Vor 400 Jahren: Weichenstellung in Dordrecht

Vor 400 Jahren: Weichenstellung in Dordrecht

Die reformierte Konfession ist heute weltweit in Hunderte Kirchen und Denominationen aufgesplittert. In manchen Ländern wie den Niederlanden oder den USA verlieren selbst die Experten angesichts der breiten Vielfalt der reformierten und presbyterianischen Kirchen schnell den Überblick. Einige große Weltverbände (WCRC/WGRK oder WRF) drücken Einheit in dieser bunten Familie aus, doch eine weltweite Synode oder Generalversammlung aller reformierten Christen ist gar nicht mehr denkbar – zu weit hat man sich theologisch auseinander entwickelt.

Ganz anders sah dies noch vor vierhundert Jahren aus. Im holländischen Dordrecht saßen von November 1618 bis zum Frühjahr 1619 rund einhundert Vertreter verschiedener nationaler Kirchen zu Beratungen bei der ersten und einzigen gesamteuropäischen Synode der Reformierten zusammen. Kein Wunder, dass dies historische Ereignis in diesem Jahr in den Niederlanden angemessen begangen wird (hier mehr). Ansonsten ist es aber weitgehend still um die Synode von Dordrecht (oder Dordt bzw. Dort) geworden, und das liegt natürlich auch an den Lehrsätzen, die damals verabschiedet wurden. Selbst den allermeisten Evangelikalen sind sie weitgehend fremd geworden, werden in ihnen doch die „fünf Punkte“ des orthodoxen Calvinismus formuliert.

„Ein Band der Einigkeit“

Den Anstoß zur großen Synode von 1618/19 gaben die Lehren eines Theologen, der schon fast ein Jahrzehnt vor ihrem Beginn verstorben war. Jacobus Arminius (der Nachnahme wie damals üblich lateinisiert aus Hermanszoon, 1559/60–1609) war ein reformierter Pastor und Theologe. Er war an der Universität in Leiden ausgebildet worden und hatte seine Studien in Genf und in Basel fortgesetzt. In Amsterdam wurde Arminius ordiniert und diente dort als Pfarrer von 1588 bis 1603. Anschließend wurde er zum Professor der Theologie in Leiden berufen.

An der Hochschule entfernte sich Arminius in seinem Denken immer weiter vom bisherigen Konsens der Calvinisten in den Niederlanden. „Die Auseinandersetzung mit Kapitel 9 des Römerbriefs ließ in ihm die Erkenntnis reifen, dass sich die Zugehörigkeit zum Gnadenbund nicht allein am souveränen Ratschluss Gottes entscheidet, sondern auch am Menschen“, so Pfr. Sebastian Heck (Einleitung zur Lehrregel im Bekenntnisbuch der SERK). Arminius vertrat nicht mehr die Lehre (wie sein Kollege und baldiger Gegenspieler Francisus Gomarus), dass die Erwählung Gottes bedingungslos und von Ewigkeit her ist. Robert Godfrey schreibt hier: „Jüngste Studien über sein [Arminius] Werk haben geschlossen, dass er nicht so sehr durch ein Verlangen getrieben war, ein gewisses Maß an menschlicher Freiheit oder Kooperation bei der Errettung auszudrücken, sondern durch ein Verlangen, die Güte Gottes gegen jedes Anzeichen zu verteidigen, dass Gott ein Tyrann oder der Urheber der Sünde sei.“

Die Anhänger des Arminius (daher „Arminianer“) folgten dem Professor in der Ablehnung der calvinistischen Lehre der Erwählung, wurden nach dessen Tod aber auch immer radikaler in ihren theologischen Überzeugungen. Konrad Vorstius  und Simon Episcopius, die beide ebenfalls in eine Weile in Leiden lehrten, standen dem Sozinianismus nahe. 1610 legten sechsundvierzig von ihnen den eigenen Standpunkt in fünf zusammenfassenden Punkten vor, die sog. „Remonstranz“ (eine Art Gegendarstellung oder Einwand). Nach ihr nannten sich die Arminianer selbst Remonstranten – ein Name, der bis heute von einer liberalen niederländischen Denomination gebraucht wird.

Heck fasst den Inhalt der Thesen der Remonstranten zusammen: „Im ersten Punkt lehrten die Remonstranten die bedingte, auf Gottes Voraussicht des Glaubens begründete Erwählung. Im zweiten Punkt wird ein universales Sühnopfer Christi vertreten gegenüber der klassisch-reformierten Lehre vom stellvertretenden Sühnopfer Christi, das nur für die Erwählten wirksam wird. Im dritten Punkt vertraten sie eine stark abgeschwächte Erbsündenlehre oder Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen. Im vierten Punkt wurde die Gnade Gottes als eine ‘Befähigung’, nicht jedoch als eine unwiderstehliche göttliche Kraft gedeutet, und im fünften Punkt schließlich lehrten die ‘Arminianer’ die stets vorhandene reelle Gefahr und Möglichkeit des totalen Abfalls vom Glauben gegenüber der Betonung der reformierten Bekenntnisse auf die göttliche Bewahrung der Heiligen.“

Damit wichen die Remonstranten von der Lehre im Heidelberger Katechismus und im Niederländischen Glaubensbekenntnis ab und forderten daher auch eine Revision dieser Bekenntnistexte der reformierten Niederländer. Aus der akademischen Debatte wurde ein bedeutender theologischer Streit, der sich ausweitete und die Kirche zu spalten drohte. Die Spannung in der niederländischen Gesellschaft wurde so groß, dass ein Bürgerkrieg eine ernste Möglichkeit darstellte.

Die von Arminius aufgeworfenen Fragen gingen aber sicher nicht nur die Niederländer an. Die Brisanz für den gesamten reformierten Glauben wurde früh erkannt, und so war die Antwort auch eine europäische. Um die Remonstranz zu diskutieren und auf ihre Herausforderung zu reagieren, wurden zum Herbst 1618 Repräsentanten aus den meisten reformierten Kirchen Europas eingeladen. Die Teilnehmer aus Städten wie Bremen und Emden, aus deutschen Territorien wie der Pfalz und Hessen, aus Ländern wie der Schweiz und England, hatten wie die Niederländer volles Stimmrecht bei der Synode. Nur die Franzosen konnten wegen eines Verbots ihres Königs nicht erscheinen. Dennoch war die Synode in ihrer Internationalität ein großer Erfolg: „Durch die Dordrechter Synode und ihre Beschlüsse wurde ein Band der Einigkeit um alle reformierten Kirchen vornehmlich innerhalb Deutschlands, der Schweiz und der Niederlande geschlungen“ (E. Böhl, „Blätter der Erinnerung an die Dordrechter Synode“, 1868).

Die einhundertachtzig Sitzungen der Synode wurden von Johannes Bogermann geleitet. Die Remonstranten um Episcopius sahen bald ihre Felle davonschwimmen und verhielten sich wenig konstruktiv. Im Januar mussten sie die Synode verlassen. Ihre Lehren wurden in ihren Schriften studiert. Nach einem halben Jahr Beratung und Diskussion wurden am 23. April 1619 die Dordrechter Lehrsätze verabschiedet, in denen die Lehre der Remonstranten verworfen wird.

Diese Lehrregeln von Dordrecht antworten auf die fünf Punkte des Arminianismus. Jede Lehrüberschrift ist in positive Artikel und Verwerfungen der spezifischen arminianischen Lehren aufgeteilt. Man hatte sich für eine klare und für alle Mitglieder der Kirche verständlich Ausdrucksweise bemüht, richtete sich mit dem Dokument also nicht nur  Professoren an den Universitäten. Außerdem schuf man bewusst kein neues Bekenntnis im eigentlichen Sinne (daher eben ‘nur’ „Lehrsätze“ oder lat. canones). E. Böhl: „Die Dordrechter Canones beanspruchen nicht, ein selbständiges Bekenntnis zu sein, sondern sie wollen nur das zur öffentlichen Anerkennung bringen, was nach gemeinsam reformiertem Urteil inklusive auch schon im Heidelberger Katechismus liegt.“

Die Synode von Dordrecht markiert einen wichtigen Punkt in der großen Debatte in der Kirchengeschichte über die Gnade Gottes. Eine Station war die Auseinandersetzung zwischen Pelagius und Augustinus, es folgten Erasmus und Luther, und nun Arminianer und orthodoxe Calvinisten. Die Härte all dieser Diskussionen zeigt, dass viel auf dem Spiel stand.

Erweichte Herzen

Der erste Teil der Lehrsätze betrifft die Erwählung oder Prädestination. Die Arminianer leugneten eine umfassende Vorherbestimmung. Vor allem lehrten sie, dass Gott Menschen erwählt unter Berücksichtigung ihres Glaubens. Gottes Erwählung ist also bedingt durch den Glauben. Dordrecht setzte dem in 18 Artikeln und 9 Verwerfungen der Irrtümer der Remonstranten die bedingungslose Erwählung gegenüber (engl. „unconditional election“).

Wie einige Jahrzehnte später dann auch das Westminster-Bekenntnis verwirft die Synode eine Erwählung einzig aufgrund des Vorherwissens Gottes: „Die Erwählung aber ist ein unveränderlicher Vorsatz Gottes, durch den er vor Grundlegung der Welt aus dem gesamten Menschengeschlecht… eine bestimmte Menge von Menschen, die weder besser noch würdiger als andere waren, sonden mit ihnen im gemeinschaftlichen Elend lagen, zum Heil auserwählt hat in Christus…“ (I,7)

Erwählung geschieht nicht, weil wir heilig sind, sondern damit wir heilig werden; nicht weil wir gläubig sind, sondern damit wir glauben. „Nach diesem Ratschluss erweicht er [Gott] die Herzen der Auserwählten gnädiglich, mögen sie noch so hart sein, und führt sie zum Glauben…“ (I,6).

Ähnlich auch der Puritaner John Owen (1616–1683) in The Death of Death in the Death of Christ: „Christus starb nicht, damit die Menschen gerettet werden, wenn sie nur glauben; sondern er starb für alle Auserwählten, damit sie glauben. Nirgendwo in der Schrift wird gesagt, dass Christus für uns starb, wenn wir glauben. Das würde unseren Glauben zur Ursache von etwas machen, das andernfalls nicht wahr wäre – unser Akt des Glaubens würde bewirken, daß sein Tod stellvertretend für uns ist. Aber Christus starb für uns, auf dass wir glauben mögen.“

Art. 15 bekräftigt den „Ratschluss der Verwerfung“, die Prädestination zum Unheil. Es gilt aber zu bedenken, dass die Lehrsätze (wie dann auch Westminster) in der Wortwahl Augustinus folgen und bei der Verwerfung von „übergehen“ (I,7) sprechen, also einige bei der Erwählung (zum Heil) ausgelassen, sie ihrem bösen Wesen „überlassen“ werden (I,6). In Art. 16 wird die pastorale und seelsorgerlicher Seite der Lehrsätze deutlich:

„Diejenigen, welche den lebendigen Glauben an Christus oder die sichere Zuversicht des Herzens, den Friedens des Gewissens… in sich noch nicht wirksam fühlen, aber doch die Mittel, durch die Gott dies in uns hervorzurufen versprochen hat, gebrauchen, diese müssen durch die Erwähnung der Verwerfung sich nicht irremachen lassen, auch sich nicht zu den Verworfenen zählen, sondern im Gebrauch der Mittel fleißig fortfahren…“

Eine Brücke bis fast ans andere Ufer

Der zweite Teil behandelt den Tod Christi und die Erlösung des Menschen. In neun Artikeln wird die Logik der Erlösungslehre geschildert. Art. 1 beginnt mit der Feststellung, dass Gott „im höchsten Grade“ barmherzig und gerecht ist. Dordrecht argumentiert hier ganz ähnlich wie der Heidelberger Katechismus: Christus ist der einzige „Bürge“ (2), der Tod des Gottessohnes „ist das einzige und vollkommenste Opfer und Genugtuung für die Sünden“, ausreichend, „die Sünden der ganzen Welt zu sühnen“ (3). Art. 5 betont, dass die „Verheißung des Evangeliums“ „allen Völkern und Menschen… ohne Unterschied verkündigt und vorgestellt“ werden muss. Art. 8 unterstreicht, dass es der freie Entschluss Gottes war, allein die Erwählten „mit dem rechtfertigenden Glauben zu beschenken und durch ihn [den Tod des Sohnes] untrüglich zur Seligkeit zu führen.“

Hier berühren wir die wichtige Frage: Was bewirkte Jesus mit seinem Tod genau?  Die Remonstranten lehrten, dass die Sühne bzw. Versöhnung unbegrenzt ist, d.h. möglicherweise können tatsächlich alle Menschen gerettet werden. In den Verwerfungen schildert die Synode zu Beginn jedes Punktes zuerst die Lehre der Arminianer:

„Christus hat durch seine Genugtuung für niemanden gewiß die Seligkeit selbst und den Glauben, durch den diese Genugtuung Christi… wirksam zugeeignet wird, verdient, sondern bloß dem Vater die Macht… erworben, aufs neue mit den Menschen zu handeln und ihnen neue Bedingungen nach seinem Belieben vorzuschreiben, deren Vollbringung vom freien Willen des Menschen abhinge, und es deshalb hätte geschehen können, daß entweder keiner oder alle sie erfüllten.“ (II, Verwerfungen 3)

Oder mit anderen Worten: Durch den Tod Jesu beginnt ein neues Spiel; die Karten werden neu gemischt – und das ist alles. Wir müssen glauben, und dieser Glaube ist zumindest zum Teil Werk unseres völlig freien Willens und hängt folglich von uns selbst ab. Einfach gesagt: Einen Teil der Erlösung vollbringt Gott, den anderen haben wir Menschen zu leisten. Wir groß auch immer der Anteil des göttlichen Handelns bemessen wird – das letzte Wort hat in jedem Fall der Mensch mit seinen Bemühungen.

Welchen Plan oder welches Ziel verfolgte Gott, als er seinen Sohn in die Welt sandte? Tatsächlich alle Menschen retten oder nur die Erwählten? Die Arminianer lehrten, dass Gott in Jesus dem Menschen die Möglichkeit der Erlösung gab, denn Jesus starb für alle. Die Lehrregel betonte, dass Gott die echte und ganze Erlösung denen zuteilt, für die Jesus starb.

Traditionell wird die Lehre von Dordrecht „begrenzte Sühne“ (engl. „limited atonement“) genannt, da die Sühneleistung des Sohnes nur den Erwählten zukommt.  Allerdings erscheint den Calvinisten der Begriff heute zu negativ; sie bevorzugen nun z.B. „definite atonement“ – gesicherte, zugesicherte Sühne und Erlösung. Der Anglikaner J. I. Packer (geb. 1926), der heute einer der wichtigsten Apologeten des Calvinismus ist:

„Gott ermöglichte nicht nur die Rettung derer, für die Christus starb; er sorgte auch dafür, daß sie zum Glauben kommen und in den Besitz ihres Heils gelangen. Das Kreuz rettet. Während die Arminianer nur sagen: Ohne Golgatha wäre meine Rettung nicht möglich gewesen, sagt der Calvinist: Christus erwarb meine Rettung für mich. Ersterer macht das Kreuz zum sine qua non des Heils, letzterer sieht es als die tatsächliche Ursache des Heils…“ („Introductory Essay to John Owen’s Death of Death in the Death of Christ“).

Auch der große Baptistenprediger aus dem 19. Jahrhundert C. H. Spurgeon kritisierte die arminianische Lehre scharf: „Die allgemeine Sühne ist wie eine große breite Brücke, die den Fluss aber nur zur Hälfte überspannt. Sie sagt klipp und klar, dass sie nur den halben Weg verschafft; sie stellt die Errettung keines Menschen sicher. Nun, ich würde meinen Fuß lieber auf eine schmale Brücke setzen, die bis zur anderen Seite reicht, statt auf eine Brücke, die breit wie die Welt ist, aber nicht bis auf die andere Seite führt.“

Kern der calvinistischen Auffassung ist die Überzeugung, dass es undenkbar wäre, dass Christus juristisch die Schuld eines Menschen auf sich genommen hat, für den diese Sühne jedoch nie wirksam wird. Man wehrt sich also dagegen, die Wirksamkeit des Opers Jesu aufzuteilen: in eine rein theoretische Sühne, die zwar angeboten werden kann, für die Verlorenen aber nie Wirklichkeit wird, und eine praktisch wirksame Sühne für die Wiedergeborenen. Hat Christus wirklich die Schuld bezahlt? Wenn man dies bejaht, gibt es nur zwei Antworten auf die Frage, für wen: für alle, d.h. allen ist tatsächlich vergeben und alle werden gerettet (Irrlehre des Universalismus); oder die Schuld der Erwählten ist bezahlt und nur sie werden errettet.

Greg Forster weist in seinem Buch The Joy of Calvinism auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin. Die arminianische Position will die Liebe Gottes groß machen. Doch was ist das für eine Liebe und was ist das für ein Gott, der niemanden ganz rettet? Forster formuliert das grundlegende Problem der Arminianer: viele sagen, dass Christus für alle starb, doch nicht alle werden gerettet. Wie passt das zusammen?

„Alle Versuche zur Lösung dieses Problems beginnen mit der Entpersonalisierung von Gottes rettender Liebe. Und eine andere Möglichkeit gibt es nicht… Wenn Gott will, dass alle Individuen persönlich gerettet werden [was die Arminianer behaupten], dann müssten auch alle Individuen gerettet werden; doch wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Der einzige Ausweg ist zu behaupten, dass Gottes rettende Liebe sich nicht auf einzelne Individuen richtet. Wenn wir also sagen, dass Gott nicht bestimmte Individuen persönlich vom Heil ausschließt, dann müssen wir gleichzeitig behaupten, dass er bestimmte Individuen nicht persönlich rettet.“

Forster sieht genau hier die Trennlinie zwischen dem Calvinismus und allen anderen theologischen Systemen: entweder richtet sich Gottes rettende Liebe auf die Menschheit in ihrer Masse, und dann macht sie Errettung nur möglich; oder diese Liebe richtet sich auf konkrete Personen und schafft und garantiert dann diese Errettung.

Operation am Herzen

In Teil III/IV behandelt Dordrecht die Verderbnis des Menschen und die Wirkung Gnade (17 Artikel und 9 Verwerfungen). Es gilt zu beachten, dass damals auch die Remonstranten die Verderbnis des Menschen lehrten. (Heute wehrt sich z.B. ein baptistischer Arminianer wie Roger E. Olson gegen den Vorwurf, Arminianer seien Anhänger des Pelagius; das mag für die evangelikalen Arminianer wie ihn gelten, aber die heutigen Remonstranten in den Niederlanden sind tatsächlich nur noch eine völlig liberale, ja unitarische [die Dreieinigkeit und anderen trad. Dogmen leugnende] religiöse Gemeinschaft.)

In den ersten Artikel wird gelehrt, dass der Mensch ursprünglich „nach dem Bild Gottes geschaffen“ ist und „völlig heilig“ war. Durch den Sündenfall „beraubte er sich selbst dieser ausgezeichneten Gaben und zog sich im Gegenteil an ihrer Statt Blindheit, fürcherliche Finsternis, Eitelkeit und Verkehrtheit des Urteils in seinem Verstand, Bosheit, Widergesetzlichkeit und Verhärtung in Willen und Herz“ zu (1). Diese Verderbnis ging auf alle Menschen von der Geburt an über (2–3). „Etwas natürliches Licht“ und „eine gewisse Neigung zu Tugend und äußerer Zucht“ ist dem Menschen geblieben, aber dies und auch nicht die Gebote „gewähren keine Kraft sich aus dem Elend herauszureißen“ (4–5).

Anschließend wird die wirksame Berufung durch die „Kraft des Heiligen Geistes“ (6) erläutert. Durch die äußerliche Predigt „erleuchtet [Gott] ihren Geist mächtig durch den Heiligen Geist“, „er dringt durch die Kraft dieses wiedergebärenden Heiligen Geistes ins Innerste des Menschen, öffnet das verschlossene Herz, erweicht das Verhärtete, beschneidet das Unbeschnittene, flößt dem Willen neue Eigenschaften ein, macht ihn aus einem toten zu einem lebendigen…“ (11)

Diese Wiedergeburt ist eine „völlig übernatürliche, sehr mächtige… Wirkung“, wie eine „Auferweckung der Toten“. Es wird betont, dass dieser wiedergeborene Mensch „durch diese empfangende Gnade glaube“ (12). Der Glaube ist „ein Geschenk Gottes“, das dem freien Willen nicht einfach angeboten wird, vielmehr wird der Glaube dem Menschen „wirklich erteilt, eingehaucht und eingeflößt“. Gott bewirkt sowohl den Glauben als auch „das Glauben-Wollen“ des Menschen (14). Die Wiedergeburt „hebt aber nicht den Willen und seine Eigenschaft auf oder zwingt ihn gewaltsam gegen seine Neigung, sondern macht ihn geistlich lebendig, heilt, bessert und beugt ihn gelinde und mächtig zugleich…“ (16).

Die Autoren der Lehrsätze sind überzeugt, dass sie mit dieser Lehre nichts anderes tun als Verse wie Hesekiel 36,26 korrekt zu deuten: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.“ Gott führt eine effektive Operation am Herzen aus. Die Arminianer dagegen glauben, dass die Gnade nur „ein leises Anraten“ am Herzen ist (III/IV, Verwerfungen 7); der gefallene Mensch können durch den „guten Gebrauch“ der nach dem Fall verbliebenen Gaben eine „größere…. seligmachende Gnade… stufenweise erreichen“ (III/IV, Verwerfungen 5); der gefallene Mensch wirkt mit seinem gefallenen Willen „mit zum Anfang der Bekehrung“ (III/IV, Verwerfungen 9). Roger E. Olson: „In der Erlösung ist Gott der wichtigere Partner, der freie Wille des Menschen (oder sein Nichtwiderstreben) der kleinere.“ (Arminian Theology)

Zu beachten ist, dass z.B. in Art. 15 deutlich gemacht wird, zu welcher inneren Haltung diese Lehre führen soll. Gott ist seine effektive Gnade niemandem schuldig, heißt es dort eingangs. „Wer daher jene Gnade empfängt, schuldet und bezeigt Gott allein ewig Dank“. Wer sich äußerlich zum Glauben bekennt und sein Leben bessert, über den ist „aufs beste zu urteilen und zu sprechen“, d.h. man muss sich im Urteil über den geistlichen Status an diese äußeren Dinge halten, „denn das Innerste der Herzens kennen wir nicht“, wissen also auch nicht fehlerlos, ob eine Wiedergeburt vorliegt. Gegenüber den Ungläubigen darf man nicht stolz sein, denn wir haben uns eben nicht selbst aus ihrer Reihe ausgeschieden; Gott hat die Gläubigen im Kern ohne ihr Zutun herausgerissen. „Man muss Gott anflehen“, dass er auch an ihnen wirkt (15). In allem hat der Gläubige ein „demütiges und dankbares Herz“ (7) zu bewahren.

Bewahrung zur Seligkeit

Der fünfte Teil der Lehrsätze „Vom Beharren der Gläubigen“ widmet sich stark dem praktischen christlichen Leben. Eingangs wird – wie auch in anderen reformierten Bekenntnissen (s. z.B. Heidelberger Katechismus 114) – eine sehr nüchternes Bild vom Leben der Frommen gezeichnet. Die Wiedergeborenen sind „zwar befreit von der Herrschaft und dem Joch der Sünde“ (1), bleiben aber dennoch Sünder, und selbst „den besten Werken der Heiligen kleben Gebrechen an, die ihnen ständig Stoff darbieten, sich vor Gott zu demütigen…“ (2). Gläubige haben noch „in diesem Leben mit verschiedenen fleischlichen Zweifeln zu kämpfen“ (11). Die „Macht Gottes“ festigt die Gläubigen in der Gnade, doch diese verfallen durchaus noch in Schuld, geben Versuchungen nach. „Deshalb müssen sie immerwährend wachen und beten, dass sie nicht in Versuchung geführt werden möchten.“ (4) Auch bei „trauigen Sündenfällen“  nimmt Gott den Geist „nicht ganz von den Sinen und läßt sie nicht so tief fallen, dass sie die Gnade der Kindschaft oder den Zustand der Rechtfertigung verlieren“ (6).

Nicht aus eigenem Verdienst oder eigener Kraft, „sondern aus der unverdienten Barmherzigkeit Gottes“ werden die Christen vor dem völligen Abfall bewahrt (8). Die Gläubigen dürfen der „Bewahrung der Erwählten zur Seligkeit“ gewiss sein (9), aber diese Gewissheit entspringt nicht „irgendeiner besonderen Offenbarung, die neben oder außer dem Wort Gottes geschehen wäre, sondern aus dem Glauben an die Verheißungen Gottes“ (10). Daher wird das „Werk der Gnade“ nicht durch die Predigt begonnen, sondern auch vollendet; man wird im Glauben gefestigt „durch das Hören und Lesen [des Evangeliums], durch Nachdenken über dasselbe, durch seine Ermahnungen, Drohungen, Versprechungen und den Gebrauch der Sakamente“ (14). Die Gewissheit der ewigen Errettung macht nicht „stolz und fleischlich sicher“, erhellt vielmehr die „wahre Wurzel der Demut“, ist ein „Antrieb zu ernsten und anhaltenden Übung in Dankbarkeit und guten Werken“ (12); sie bringt nicht „Übermut oder Mangel an Frömmigkeit hervor, sondern eine noch weit größere Sorge, die Wege des Herrn ängstlich zu bewachen…“ (13).

Arminianer wenden ein, dass doch offensichtlich nicht wenige vom Glauben abfallen. Calvinisten unterscheiden deshalb zwischen dem wahren, rettenden, rechtfertigenden Glauben und dem falschen, nicht rettenden und nicht dauerhaften Glauben. Wer vom ‘Glauben’ abfällt, besaß keinen wahren Glauben.

Problematisch war und ist natürlich, dass nach katholischem Verständnis mit der Taufe auch der Glauben eingegossen wird, jeder Getaufte also qua Taufe gläubig ist. Calvin kritisiert in Inst. III,2 den „ungestalteten“ oder „impliziten Glauben“ Roms, der zwar noch zu wachsen hat, aber doch schon echt ist. Calvin betont wie Dordrecht und alle Reformierten, dass es nur einen rettenden Glauben gibt, alles andere sind „Schatten oder Scheinbilder von Glauben“ und „verdienen die Bezeichnung ‘Glaube’ nicht“. Wie auch die Lehrsätze verweist er auf des Gleichnis vom Säman in Lukas 8, wo das zeitweise Aufgehen der Saat des Wortes für den Glauben steht; aber nur die fruchtbringende Saat zeigt den echten Glauben.

Calvin: „Unzweifelhaft haben diese Leute [scheinbar Gläubige] einen gewissen Geschmack von dem Wort in sich empfunden und ergreifen es begierig, auch fühlen sie seine göttliche Kraft, so dass nie nun mit dem trügerischen Schein des Glaubens nicht bloß das Auge anderer Menschen, sondern auch ihr eigenes Herz täuschen… Mag nun jene Zustimmung aussehen wie sie will, sie dringt jedenfalls nicht bis ins Herz hinein, um nun da fest eingewurzelt zu beiben… Das Menschenherz enthält soviel Verstecke für die Eitelkeit, soviel Schlupfwinkel der Lüge, es ist in derart betrügerische Heuchelei verkappt, dass es sich oft selber täuscht!“ (III,2,10)

Gott Vorschriften machen?

Die Lehren von Dordrecht können in fünf kurzen Punkten zusammengefasst werden, daher auch „fünf Lehren des Calvinismus“. Es gilt aber zu beachten, dass diese eben in erster Linie Reaktion auf die Herausforderung der Lehre der Remonstranten darstellten (eben auch fünf Punkte) und nicht das Ganze der reformierten Theologie sein wollen. Diese ist in den anderen Bekenntnistexten wie dem Belgischen (Niederländischen) Bekenntnis oder dem Heidelberger Katechismus zu finden. Daher sollte man diese fünf auch besser nicht als die wichtigsten Aussagen des Calvinismus bezeichnen. Dennoch sind sie wichtig, weil aufeinander aufbauend und in logischer Folge die Lehre vom Heil dargestellt wird.

Die Glaubensväter von Dordrecht haben die biblische und reformierte Gnadenlehre wieder neu formuliert und präzisiert. Dennoch ist ihre Leistung in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten. Selbst die Reformierten haben auf Landesebene keinerlei bedeutende Gedenkveranstaltungen für dieses Jahr geplant. Zwar werden nun nach und nach die Synodalakten herausgegeben, doch dies ist ein Projekt für wenige Experten. Viel mehr Aufhebens wird 2019 um das Karl Barth-Jahr gemacht, das der Reformierte Bund mit Sitz in Hannover verantwortet (vor einhundert Jahren erschien Barths Römerbrief).

Die Lehrsätze von Dordrecht haben die Gnadenlehre im Herzen des Christentum erneuert. Dennoch werden sie gerade heute mitunter sogar vehement abgelehnt. Und daran zeigt sich ein grundlegendes und sehr ernstes Problem: Wir glauben Gott Vorschriften machen zu können. Wenn schon Gnade, dann Gnade für alle gleich! Wenn schon ein liebender Gott, dann hat er gefälligst alle erlösen zu wollen! Doch wer sind wir, dass wir Gott Vorhaltungen machen?! Das Problem ist, dass wir meinen eine Art von Anspruch auf Gnade zu haben. Gott habe gefälligst zu erlösen, das ist ja schließlich sein Job (so schon Voltaire). Hier betont Dordrecht richtig: „Gott ist seine Gnade niemandem schuldig“ (III/IV, 15), und er muss sich auch nicht rechtfertigen, wenn er nicht alle Menschen rettet. Arminianer kontern, dass Gott ja gerne alle retten würden, wenn nicht dummerweise viele Menschen sich dagegen wehren. Aber wie soll das mit Paulus Argumentation vereinbar sein (s. Röm 9,14ff)?

Die Reformations-Gesellschaft-Heidelberg hat eine Jubiläumsausgabe der Lehrregel von Dordrecht herausgegeben, die hier heruntergeladen werden kann. Im April wird Kevin DeYoungs Grace Defined and Defended: What a 400-Year-Old Confession Teaches Us about Sin, Salvation, and the Sovereignty of God erscheinen. Empfehlenswert ist Matthew Barretts The Grace of Godliness: An Introduction to Doctrine and Piety in the Canons of DortGerade erschienen ist W. Robert Godfreys Saving the Reformation: The Pastoral Theology of the Canons of Dort. Einen guten Überblick zu den Lehrsätzen gibt Godfrey auch hier.