Besser als der „Heidelberger Kohl“?

Besser als der „Heidelberger Kohl“?

In der zweiten Hälfte des sechzehnten und zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gingen nicht wenige deutsche Territorien von der lutherischen zur reformierten Konfession über. Den Anfang machte die Kurpfalz. Um im Land Eintracht unter den Anhängern Luthers, Melanchtons und Calvins zu stiften, gab der Landesfürst den Heidelberger Katechismus in Auftrag, der 1563 erstmals erschien.

Unter Simon VI. wurde 1605 auch die Grafschaft Lippe reformiert. Einzig die Stadt Lemgo widersetzte sich und blieb lutherisch. Eine Weile wurde noch Melchior Angers Kurzer und einfältiger Bericht aus dem Jahr 1593 genutzt, ab 1618 (und in der Kirchenordnung von 1684 festgeschrieben) war dann rund zweihundert Jahre lang  auch in diesem Territorium der Heidelberger Katechismus Lehrgrundlage in Unterricht und Katechese.

Um 1800 drang jedoch die Aufklärungsphilosophie immer stärker in die evangelischen Kirchen ein – ein Prozess, der in vielen Ländern von Frankreich bis zum Baltikum ähnlich verlief. In Lippe erschien im Zuge dieser Entwicklung 1811 der Leitfaden für den Religions-Unterricht in den Schulen aus der Feder von Ferdinand Weerth (1744–1836). Der aus Barmen stammende Theologe (s.u. Stich) wurde schon mit 20 Pfarrer und 1805 Generalsuperintendent der Lippischen Kirche in Detmold. Ab der 2. Auflage befanden sich im Leitfaden auch zahlreiche Bibelverse und Gesangbuchstrophen.

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„Gute und immer bessere Menschen werden“

Weerths Leitfaden sollte bewusst an die Stelle des Heidelberger Katechismus rücken und die neue, von der Aufklärung geprägte Theologie verbreiten. Gleich zu Beginn wird das Ziel der allgemeinen Offenbarung Gottes nicht in der Erkenntnis der Sündhaftigkeit vor Gott gesehen (wie in Röm 1,18ff), sondern in der Ethik: „Wenn der Mensch anfängt, vernünftig über die Welt und sich selbst nachzudenken, so will er gern wissen, wer alles geschaffen habe, und wozu es geschaffen sei, wie er sich verhalten soll, und was er dann, wenn er sich gut verhält, erwarten dürfe.“

Anschließend wird kurz die Bibel vorgestellt. Auch ihre Zielsetzung sei vor allem eine ethische: „Wenn wir uns mit den Lehren der Bibel bekannt machen, und uns dann nach ihr verhalten, so werden wir verständige, gute, glückselige Menschen werden.“ Zu diesen guten Taten sei der Mensch durchaus fähig, denn die Gefallenheit wird ganz und gar nicht mehr in ihrer biblischen (und reformierten) Schärfe gesehen: „Die Neigung des Menschen zu dem, was ihm angenehm ist, will ihn oft abhalten von dem, was die Vernunft gebeut [gebietet]. Man nennt jene Neigung Sinnlichkeit und in der Bibel heißt sie oft das Fleisch.“ Tatsächlich ist „Fleisch“ der biblische Begriff für die gefallene Natur des Menschen, doch sie beschränkt sich nach protestantischem Verständnis keineswegs auf die Sinnlichkeit oder gewisse Neigungen.

Das Böse ist, „was uns angenehm und nützlich zu sein scheint…“ Böse ist, „was uns Gott durch unsere Vernunft und durch sein Wort verboten hat.“ Die Vorrangstellung der Vernunft vor dem Wort Gottes, das traditionell allein Sünde und Böses definiert hat, ist vielsagend. Anstatt die große Scheidung in der Menschheit an Glaube und Unglaube festzumachen, ist wieder das Streben zum Guten der Gradmesser: „Unter den Menschen fand von je her ein großer Unterschied statt. Einige bestrebten sich gut zu sein, wenn sie auch nicht ganz fehlerfrei waren, andere waren böse.“

Ist die Lehre vom Menschen und von der Sünde verkorkst, kann auch die Christologie nicht richtig sein. Zur Mission Jesu heißt es im Leitfaden: „Gott sandte ihn aus Liebe, um die Menschen zu belehren, zu bessern, zu beruhigen und zu beseligen.“ Diesem ethischen Morallehrer Jesus ging es angeblich zuerst um „gute Gesinnungen und Handlungen“, um „Menschen, die gern gut werden wollen“. Solche bräuchten „einen höhern Beistand zum Guten“, ja jeder Mensch benötige „eine große Veränderung zum Bessern, wenn er in das Reich Gottes aufgenommen werden will.“

Jesus wird vor allem „als Vorbild“ betrachtet. An seinen „großen Thaten“ erkennen wir, „daß Gott sehr liebevoll gegen uns gesinnt ist; denn Jesus verrichtete sie im Namen Gottes zum Besten der Menschen.“ Jesus kam nicht, um Sühne o.ä. zu leisten, also nicht, um ein Werk im eigentlichen Sinne zu tun, sondern um zu offenbaren, dass Gott im Grunde – trotz Sünde – nichts gegen uns hat. Zum Tod am Kreuz heißt es wenig eindeutig: „Freiwillig unterwarf sich Jesus den schmerzhaftesten und schmähigsten Leiden, weil es seine feste Überzeugung war, daß er dadurch den Willen seines Vaters erfüllen und seine Brüder beglücken werde; und wir sind ihm dafür und wegen alles dessen, was er für uns that, die größte Ehrfurcht, Liebe und Dankbarkeit schuldig.“

Was Jesus nun genau für uns tat, bleibt aber im Ungefähren. „Wir können durch ihn Vergebung unserer Sünden erhalten“, so in den Spuren der Tradition. Dies wird aber nicht weiter ausgeführt. Jesus ist, wie schon gesagt, vor allem Vorbild. Wie er sollen wir im Leiden „vertrauen“ und seine „Geduld, Liebe und Versöhnlichkeit“ uns „zum Muster nehmen“. Das Ziel des Christenlebens ist ein rein moralisches: „Wir sollen durch Jesus gute und immer bessere Menschen werden, indem wir seiner Lehre und der Leitung seines Geistes folgen.“ Und ganz unzweideutig: „die guten Menschen wird Jesus belohnen, die bösen wird er bestrafen“.

Schon in diesem dogmatischen ersten Teil des Leitfadens ist der Tenor ein moralischer und die Inhalte auf das Handeln ausgerichtet. Der lange „Zweite Theil“ ist der Morallehre im eigentlichen Sinne gewidmet und beginnt wie folgt: „Das Christentum lehrt uns, was wir für wahr halten sollen; es lehrt uns aber auch, wie wir gesinnt seyn und leben sollen. Dasjenige, was man zu tun schuldig ist, ist Pflicht.“ Die Erläuterungen dieser Pflichten nehmen dann Zig Seiten in Anspruch.

Matthias Freundenberg kommentiert den Leitfaden treffend: „Durch Vernunftgebrauch und uneingeschränkte Willensfreiheit ist der Mensch dazu ausgerüstet, als ‘Herr der Erde’ auf dem Weg moralischer Perfektionierung voranzuschreiten. Aus der ursprünglichen Freiheit zur Antwort wird eine Pflicht zu tugendhafte Lebensgestaltung.“ („Bewährte Freiheit“, in: Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitlalters)

„Gar kein kirchliches Bekenntnis“

Der Leitfaden ersetzte in Lippe den Heidelberger Katechismus. Seine Nutzung durch die Pfarrer wurde verpflichtend vorgeschrieben. Den aufgeklärten Eliten galt der über Jahrhunderte populäre Katechismus aus der Pfalz als nicht mehr zeitgemäß, was in einem Spottgedicht aus der Zeit gut zum Ausdruck kommt: „Wir wollen ihn  nicht haben, / Den Heidelberger Kohl! / An ihm mag der sich laben, / Dem Schimmel schmecket wohl! /… Was einst war gute Speise / In alt-vergangner Zeit, / Auf langer Erdenreise / Verschimmelt ist es heut‘. / Vom angeborenen Bösen / Das Herz in uns nicht spricht; / Zum Haß geschaffne Wesen – / Gottlob, das sind wir nicht!“

Der Ton der Verse ist scharf, da die Stimmung im Land damals durchaus aufgeheizt war. Es gab nämlich ab etwa 1830 in zahlreichen evangelischen Gegenden Deutschlands Gegenströmungen zur Aufklärungstheologie: die lutherischen und reformierten Erweckungsbewegungen. Im Lipper Land führte die Kritik an Weerths Leitfaden und das Ringen um die Wiedereinführung des Heidelbergers zum Katechismusstreit ab 1840.

Die Gegner des Leitfaden gingen 1845 in die Offensive mit Die alte und die neue Lehre, oder: Wer lehret den Weg Gottes recht? Das Büchlein vergleicht detailliert den Heidelberger mit dem Werk Weerths. In diesem würde „gar kein kirchliches Bekenntnis“ gelehrt, da es „weder mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, noch mit der Augsburger Konfession, noch mit dem Heidelberger, noch mit dem Lutherischen Katechismus übereinstimmt“.

Der Heidelberger enthalte dagegen „alle Grundlehren des Evangeliums unverkürzt und unverfälscht“; diese werden in ihm „klar und unzweideutig“ mitgeteilt und „in bündiger und lichtvoller Ordnung“ zusammengestellt. Dieser tröstet „mit der zuversichtlichen Gewißheit der Erlösung durch Christum, der Bewahrung und gnädigen Führung Gottes des Vaters, und der Gemeinschaft und Kraft des Heiligen Geistes“, der Leitfaden dagegen „mit gar nichts, als dem Unterricht“.

Die Lehre des Leitfadens entstamme „zum Teil aus der Schrift, zum Theil aus den Gedanken der natürlichen Vernunft“. Sehr gut wird dort formuliert, dass der erste Teil des Leitfadens „vom Fürwahrhalten“ handelt und damit weit hinter dem evangelischen Glaubensverständnis zurückbleibt. Der Leitfaden „will nicht zugegeben“, dass „die Sünde und Elend allgemein und groß sei“; nach ihm ist die Sünde „nur ein Fehler, nicht die Grundrichtung der verderbten Natur“.  Weiter: „Da ist also weder von einem Sündenfall, nicht von der Erbsünde, noch überhaupt vom Wesen der Sünde die Rede. Es war nur ein Fehltritt.“

„Dem Leitfaden ist Jesus nur nach seinem prophetischen Amt, nicht nach dem Versöhnungs- und Königsamt bekannt“, wird richtig festgestellt, und noch klarer: „Der Jesus des Leitfadens erscheint nicht als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.“ Die Lehre des Leitfadens wird richtig so auf den Punkt gebracht: „Alle, die die Lehre Jesu für wahr halten und darnach thun, die sollen in Folge ihres Thuns durch die Lehre ewig beseligt werden.“

Noch im selben Jahr wurde mit einer Beurtheilung dieser Schrift von den Anhängern des Leitfadens zurückgeschossen. Aber es half nichts, der Heidelberger wurde 1858 wieder eingeführt. Gott sei Dank.

(S. auch „Der Heidelberger Katechismus in Lippe“)