Lernen vom Kardinal

Lernen vom Kardinal

Die katholische Kirche Litauens war zu Beginn der Unabhängigkeit 1990 in einer zwiespältigen Lage. Ein breites Netz an Pfarrgemeinden konnte auch in der Sowjetunion erhalten werden, betreut von immerhin um fünfhundert Priestern. Wie der damalige Zustand der orthodoxen Kirche in Russland zeigte, hätte alles auch viel schlimmer kommen können. Auf der andere Seite gab es aber so gut wie gar keine kirchlichen Werke und Einrichtungen, die Priesterausbildung hielt sich durch staatliche Schikanen gerade so auf kleinster Sparflamme. Daher war die Priesterschaft stark überaltert und die Kirche insgesamt auf die neuen Herausforderungen kaum vorbereitet.

Die meisten Bischöfe und Priester zeigten sich im atheistischen System als standhaft und gingen keine faulen Kompromisse mit den Kommunisten ein. Manche saßen dafür in Gefängnissen und Lagern wie der spätere Erzbischof von Kaunas Sigitas Tamkevičius. Gar jahrzehntelang konnte Vincentas Sladkevičius (1920–2000) sein Bischofsamt nicht ausüben, wurde von der Obrigkeit im Land hin und her geschoben. 1988 ernannte ihn Johannes Paul II zum Kardinal, und im folgenden Jahr konnte der schon fast 70jährige endlich seinen Dienst an der Kathedrale in Kaunas antreten.

In diesen Jahren traf der weitsichtige Papst einige wichtige strategische Entscheidungen. Er ehrte nicht nur einige aufrechte Kirchenmänner und Dissidenten. Um die Reform der Kirche in Gang zu bringen, berief  der Pole 1992 Audrys Juozas Bačkis (geb. 1937) zum Erzbischof von Vilnius. Bis zu seiner Emeritierung 2012 leitete der 2001 zum Kardinal Ernannte zwanzig Jahre lang das Erzbistum und viele Jahre auch die Bischofskonferenz des Landes. Kaum ein Geistlicher hat seit der Wiedergewinnung der Religionsfreiheit vor dreißig Jahren solche tiefe Spuren im kirchlichen Leben Litauens hinterlassen wie Bačkis.

Im Dienste Ihrer Heiligkeit

2016, schon im Hinblick auf den 80. Geburtstag des Kardinals im vergangenen Jahr, erschien ein umfangreiches Buch mit Gesprächen zwischen dem bekannten Dichter, Übersetzer und Publizisten Antanas Gailius und dem Erzbischof. Gailius stellt meist nur kurze Fragen, gibt Stichwörter. So ist mit Taip, laimingas (Ja, glücklich) eine Art Autobiographie des Kirchenmannes entstanden, die sich wegen des eher lockeren Gesprächstils einfach liest. Bačkis gibt daran tiefe und überraschende Einblicke in das eigene Leben und das seiner Kirche.

Bačkis wurde zwar in Litauen geboren, wuchs aber in Frankreich auf, da dort sein Vater als Diplomat der Litauischen Republik tätig war. Auch nach der Einverleibung Litauens in die UdSSR hielt Bačkis Sen. seinen Posten für das freie Litauen bei. Audrys ging in Paris zur Schule, fing eine Priesterausbildung im Land an und ging später zum Weiterstudium nach Rom. 1961 wurde der junge Mann zum Priester geweiht, ein paar Jahre später schloss er das Studium des kanonischen Rechts an der Lateran-Universität ab.

Es folgten Jahrzehnte im diplomatischen Dienst des Vatikans auf mehreren Kontinenten: Die Stationen lauteten Philippinen (1964–65), Costa Rica (1966–68), Türkei (1969–70) und Nigeria (1971–73). Von 1974 bis 1988 diente Bačkis im ‘Außenministerium’ der Kirche in Rom selbst. Als in der UdSSR die Perestroika Fahrt aufnahm und sich die Freiheitsbewegungen im Baltikum regten, war der Litauer dann Nuntius des Heiligen Stuhls (üblicherweise im Bischofsrang) in den Niederlanden. Dort erreichte ihn schließlich auch der Ruf des Papstes in die litauische Heimat, die er kaum kannte.

Johannes Paul II wählte für den schwierigen Job also einen Exillitauer, was eine mutige Entscheidung war. Vieles sprach gegen den Ausländer, war er doch mit der Situation vor Ort kaum vertraut: außerdem konnte er kein Polnisch, obwohl viele Pfarreien im Bistum polnischsprachig waren und sind (bis heute spricht Bačkis die slawische Sprache nicht). Dafür brachte der neue Erzbischof eine große Erfahrung im Dienst der Weltkirche mit. Kaum jemand hatte mehr Kontakte und Einblicke, kulturelle und politische Kenntnisse als der Diplomatensohn. Die Priester und Bischöfe Litauens hingegen waren lange Jahre in ihrem Land eingeschlossen und bekamen daher viele Entwicklungen in der Kirche einfach nicht mit.

7816305In Taip, laimingas wird an zahlreichen Stellen deutlich, dass Bačkis stark vom christlichen, freien Westeuropa und dem Westen allgemein geprägt wurde. Und das war ein großer Segen für die geschwächte Kirche. Auffallend und im hiesigen litauischen Kontext bis heute unüblich ist die große, manchmal schon provokante Offenheit, mit der Bačkis über seine Kirche und ihre Probleme und Herausforderungen spricht. Schmutzige Wäsche wird bei ihm nicht gewaschen, häufig nennt er keine Namen. Aber man erfährt oft, wie ungeheuer schwierig es war, die Kirche wieder auf Kurs zu bringen.

Sprachlich konnte sich der Litauer von Anfang an gut orientieren, doch nicht selten trafen unterschiedlich kulturelle Welten und damit auch Wertvorstellungen aufeinander. Nicht von der Sowjetzeit geprägte Geistliche scheuten die offene Auseinandersetzung und häufig auch das offene Wort, versuchten den Hierarchen für ihre persönliche Sache zu gewinnen. Am schmerzhaftesten für Bačkis war es, wenn ihm Pfarrer ins Gesicht kaltblütig die Unwahrheit sagten.

Bačkis wurde wegen seiner westlichen Prägung nicht zu einem Liebling im Klerus der Kirche und auch nicht im Kirchenvolk. Man respektierte ihn und achtet den einzigen Kardinal des Landes bis heute, aber dass Taip, laimingas im katholischen Litauen in recht kleiner Auflage erschien, spricht Bände. Es gab andere volksnahe und mitunter äußerst beliebte Mönche und Priester wie Vater Stanislovas (1918–2005), deren Schriften und Bücher über sie sich bis heute glänzend verkaufen.

Der Erzbischof hatte verstanden, dass es nicht darum geht, die eigene Popularität zu steigern. Bačkis hat immer die Interessen der Kirchen obenan gestellt und sich an ihrem Wohl ausgerichtet. Wohin die Kirche ihn schickte, ging er (wobei selbst der hierarchische Vatikan oft genug auf die Wünsche von Priestern und Bischöfen Rücksicht nimmt). Er ließ sich vor keinen Karren spannen, nicht den der Exkommunisten und den der Konservativen. Oft wehrte er sich gegen Anbiederung des Staates. Regierungsvertreter schmücken sich bis heute gerne mit Kirchenmännern.

Exkommunist in der Kathedrale?

Bačkis ließ sich von klaren Prinzipien leiten, die er auch gegen Widerstand verteidigte. Dies ist wohl die wichtigste Lektion, die auch Protestanten von ihm lernen können. Zwei Beispiele aus dem Buch.

Im Sommer 2010 war Algirdas Brazauskas verstorben. Der im Volksmund „Brazas“ genannte Politiker war der letzte Parteichef der KP Litauens kurz vor Ende der Sowjetzeit. Als Kandidat der Postkommunisten wurde er 1993 erster frei gewählter Präsident Litauens. Von 2001 bis 2006 führte Brazauskas als Premier die sozialdemokratisch geführte Regierung an. In weiten Teilen der Bevölkerung war der Vollblutpolitiker sehr beliebt.

Natürlich hatte Brazauskas über Jahrzehnte nichts mit der Kirche zu schaffen. Aber er war natürlich noch katholisch getauft worden (1932), und seit den 90er Jahren suchte er bewußt die Nähe zu Geistlichen und Bischöfen. Dies hinderte ihn nicht daran, sich von seiner Frau zu trennen und noch einmal zu heiraten.

Nach seinem Tod sollte der Staatsmann in der Kathedrale von Vilnius aufbewahrt werden – so der breite Volkswille. Die Kirche sträubte sich. Eine kirchliche Beerdigung war kein Problem, aber es entsprach einfach nicht den Regeln, einen Politiker in der Kirche aufzubahren – noch dazu jemanden, der seine Konfession nicht praktizierte und lange Jahre dem atheistischen System diente. Auf den obersten Hausherrn Bačkis wurde massiver Druck ausgeübt, selbst die Präsidentin rief den Erzbischof an und verlangte geradezu ein Einlenken der Kirche. Auch einige Bischöfe waren auf die Volksmeinung umgeschwenkt.

Bačkis stand am Ende mit Amtskollegen Tamkevičius allein da, ganz allein. Aber er bleib hart: Selbst für Brazauskas gab es keine Ausnahmeregelung. Die Kirche hat Kirche zu bleiben und darf sich nicht vom Staat zum Handlanger machen lassen. Öffentliche Kritik nahm er in Kauf, um seinen Überzeugungen und denen der Kirche treu bleiben zu können.

Alle Niederländer sind Calvinisten 

Ein anderes Erlebnis aus seiner Zeit in den Niederlanden. Ein Holländer, selbst Katholik, wies den Nuntius zu Beginn von dessen Amtszeit auf eine wichtiger ‘Tatsache’ hin: Alle Niederländer seien Calvinisten (reformierte Christen), und von diesen seien 40% Katholiken. Damit wollte dieser sagen: Alle Einwohner der Niederlande sind zutiefst vom reformierten Glauben und seiner Kultur geprägt, auch die dort ja recht starke katholische Kirche (nun neben den vielen reformierten immerhin schon die größte Einzelkirche).

In den späten 80er Jahren hatte der Nuntius Bačkis tatsächlich viel Ärger mit den calvinistischen Katholiken im Land. Die ließen ihre Pfarreien von Kirchenvorständen leiten, also nicht vom Priester. Auch sonst benahmen sich die leitenden Katholiken der Niederlande oft genug ‘protestantisch’ und lagen mit Rom nicht selten über Kreuz.

Mehrheitsreligionen prägen oft ein ganzes Land, was ein Stück weit unvermeidlich ist. Bačkis hatte aber klar vor Augen, wie weit diese Anpassung gehen darf, wo also Linien überschritten wurden und wo daher unbedingt Korrekturen gefordert sind. Die Leitung der Gemeinden wurde wieder den Priester übertragen, und einige (aus Perspektive des Vatikans) belehrungsresistente Bischöfe wurden versetzt – wie z.B. ins ferne Island!

Bačkis fühlte sich in den protestantischen Niederlanden von allen seinen Gastländern am unwohlsten, und die Anpassung an den Calvinismus stellt er im Buch als wahren Abfall dar. Natürlich sehe ich die reformierte Art der Kirchenleitung ganz anders als der Katholik aus Rom. Doch der Nuntius ließ sich auch hier von Überzeugungen leiten („wir sind keine Calvinisten“), die er recht geschickt im Land umsetzte.

In Litauen gilt Entsprechendes. Alle Litauer sind Katholiken, alle – in kultureller Hinsicht. Und dies ist kaum übertrieben. Hier bietet sich ein umgekehrtes Bild: So gut wie alle Kirchen sind Pfarrer- bzw. Pastorenkirchen, der Trend zum Klerikalismus und zur Alleinherrschaft der Geistlichen ist ungebrochen. Dies ist zwar auch dem sowjetischen Erbe geschuldet, liegt aber sicher nicht unwesentlich an dem katholischen Erbe Litauens.

Bačkis hatte in den Niederlanden erkannt: So geht’s nicht; wir müssen zu unsere katholischen Leitungsprinzipien zurückkehren; sie sind unsere Norm. Die evangelischen Christen Litauens sind heute dazu aufgerufen, sich an ihren protestantgischen Normen der Ekklesiologie zu orientieren. Sie dürfen sich nicht zu weit der dominierenden katholischen Kultur anpassen und müssen neu die Treue zu den eigenen Werten und Prinzipien hochhalten. Natürlich ist dies nicht die Herzensangelegenheit eines römischen Kardinals. Doch Bačkis selbst wird solche Festigkeit nur zu schätzen wissen.

(Foto o.: Bačkis im Hof der lutherischen Kirche von Vilnius Anfang September 2017 bei der Einweihung der Luther-Denkmals, das im Hintergrund zu sehen ist.)