Totgesagter Pietismus

Totgesagter Pietismus

Der Pietismus, eine der bedeutendsten religiösen Erneuerungsbewegungen des Protestantismus seit der Reformation, hinterließ auch im Baltikum tiefe Spuren. In Estland und Livland, Teil des heutigen Lettlands, wirkten die Anhänger des Grafen Zinzendorf, Gründer der Brüder-Unität aus Herrnhut. Zahlreiche Brüdergemeinen bildeten sich dort, von denen einige den Kahlschlag der Sowjetunion überstanden und noch bis heute existieren (hier mehr dazu).

Auch unter den Litauern des nördlichen Ostpreußens (dem sog. Klein-Litauen) erlangten im 19. Jahrhundert pietistische Gruppen großen Einfluss. Im Memelland trafen sich lutherische Litauer in Erbauungsversammlungen (lit. surinkimai, daher auch ihre Bezeichnung surinkimininkai – Versammlungsleute). Stundenhalter (lit. sakytojai), Laienprediger, legten die Bibel aus.

„Eine Welle frommer Erweckung rollte damals über Ostpreußen hinweg und erfasste insbesondere die ethisch nichtdeutschen Gruppen“, also Litauer und Masuren, so Andreas Kossert in Ostpreussen – Geschichte und Mythos. Damals, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, besuchte wohl etwa die Hälfe der litauischen Bevölkerung im Nordosten Ostpreußens die Versammlungen. Auch hier hatte dies bedeutende soziale Auswirkungen, nicht zuletzt der Verzicht auf Alkohol. Und Kossert betont: „Ohne die evangelischen Gebetsvereine wäre die litauische Sprache in Preußisch-Litauen schneller aus dem öffentlichen Leben verschwunden.“

Der Pietismus im Memelland ist jedoch wegen der Verwerfungen des II Weltkrieges als Bewegung nicht mehr existent. Nicht nur Deutschstämmige, sondern auch viele lutherische Litauer siedelten nach Deutschland über. Heute gibt es zwar hier und dort Bibelstunden in den lutherischen Gemeinden Litauens, doch gehalten werden sie fast nirgendwo von nichtordinierten Stundenhaltern wie früher. Missionen des Gnadauer Verbandes sind nicht im Land aktiv, und auch die Kontakte zum deutschen EC sind, so scheint es, ganz eingeschlafen.

Literatur und wissenschaftliche Beiträge zum litauischen Pietismus gibt es kaum. Doch gerade Sprachwissenschaftler haben hier durchaus ein Interesse und noch mit am meisten gearbeitet, da sich im preußischen Litauen durch die lange Trennung vom Großfürstentum Litauen und dann vom Zarenreich eine etwas andere Sprache mit unterschiedlicher Schreibweise entwickelte.

Buch

So wundert es auch nicht, dass in diesem Jahr das Institut für litauische Sprache (Lietuvių kalbos institutas) einen Sammelband zur Geschichte des Pietismus vorlegte. Der sperrige Titel lautet „Dialog der Tradition und moderner Initiativen: die Versammlungsbewegung in Preußisch-Litauen“ (Moderniųjų iniciatyvų ir tradicijos dialogas: surinkimininkų judėjimas Prūsijos Lietuvoje).

Der schön gestaltete und reich illustrierte Band enthält fünf Aufsätze. Ein Drittel des Buches nimmt der Beitrag von Pfr. Dr. Darius Petkūnas über die Theologie der pietistischen Väter Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke ein. Petkūnas ist Pfarrer in der lutherischen Kirche Litauens und betreut einige Gemeinde im Raum Klaipėda.  Er hat schon einige wichtige Werke zur Reformationsgeschichte im Baltikum und Deutschland verfasst und gilt zurecht als der Historiker seiner Kirche. Die anderen Texte im Sammelband wurden von Sprachwissenschaftlern geschrieben.

Mitte Oktober wurde der Sammelband in einem Saal des Museums für kirchliches Erbe, einer ehemaligen Jesuitenkirche, in Vilnius offiziell vorgestellt. Die Veranstaltung moderierte Dainora Pociūtė, Professorin und Senatspräsidentin der Vilniuser Universität. Neben Inge Lukšaitė, die dieses Jahr ihren 80. Geburtstag feierte, ist Pociūtė (Jg. 67) die wichtigste Historikerin des Reformationszeitalters im Land.

Petkūnas stellte an dem Abend sehr anschaulich den Pietismus vor, konzentrierte sich dabei auf die Hauptfiguren wie Francke, dessen Strömung unter den Litauern prägend wurde. Nach seinem Vortrag von etwa 25 Minuten, unterstützt von zahlreichen Illustrationen, stellte Pociūtė noch einige Fragen (s.o. Foto). Eingepackt in eine kurze akademische Ausführung fragte sie im Grunde nach der Bedeutung des Pietismus für die Gegenwart – schließlich wurde die Bewegung im Buch wie auch bei der Vorstellung wiederholt als historisches Phänomen von zweihundert Jahren Dauer bezeichnet. Was also hat uns der Pietismus heute zu sagen oder mitzugeben? Gibt es vielleicht eine Art Fortsetzung oder Kontinuität bis in die Gegenwart?

Petkūnas Antwort war vielsagend. Der theologisch sehr konservative Pfarrer betonte, dass man nicht versuchen sollte, die Toten wieder aufzuwecken. Oder im Klartext: der Pietismus ist tot, nur noch ein rein historisches Phänomen. Er ging noch auf die Reste der pietistischen Frömmigkeit in der Sowjetzeit ein – und das war’s. Relevanz für die Gegenwart, Dinge, die es zu lernen gäbe, oder bleibende Einsichten, die in der Zukunft fruchtbar sein könnten –  Fehlanzeige. Hier kam von ihm rein gar nichts.

Bemerkenswert war nun Folgendes: Pociūtė ist, trotz ihrer tiefen Kenntnis der reformatorischen Theologie, eine Agnostikerin. Sie ist katholisch getauft, im evangelisch geprägten Kreis Šilutė (Heydekrug) aufgewachsen, bekennt sich aber zu keiner Kirche und zu keinem Glauben. Außerdem hat sie nicht wenige Sympathien für die Trinitätsleugner und Unitarier des 16. und 17. Jahrhunderts. Ausgerechnet diese nichtgläubige Frau, offensichtlich nicht ganz zufrieden mit der Antwort des Pfarrers, hakte nun nach: Aber Sie haben doch auch Bibelstunden und ähnliches in ihren Gemeinden? Man trifft sich doch in kleinen Gruppen… – Pociūtė versuchte eine Art Brücke zur Gegenwart herzustellen. In meinen Worten: Gibt es da nicht doch einen Rest von Kontinuität? Da muss doch noch was sein; es kann doch nicht sein, dass der Pietismus keinerlei Folgen mehr hat; da muss es doch was geben, was für die Gemeinden heute Inspiration sein könnte.

Doch da stieß sie bei dem Gemeindepfarrer wieder auf Granit. Petkūnas gab klar zu verstehen, dass der Pietismus tot ist und es trotz aller Verdienste in der Vergangenheit ruhig auch bleiben kann. Er sprach noch nicht einmal sein Bedauern über den Verlust von manchen wertvollen Traditionen aus, ganz zu schweigen von Dingen, die man ansatzweise vielleicht wiederbeleben könnte.

Der Abend endete für jemanden (wie den Autor dieser Zeilen), der in dieser Tradition groß geworden ist und nun im litauischen Gemeindedienst tätig ist, bitter enttäuschend. Petkūnas, immerhin auch eine Art Cheftheologe der litauischen Lutheraner, hält gar nichts von einer pietistischen Renaissance. Und es war paradoxerweise die Agnostikerin Pociūtė, die mehr Sorge für das gegenwärtige Gemeindeleben ausdrückte.

Womöglich wiederholt sich die Geschichte. Obwohl einige der pietistischen Köpfe wie Spener lutherische Geistliche waren, war der Gegenwind der lutherischen Kirchenleitung gegen das „Konventikelwesen“ mitunter stark. Die lutherische Orthodoxie konnte sich meist nicht mit dem Pietismus anfreunden. Nun schwimmt die lutherische Kirche Litauens wieder in stramm orthodoxen Fahrwasser (Kooperation mit der US-amerikanischen Missouri-Synode, Ablehnung der Frauenordination), was eigentlich zu begrüßen ist. Damit geht jedoch eine große Fixierung auf die Pfarrer einher – nun eine ernste Schwäche der Kirche (und nicht nur dieser). Gerade die Aktivierung der Laien könnte hier einen anderen Akzent setzen, doch dies ist von der Kirchenleitung, dominiert von den Pfarrern, offensichtlich nicht gewünscht (mglw. schätzen einzelne Ortspfarrer das pietistische Erbe anders und würden gerne seine Wiederbelebung sehen, doch in der eher hierarchisch ausgerichteten Kirche könnten sie eh kaum durchdringen).

So ist nun nach fast einem halben Jahrhundert Atheismus der Grundwasserspiegel der biblischen und theologischen Kenntnisse in der lutherischen wie der reformierten Kirche gering. Doch selbst für theologisch ausgebildete Laien (einer von ihnen absolvierte im Februar das EBI) findet man in der lutherischen Kirche keine angemessene Verwendung. Abgesehen von Kinderarbeit ist jede Art der Bibelauslegung, Wortverkündigung und Katechese Monopol der Pfarrer.

Dabei würden Prediger, Laienverkündiger oder Stundenhalter in der Zukunft dringend gebraucht!  In den evangelischen Gemeinden sind die allermeisten Pastoren und Pfarrer in ihren vierziger und fünfziger Jahren, nur der eine und andere ist jünger bzw. älter. Hier und heute befindet sich die Mehrzahl der Geistlichen also im besten Alter – erfahren, körperlich aber noch rüstig. In einer Generation werden sie jedoch in ihrer großen Mehrheit das Rentenalter erreichen bzw. erreicht haben. Ab etwa 2040 wird eine Masse von evangelischen Pastoren den aktiven Dienst verlassen. Und wer rückt nach? Ohne die sog. Laien wird die Lücke nicht zu füllen sein.

In der reformierten Kirche Litauens sehen wir all dies anders als die lutherischen Kollegen. Eine Stärkung der Laien ist erklärtes Ziel und wird teilweise in der Praxis umgesetzt – auch wenn die ‘Verehrung’ der ordinierten Talarträger auch in dieser Kirche groß ist. Schließlich gab es ja auch einen reformierten Pietismus, gerade in den Niederlanden und im Norden und Westen Deutschlands (Untereyck, Teelinck, Lampe u.a.). Zwar gibt es keine Übersetzungen von pietistischen Klassikern ins Litauische, doch können sich Reformierte und andere auf den Seiten der Kirche einen Überblick zu den Hauptthesen von Spener in seinem Werk Pia desideria machen.

Auch wenn der Pietismus in Teilen sicher kritisch gesehen werden muss und gewiß nicht alles in die Gegenwart übertragen werden sollte – wir Reformierte in Litauen sind der Uberzeugung, dass er nicht totgesagt werden darf. Wir müssen auch von diesen Vätern lernen, denn nur die reine Rechtgläubigkeit wird das Überleben der Evangelischen in Litauen nicht garantieren.