des Anderen uns gleichsam schweigend sagt: „Du wirst nicht töten.“ Ein sehr tiefsinninger, aber gleichzeitig auch unschwer zu verstehender Gedanke. Man denke nur an das Phänomen der Abtreibung: man hat sich allseits, selbst in den Kirchen, daran gewöhnt, denn niemand muss dien getöteten Kindern in das Gesicht sehen (erste Gesichtszüge sind ab der sechsten Schwangerschaftswoche zu erkennen).

Wie wichtig das menschliche Gesicht ist, zeigt auch 2. Mose 34,29ff. Mose kehrt von der Gottesbegegnung zurück und erschreckt die Israeliten mit einem strahlenden oder glänzenden Gesicht. Die Herrlichkeit von Gottes Antlitz – wenn auch für Mose nicht völlig sichtbar – strahlte auf sein menschliches Gesicht über, nicht auf Hände, Füße oder Brust. Denn im Gesicht verdichtet sich gleichsam das Ebenbild Gottes im Menschen. Das Gesicht sind wir selbst, weshalb sich in Ausweisen ein Gesichtsabbild befindet. Das Gesicht hat geradezu etwas Heiliges, weshalb das Schlagen ins Gesicht traditionell als entehrend und demütigend gilt (s. Joh 19,3). Und aus diesen Gründen untersagte Kaiser Konstantin nach seiner Hinwendung zum christlichen Glauben die Verstümmelung des Gesichts als Strafe oder in der Folter. Wie wichtig das Gesicht in unserer Kultur ist, zeigen bis heute Redewendungen wie „sein wahres Gesicht zeigen“ oder „sein Gesicht verlieren“.

Gott ist zwar bisher weitgehend unsichtbar, aber er zeigte gleichsam sein wahres Gesicht in der Person Jesu. Der Sohn Gottes ist das „vollkommene Abbild von Gottes Herrlichkeit“ (Hbr 1,3). Obwohl auch Mensch, wohnt in ihm „die ganze Fülle“ des göttlichen Wesens (Kol 1,19). Paulus schreibt in 2 Kor 4,6, dass wir „in dem Angesicht Jesu Christi“, d.h. in seiner Person die „Herrlichkeit Gottes“ erkennen.

Im dritten Kapitel dieses Briefes stellt der Apostel die Überlegenheit des neues Bundes gegenüber dem alten dar. Er greift dabei als bildlichen Vergleich das verdeckte Gesicht des Mose aus 2. Mose 34 auf: Menschen, die an Jesus glauben, ist gleichsam der Schleier vor Augen, die Decke vor dem Gesicht genommen – sie erkennen Gottes Herrlichkeit und die Wahrheit des Evangeliums. Was einst nur das Privileg des Mose war – Gott ganz nahe sein, so dass dessen Herrlichkeit abstrahlt –, genießen nun alle Christen (s. Eph 2,13). Sie leuchten sogar heller, als Moses es tat, denn vom neuen Bund und Christus strahlt noch mehr Herrlichkeit als vom alten (s. 2 Kor 3,9–11); auch in den Herzen der Gläubigen scheint es hell (2 Kor 4,6). Daher kommt Paulus zu dem Schluß: „Wir alle aber spiegeln mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider“ (2 Kor 3,18).

Gott ist  Licht und wohnt im Licht (Ps 27,1; 1 Tim 6,16); Jesus ist das Licht der Welt, das in der Finsternis scheint (Joh 8,12; 1,5); und auch die Christen sind Licht, das leuchten soll (Mt 5,14.16). Gott lässt sein Antlitz über uns leuchten; bei der Verklärung begann Jesu „Gesicht zu leuchten wie die Sonne“ (Joh 17,2); und auch das Angesicht der Christen ist ein heller Schein. Christen sind daher nicht nur ein „Wohlgeruch“ (2 Kor 2,15), nicht nur „Botschafter“ (2 Kor 5,20) oder „Brief“ Christi (2 Kor 3,3), sondern auch gleichsam das leuchtende Gesicht Gottes für die Welt.

Natürlich spricht Paulus hier in Bildern. Die Gesichter von Christen leuchten nicht physisch, und ein Dauerlächeln o.ä. ist auch nicht damit gemeint. Wir können aber sagen, dass die Gemeinde gleichsam das Gesicht Christi ist. In jedem Mitmenschen erkennen wir das Ebenbild Gottes; in den „geringsten Brüdern“ (Mt 25,40), Glaubensgeschwistern, sehen wir Jesus – wenn auch noch nicht sinnlich/physisch. In Zukunft wird aber genau dies passieren: Wir werden Jesus sehen – „so wie er wirklich ist“ (1 Joh 3,2), mit einem menschlichen Gesicht. Zu oft vergessen Christen dabei, dass Jesus nun in Ewigkeit Gott und Mensch ist. Er besitzt zwar einen verwandelten Körper, aber immer noch eine menschliche Gestalt. Bei der Himmelfahrt verwandelte er sich nicht in einen reinen Gott. Gläubige werden also dereinst tatsächlich das Gesicht Gottes sehen, das Gesicht des Gottmenschen Jesus.

Das „perfekte Zeichen gelebter Nächstenliebe“?

Was bedeutet all das nun in der aktuellen Coronazeit? Vorweg sei betont, dass es aus biblischer Sicht natürlich kein allgemeines Maskenverbot gibt. Zum Schutz der eigenen Person oder anderer Menschen werden Gesichtsmasken ja schon lange vor allem in der Arbeitswelt eingesetzt. Aber dort trägt man sie eben nur dann, wenn es wirklich nötig ist, denn Masken stören einfach. Anders als Hut oder Mütze behindern Masken die Atmung und das Sprechen. Sie erschweren außerdem die Erkennbarkeit von Menschen deutlich (was schließlich der Grund für das sog. „Vermummungsverbot“ war), schränken die Kommunikation ein. Masken sind daher ein gravierender, auf keinen Fall zu bagatellisierender Eingriff in die menschliche Persönlichkeit. Der Einsatz von Masken ist für Schutz und Hygiene natürlich nicht pauschal zu verwerfen, muss aber gut begründet werden.

Mit dieser Begründung hapert’s nun aber ordentlich. Oder anders gesagt: zwischen der Strenge der aktuellen Vorschriften und dem Nutzen der Masken besteht ein Missverhältnis. Allein schon der Vergleich von Staaten mit strengen Maskenverordnungen und denen ohne (z.B. Schweden) zeigt, dass Masken – wenn überhaupt – nur einen sehr begrenzten Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben. (Auch die in der Pandemie teilweise sehr unterschiedliche Praxis der US-Bundesstaaten bestätigt dies.) Eine wichtige dänische Studie vom November 2020 zeigt, dass es nur einen eher schwachen Schutzeffekt von Masken in Innenräumen gibt. Dass Masken die großen Lebensretter seien, ist wissenschaftlich schlicht und einfach nicht belegt.

Hinzu kommen gesundheitliche Beeinträchtigungen und Schäden durch längeres Maskentragen. Eine im April des Jahres veröffentliche Sammelstudie (Kai Kisielinski et al.; hier ein ausführliches Interview mit Kisielinski in deutscher Sprache) weist auf mitunter gravierende Nebenwirkungen hin. Das Tragen von Masken ist also keineswegs völlig risikofrei. Außerdem ist zu bedenken, dass es Alternativen gäbe. Der angesehene Hygieniker Prof. Klaus-Dieter Zastrow (übrigens gar kein Maskengegner) plädiert schon lange für eine regelmäßige Mund- und Rachendesinfektion, um die Virenlast deutlich zu reduzieren. Leider wurde seine einfache Idee von der Politik konsequent ignoriert.

Es spricht aus wissenschaftlicher Sicht also eigentlich so gut wie nichts dafür, dass man sich allgemein an die Maske wie an andere Hygienestandards gewöhnen müsste. Aber sollte man nicht, so wenden manche ein, alles tun, um auch nur ein Menschenleben zu retten? Also lieber möglichst immer die Maske aufsetzen, um nur ja niemanden zu gefährden? Im Zweifel immer für die Maske? Dies ist jedoch ein ethisch fragwürdiges Argument. Denn wir tun im Alltag nie „alles“, um andere Leben zu schützen. Wäre dies der normative Grundsatz, dürfte sich z.B. niemand mehr ans Steuer eines Autos setzen, denn von jedem fahrenden Automobil geht eine potentielle Todesgefahr aus. Im Einzelfall kann es wie etwa in Pflegeeinrichtungen geboten sein, Masken als Vorsichtmaßnahme zu tragen. Als Grundlage für allgemeine Gebote oder Verbote ist der Grundsatz „wir-müssen-alles-tun“ wenig praktikabel, ja im Grunde unsinnig.

Wir haben also auf der einen Waagschale einen recht begrenzten Nutzen und auf der anderen durchaus bestehende gesundheitliche Risiken. Hinzu kommen dort außerdem auf Grund des oben Gesagten gewichtige theologische Argumente: Das Gesicht will gesehen werden, sichtbar sein. Wir sind von Gott dazu geschaffen, das Angesicht wann immer möglich nicht zu verhüllen. Das Schauen „von Angesicht zu Angesicht“ ist auch unter Menschen das Ideal, eben nicht maximaler Schutz. Und wenn nichts anderes als die ewige Seligkeit mit diesem Begriff umschrieben wird, dann kann lange, dauerhafte Gesichtsbedeckung in Abwehr eines nur mäßig gefährlichen Erregers keine Option sein. Das Angesicht ist nur zu bedecken, wenn es wirklich nötig und von der Situation gefordert ist. Über diese Notwendigkeit und die genaue Dauer kann und muss im Einzelfall natürlich diskutiert werden.

Das unverhüllte, offene Gesicht hat für Christen eine ungeheure Symbolkraft. Es steht für personale Gemeinschaft mit Gott und Menschen. Von Angesicht zu Angesicht das Gesicht Christi erkennen, die Gnade des leuchtenden Antlitzes Gottes erfahren und selbst das strahlende Gesicht Gottes der Welt darstellen – all dies will nicht zu einer Normalität des verhüllten menschlichen Gesichts passen. In der Gemeinde sollte die Kommunikation von Offenheit, Klarheit und Direktheit gekennzeichnet sein; in ihr darf kein Platz für Lüge, Nachrede und Heuchelei sein, ist Verstecken, Verstellen und Verbergen zu meiden – dauerhaftes Tragen von Masken passt auch zu dieser Praxis nicht. Der Preis des sich Gewöhnens an Masken z.B. in Gottesdiensten wäre also hoch, zu hoch.

Christen sind daher aufgefordert, nach Möglichkeiten zu suchen, auf Masken möglichst bald zu verzichten. Sie sollten die rechtlichen Spielräume innerhalb der staatlichen Vorgaben ausschöpfen. Masken sind ein notwendiges Übel, kein an sich zu schätzendes Gut. Es ist kein Zufall, dass in den nicht vom Christentum geprägten Ländern Asiens das Tragen von Masken viel beliebter ist – das Gesicht hat dort einfach nicht die tiefe Bedeutung wie im Westen.

Sind Masken also das „perfekte Zeichen gelebter Nächstenliebe“, wie man von manchen Christen hören kann? Ein perfektes Zeichen sind sie sicher nicht; sie können ein Zeichen der Liebe sein, wenn man eine konkrete Gefährdung reduziert. Es macht ethisch aber überhaupt keinen Sinn, jeden als potentiellen Mörder anzusehen, der sich erst mit fleißigem Tragen der Maske von diesem Makel befreit. Solch moralisierende Überhöhung hilft nicht weiter, da wir nie unsere Unschuld beweisen könnten, schließlich verbreiten wir im Alltagsleben häufig verschiedenste Krankheitserreger.

Ein letzter Gedanke: Nächstenliebe braucht Freiheit und Freiwilligkeit. Das bloße Befolgen von Vorschriften und Befehlen mag zwar auch moralisch positiv zu werten sein, aber echte Liebe ist etwas anderes. Sie ist nicht erzwingbar. Sie braucht freie Luft zum Atmen. Wenn man also das Tragen von Masken mit Nächstenliebe in Verbindung bringen will, dann sollte man dies der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen – und Maskenpflicht möglichst abschaffen.

(Bild o.: Peter Paul Rubens, Portrait eines jungen Mannes [Ausschnitt], 1613-15)