Ganz unten in der Hierarchie
Seit einem guten Jahr glänzt die Kathedrale in Kaunas wieder in voller Pracht. Der gesamte Innenraum war langwierig erneuert worden. Mit einigen Monaten Verzögerungen wegen des ersten Corona-Lockdowns fand dort im Juni die Amtseinführung des neuen Erzbischofs statt. Da der Amtsvorgänger wegen Gesundheitsproblemen unerwartet zurückgetreten war, berief der Papst Kęstutis Kėvalas nach Kaunas, obwohl dieser sich als Bischof in Telšiai in zwei Jahren gerade erst eingearbeitet hatte.
Kėvalas (Jg. 1972) ist einer der jungen Hoffnungsträger der katholischen Kirche Litauens. Gut ausgebildet (Doktortitel aus den USA), aber auch volksnah, kompetent und fleißig übernimmt mit ihm nun mehr und mehr die Generation der um die 50-Jährigen das Ruder in der mit Abstand größten Religionsgemeinschaft Litauens.
Rund Dreiviertel der Einwohner des baltischen Staates bekennen sich zum römisch-katholischen Glauben. Daher gehören Messen bei wichtigen nationalen und politischen Ereignissen zum unerlässlichen religiösen Rahmenprogramm. Und wenn ein hoher katholischer Hierarch sein Amt antritt, kommt mitunter die ganze Staatsspitze.
Beim Ingress von Kėvalas saßen Staatspräsident Gitanas Nausėda und seine Frau Diana in der ersten Reihe (im Foto o. ganz rechts vorne). Amtsvorgängerin Grybauskaitė, die sich selbst zu keinem Glauben oder Unglauben bekennt, folgte ebenfalls der Einladung. Der damalige Regierungschef Skvernelis und sein Außenminister waren ebenfalls da, genauso wie der Parlamentspräsident mit Gattin. Fehlen durfte auch nicht Vytautas Landsbergis, Ikone der Unabhängigkeitsbewegung und als Parlamentspräsident erstes Staatsoberhaupt des freien Landes. Der Bürgermeister von Kaunas, der steinreiche Unternehmer Matijošaitis, kam natürlich ebenfalls.
Die Politiker sonnen sich gerne in der Aura der Weltkirche – und tatsächlich bekommt man bei solchen Anlässen Beindruckendes zu bieten: ein profesionell organisiertes Programm, gleich zehn Bischöfe und zwei Kardinäle auf der ‘Bühne’ (elf Litauer und ein päpstlicher Nuntius, s.o. Foto), schicke Gewänder, viel Weihrauch, Dutzende Priester in den Bankreihen, prächtige Barockarchitektur – die politische Elite mit Anzug, Krawatte und Kostüm kann da kaum mithalten.
Alles pilgert in das Gotteshaus, und selbst das Staatsoberhaupt verbeugt sich vor dem Erzbischof. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass die gesalbten Kirchenmänner die wahren Herrscher des Landes sind. Doch weit gefehlt. Die Vorgänge in der Coronakrise in den letzten Monaten und Wochen zeigten nur zu deutlich, dass die Kirche in Litauen tatsächlich weit unten in der gesellschaftlichen Hierarchie steht – allem Glanz zum Trotz.
Heute Hü, morgen Hot
Mitte Dezember verschärfte die neue litauische Regierung (s. hier) im Rahmen der Pandemiebekämpfung den Lockdown, der im November eingeführt worden war. Etwa zeitgleich sagte die Bischofskonferenz alle öffentlichen Messen ab. Es sollte unbedingt verhindert werden, dass die Gläubigen während der Festtage in die Kirchen strömen und so möglicherweise die Ansteckungszahlen nach oben treiben. Alle anderen Kirchen und Verbände folgten diesem Beispiel.
Die Kirche traf diese Entscheidung aus eigenem Entschluss, denn der Staat kann ihr kaum direkte Vorgaben machen. Das Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Litauen von 1927 wurde im Jahr 2000 durch einen Vertrag erneuert und ergänzt. Darin wird der römisch-katholischen Kirche ein hohes Maß an Autonomie gesichert. Ein Verbot von Gottesdiensten und andere strenge Regelungen für den Ablauf von religiösen Handlungen in den Kirchen kann der Staat nicht vornehmen. Auch wenn das halbe wirtschaftliche Leben lahm gelegt wird – allen Religionsgemeinschaften gab die Regierung bisher nur „Empfehlungen“.
Für Katholiken ist das Messopfer und der Empfang der Oblate Kern des Gottesdienstes –nicht die Predigt wie bei den Evangelischen. Keine Zelebrierung von Messen, keine Gläubigen in Reihe vor dem Priester, keine geistliche Wegzehrung – die katholische Kirche erklärte sich bereit, eine ihrer Hauptfunktionen für einige Wochen komplett auszusetzen. Die Kirchentüren blieben dicht (bis auf ein paar Stunden täglich für das persönliche Gebet). Und das, obwohl selbst in der Sowjetunion auf dem Land die meisten Messen weiter gelesen werden konnten.
Am 5. Januar kam die Bischofskonferenz unter der Leitung von Erzbischof Gintaras Grušas wieder zu einer Online-Sitzung zusammen. Die Öffnung der Kirche wurde für die folgende Woche beschlossen, die Presse entsprechend informiert. Öffentliche Messen – natürlich unter Beachtung der allseits bekannten Hygieneregeln – sollten wieder stattfinden. Einige bekannte katholische Priester jubilierten sogleich, doch die Freude währte nur kurz. Das Echo in den Medien kam fast schon einem Shit-Storm gleich. All diejenigen, die schon lange mal wieder ein böses Wort über die allzu selbstsüchtige Kirche verlieren wollten, fühlten sich zu Kommentaren des bischöflichen Beschlusses berufen. Unvernünftig, unverantwortlich, unsolidarisch, so der allgemeine Tenor.
Schließlich rief auch noch Regierungschefin Ingrida Šimonytė bei Grušas persönlich an. Sie bat darum, die Kirchen doch noch nicht zu öffnen. Und tatsächlich knickte die Bischofskonferenz nach einer langen Sondersitzung ein – am 6., kaum ein Tag nach der Entscheidung über die Zulassung von Messen, wurde der Beschluss gekippt und widerrufen. Über Nacht hatten die Bischöfe die Solidarität entdeckt, denn damit begründeten sie ihre plötzliche Kehrtwende. Aber natürlich ist allen klar, dass der überaus schnelle Kurswechsel dem politischen Druck geschuldet war.
Aus ein paar Wochen sind so schon zwei Monate geworden. Denn auch Ende Januar konnte sich die Bischofskonferenz zu keinerlei Öffnung durchringen. Ein kirchlicher Lockdown über fast den ganzen Winter – wer hätte so etwas im katholischen Litauen, im Land Marias, im Land der ersten Marienerscheinung Europas, je für möglich gehalten? Nun diskutieren auch die Katholiken sehr intensiv das Pro und Kontra von öffentlichen Messen. Gewiß kann man hier zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Die Bischöfe selbst waren und sind in diesen Fragen nicht einer Meinung und ringen miteinander. Sorgen muss aber machen, dass die immer noch hoch angesehenen Hierarchen der Kirche so schnell einknickten und nicht zu ihrer Entscheidung stehen wollten.
Am 12. Februar wurde nun bekannt gegeben, dass mit dem Beginn der Fastenzeit am 17. wieder Messen möglich sein werden – aber nur, wenn es das Infektionsgeschehen zuläßt. Nun orientiert man sich an den offiziellen Inzidenzwerten: sind sie örtlich zu hoch, bleiben die Kirchen zu, in einer zweiten Stufe sind 15 Besucher zugelassen, in einer weiteren müssen jedem Gläubigen 20m2 Raum (also 4x5m) gewährt werden.
Das Zaudern und Nachgeben der katholischen Hirten zeigt beispielhaft, dass der Einfluß und die Macht der Kirche tatsächlich längst nicht so groß sind, wie es oft scheint und wie von Religionskritikern gerne unterstellt wird. Litauen ist deutlich stärker säkularisiert, als es die vielen Ablässe, Marienbildnisse und prächtigen Ingresse vermuten lassen. Kaum einer wagt sich mit der Regierung – und der öffentlichen Meinung – anzulegen. Der Staat und seine Organe stehen in der Hierarchie ganz weit oben. Anschließend kommt die Wirtschaft, denn gerade auf die großen Industriebetriebe und die großen Handelsketten wird nun in Coronazeiten viel Rücksicht genommen. Kirchen und Familien haben da eine viel schlechtere Lobby. Trotz vieler netter Worte stehen sie in der Hierarchie ganz unten.
Auch die großen Medien, vor allem die Internetportale und selbst der öffentliche Sender LRT liegen meist quer zur Linie der Kirche. Vor einigen Wochen wurde Energieminister Kreivys im Frühstücksfernsehen von LRT interviewt. Kreivys gehört der „konservativen“ Heimatunion an, die nun die Regierung anführt, und ist sogar Mitglied im katholischen Orden „Opus Dei“, der meist als erzkonservativ bezeichnet wird. Befragt nach seinem Verständnis von Familie gab er jedoch eine verschwommene, nicht im entferntesten Sinne christliche Antwort. Nach dem Motto: in den progressiven Medien bloß nichts Falsches sagen.
Gott und alle Religiöse ist zu einem Ornament geworden. Außerdem zeigt sich, dass es den relativ jungen Kirchenleitern (noch) an Statur fehlt, um in solchen schwierigen Zeiten klares Profil zu zeigen. Die Erzbischöfe (und nun beide Kardinäle) Bačkis und Tamkevičius, die die katholische Kirche in den ersten 25 Jahren des freien Litauens anführten, hatten da noch ein anderes Format. Tamkevičius war Dissident in der Sowjetrepublik, arbeitete teilweise im Untergrund und saß mehrfach wegen seines Glaubens im Gefängnis (mehr zu ihm hier). Bačkis Lebenslauf war ein ganz anderer. In Frankreich aufgewachsen machte er im diplomatischen Dienst des Vatikans Karriere und brachte im Auftrag von Johannes Paul II die litauische Kirche wieder auf Vordermann (mehr hier).
Bačkis wurde auch einmal von einer Spitzenpolitikerin angerufen. 2010 bat ihn, ja forderte Staatspräsidentin Grybauskaitė, dass der verstorbene Ex-Präsident Algirdas Brazauskas in der Kathedrale von Vilnius aufgebahrt werden würde. Brazauskas (Jg. 1932) war als Kind natürlich getauft worden, amtierte aber als letzter Parteichef der Kommunisten in Litauen. Zwar stand er einigen Priestern nahe, doch sein Leben entsprach nicht den kirchlichen Maßstäben. Messbesucher war er nicht. Bačkis machte keinerlei Anstalten, dem Druck der Öffentlichkeit nachzugeben und verweigerte den Einlaß des Leichnams in seine Kirche. Auch die eiserne Lady Litauens ließ er abblitzen. Kirchenleiter mit solchem Rückgrat wären nun gefragt.