Überlebensfrage

Überlebensfrage

Warum evangelische Bekenntnisse immer noch zeitgemäß sind 

Anfang Januar gab Gerrit Hohage im Internetportal des Christlichen Medienmagazins pro ein „Plädoyer für die Ökumene“. Unter der Überschrift „Mehr Gemeinsames als Trennendes: Katholiken und Evangelikale“ reagierte der evangelische Pfarrer auf die MEHR-Konferenz vom 4.–7. Januar in Augsburg. Hohage begrüßt darin die Veranstaltung, hinter der das Gebetshaus des katholischen Theologen Johannes Hartl steht und bei der „Angehörige der verschiedensten Konfessionen und Gemeinschaften zusammenkommen, um gemeinsam zu beten und Gott zu loben. Ihre Triebfeder: Das Einssein in der gelebten Jüngerschaft Jesu Christi.“

Hohage geht es in dem Beitrag nicht um Hartl und das Gebetshaus, die unter Evangelikalen kontrovers diskutiert werden. Er spannt vielmehr einen weiten Bogen und skizziert den heutigen Stand der Ökumene, im Blick dabei die Konferenz mit vielen Tausend Teilnehmern. Seine Eingangsthese: „Evangelikaler Konfessionalismus ist nicht mehr zeitgemäß.“

Das Plädoyer wirft jedoch nicht wenige Fragen auf: Was ist mit dieser These gemeint? Ist sie stimmig? Wie ist es zu verstehen, dass nun das Gemeinsame das Trennende überwiegt? Der Pfarrer der badischen Landeskirche schreibt, dass es im Verhältnis von Evangelikalen und Katholiken „einige Fäden [gibt], die entwirrt werden müssen“. Das ist wohl wahr, gilt aber genauso für Hohages Artikel selbst. Seinen vier Klarstellungen möchte ich vier Unterscheidungen entgegensetzen. Zum Abschluss dann einige Bemerkungen zur Relevanz der Diskussion für die Situation in Litauen.

Geistliche Verbundenheit und Einheit der Kirchen

Hohage geht von der Tatsache aus, dass die Konferenzteilnehmer aus verschiedenen Kirchen die Erfahrung der „realen Gegenwart“ Jesu und „der Glaube an ihn“ verbindet. Viele Katholiken und Evangelikale machen die „Erfahrung der Geschwisterlichkeit“, sehen sich in „tiefer geistlicher Verbundenheit“. Denn der Heilige Geist macht „offensichtlich nicht an Konfessionsgrenzen halt“.

All dies ist natürlich richtig. Wirklich neu sind diese Gedanken aber nicht. Die alle Kirchen überschreitende geistliche Einheit der wahrhaft Gläubigen ist eine protestantische Kernüberzeugung. Schon immer glaubten Evangelische, dass allein der Glaube rettet, mit Christus verbindet und Anteil am Leib Christi gibt; und dass dies nicht direkt an die Mitgliedschaft in der einen oder anderen Kirchen gebunden ist.

Auch die Reformatoren setzten die eine, heilige und apostolische Kirche keineswegs mit allen Evangelischen gleich. Dass es zu den geschwisterlichen Begegnungen im Verlauf der Reformation und danach, während der Gegenreformation, viel seltener als heute kam, sollte nicht verwundern. In einigen Ländern konnte nur unter Lebensgefahr am evangelischen Glauben festgehalten werden.

„In der persönlichen Begegnung spürt man den Geist, der da weht.“ Tatsächlich entwickelt man als Gläubiger ein gewisses Gespür dafür, wo in fremden Kirchen und Menschen der Geist wirkt und wo er in der eigenen Konfession abwesend ist. Doch man bleibe mit Urteilen vorsichtig. In großer Weisheit haben die reformatorischen Väter diese Nähe über Kirchengrenzen hinweg an die Treue zum Evangelium gebunden. Heute kann man z.B. in Litauen hören, wie franziskanische Mönche in buddhistischen Ordensmitgliedern ihre „Brüder im Geiste“ sehen (und umgekehrt), was aus evangelikaler Perspektive höchst fragwürdig ist. Geisteserfahrung und Gefühl von Nähe als solche sind noch kein Beleg für die wirkliche Anwesenheit des Geistes Gottes.

Hohage bezieht sich auch auf den „Ruf zur Einheit“ in Johannes 17. Dort bekräftigt Jesus die Einheit in Gott durch den Glauben an ihn. Das Kapitel macht aber ebenfalls deutlich, dass dies eine Einheit in Wahrheit ist. Es ist vor allem Aufgabe der Kirchen als sichtbare Institutionen, diesen Aspekt der Einheit auszudrücken.

Es mag ja durchaus sein, dass ich als evangelischer Christ mit meinen katholischen Geschwistern im Geiste verbunden und in dieser Hinsicht ganz eins mit ihnen bin. Daraus folgt jedoch nicht, dass die jeweiligen Kirchen, zu den man gehört, einig in der Wahrheit sind. Besteht ein großes Maß an Lehrunterschieden in wichtigen Punkten, kann nicht von der geistlichen Einheit Einzelner auf die Einheit ganzer Kirche geschlossen werden. Verbundenheit von Geschwister durch den Geist ist echt und als solche ohne Mangel; Verbundenheit der Kirchen steht auf einem anderen Blatt und ist wegen mehr oder weniger großem Lehrdissens oft unvollständig. Als Mitglieder von sichtbaren Kirchen kann dann z.B. die Abendmahlsgemeinschaft häufig nicht praktiziert werden, weil die Kirchen sich (wie die römisch-katholische und die evangelischen) hier alles andere als einig sind.

Menge der Unterschiede und Gewicht des Trennenden

Evangelikale und Katholiken hätten „mehr Gemeinsames als Trennendes“, so die Überschrift. Heutzutage wird gerne formuliert, das Gemeinsame der Kirchen überwiege eindeutig das Trennende oder sei wichtiger. Dabei wird leider meist übersehen, dass solche allgemeinen Aussagen zwar inhaltsreich und einleuchtend klingen, sich bei näherer Betrachtung als weitgehend hohl erweisen. Immer muss gefragt werden, in welcher Hinsicht von Gemeinsamem und Trennendem zu sprechen ist.

Geht es um unser Menschsein, so haben wir auch mit Buddhisten und Atheisten gewiss mehr gemein, als dass uns trennt. Geht es innerhalb der Religionen um den Glauben an Gott, so haben wir mit Muslimen mehr Gemeinsames als Trennendes. Geht es um den Lebensschutz, so besteht hier trotz grundlegender Unterschiede in der Ethik zwischen Evangelischen und Katholiken eine großer Konsens.

Ohne die Fragestellung und den Themenbereich zu konkretisieren, kann jedoch überhaupt nichts Gehaltvolles über die Beziehung von Evangelikalen und Katholiken gesagt werden. Nimmt man die genannte geschwisterliche Verbundenheit als das Gemeinsame und stellt diesem dogmatische Unterschiede als das Trennende gegenüber, so ist dies ein Vergleichen von Äpfeln mit Birnen. Und selbst wenn man sich auf wirklich Vergleichbares wie Lehren beschränkt: Es würde wenig Sinn machen, die dogmatischen Inhalte einfach aufzulisten und die Gemeinsamkeiten abzuhaken, um so zu einem klaren Urteil zu kommen. Schließlich gewichten die Kirchen ihre Inhalte unterschiedlich.

Hohage nennt konkret das Dokument „,Schrift und Tradition’ und ,Die Rolle der Kirche für das Heil‘“ vom Jahresende 2017. Weltweite Evangelische Allianz (WEA) und Vatikan formulieren darin „als gemeinsame Grundlage“ des Glaubens „das alles Entscheidende, nämlich dass Jesus Christus für unsere Sünde am Kreuz gestorben ist, uns mit Gott versöhnt und uns persönlich in seine Nachfolge ruft“. Man habe die „entscheidenden Grundlagen des Glaubens“ gemeinsam. Dies verbinde mehr „als Trennendes trennen kann“.

Natürlich verbindet die Botschaft von Jesu Tod am Kreuz. Und gewiss ist das Ausmaß der Gemeinsamkeiten zwischen Rom und Evangelischen an sich groß. Damit ist aber so gut wie gar nichts über das Gewicht des Trennenden gesagt. So ist die Leugnung des Kreuzestodes Jesu im Islam von so großem Gewicht, dass alle Ähnlichkeiten im Gottesverständnis mit den Christen gleichsam zunichte gemacht werden.

Woher wissen wir denn, dass das eine mehr verbindet als das andere trennt? Das Entscheidende sind ja nicht nur die grundlegenden Heilstatsachen; hier besteht tatsächlich große Einheit. Kaum weniger entscheidend ist aber auch der Weg zu diesem Heil und das Leben im Glauben – und hier ist über die Rolle von Glauben und Werken, von der Gnadenlehre, den Sakramenten usw. zu reden. Es ist ja kein banaler Unterschied, wenn die eine Kirche lehrt, dass man durch die Taufe zu neuem Leben wiedergeboren, mit Geist erfüllt und ein Kind Gottes wird, und eine andere dies eindeutig ablehnt.

Außerdem gilt es zu bedenken, dass es weitere Grundlagen des Glaubens gibt, in denen es zwischen Rom und den Evangelischen weiterhin tiefgreifende Differenzen gibt. Hier ist das Verhältnis von Mensch und Gott zu nennen – über so Grundlegendes wie die Ebenbildlichkeit des Menschen und seine Sünde denken die Konfessionen deutlich anders. Auch das Verhältnis von Natur und Gnade muss hier erwähnt werden, schließlich das Kirchenverständnis.

Zu Jesu Zeiten hatten Juden und Samaritaner eine weitgehend gleiche Theologie und aus heutiger Sicht wahrlich mehr Gemeinsames als Trennendes – im Vergleich zu den Heiden allemal. Die Grundlagen des Glaubens waren sehr ähnlich. Doch Jesus selbst machte deutlich, dass der samaritanische Glaube falsch ist (Joh 4,22). Auch bei den Konflikten innerhalb des Volkes Israel im Alten Testament, angefangen beim Goldenen Kalb, wird immer wieder deutlich: Es mag viel Gemeinsames geben, und dennoch können selbst einzelne Punkte entscheidende Bedeutung gewinnen und scharfe Trennung mit sich bringen. Schließlich überwog ja auch zwischen den Aposteln bei weitem das Gemeinsame, und dennoch schreckte Paulus nicht vor Streit mit Petrus zurück (Gal 2,11f). Ein einzelner Lehrgegenstand und Konfliktpunkt kann entscheidende Bedeutung gewinnen.

Hohage sieht vor allem das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche (1962–65) in sehr positivem Licht: „Dieses Konzil markiert tatsächlich einen Wendepunkt: Wir haben es heute mit einer Katholischen Kirche zu tun, die eine tiefgehende geistliche Erneuerung durchlaufen hat, und zwar eine christozentrische. Christus das Fundament, Christus in der Mitte.“

In diesen Zusammenhang fällt sogar das Stichwort „Reformation“. Auch Johannes Hartl behauptet in Katholisch als Fremdsprache: „Was Luther ursprünglich wollte, wurde weitgehend durch dieses Konzil erfüllt.“ Dies ist wohl bewusst eher diffus formuliert (was bedeutet hier „ursprünglich“ und „weitgehend“?), im Kern aber sicher Wunschdenken. Das Konzil war aus evangelischer Sicht sicher keine nachgeholte „Reform an Haupt und Gliedern“, wie sie die Protestanten im 16. Jahrhundert forderten und dann selbst durchführten. Die Dokumente des Konzils nehmen wichtige Reformschritte vor, aber andere hat es auch Jahrhunderte zuvor schon in der Kirche Roms gegeben. Selbst Katholiken würden sicher bestreiten, dass so etwas wie eine Wende oder Umkehr stattgefunden hat. Wozu auch? Nach eigenem Verständnis hat die Kirche Roms nie eine echte Kehrtwende nötig gehabt.

Wie soll man daher die Rede von einer „tiefgehenden geistliche Erneuerung“ verstehen? Als Protestant kann ich diese in den Konzilstexten nicht entdecken, auch keine neue Christozentrik. Natürlich hat sich die römische Kirche immer als cristozentrisch bezeichnet und gesehen. Was aus protestantischer Sicht daran auszusetzen war, hat sich im Entscheidenden bis heute nicht geändert! Wer dies anders sieht, muss Belege liefern.

Die Christozentrik Roms ist immer noch verbunden mit Ekklesiozentrik, denn die Kirche ist die Fortsetzung der Inkarnation Christi, bildet mit diesem den „ganzen Christus“. Und noch immer meint man, der Weg zu Jesus führe auch über Maria. Die Gottesmutter ist wiederum der Prototyp der Kirche und besitzt analogisch die Eigenschaften des Sohnes; ihre Verehrung gehöre „zum Wesen des christlichen Gottesdienstes“, wie es im Katechismus (971) heißt. Die wahrlich nicht schwindende Mariologie vergiftet geradezu die Christusfrömmigkeit. So werden in katholischen Mehrheitsländern wie Polen oder Litauen selbst die schlimmsten Auswüchse des Marienkultes christozentrisch gedeutet. Sicher: Christus in der Mitte. Aber wenn sich da noch andere drängeln? Ich kann nun wahrlich nicht erkennen, dass Rom das „solus Christus“ übernommen hätte.

Wie könnte man nun dieses Knäuel entwirren und zu einem Konsens finden, welches denn die entscheidenden Grundlagen des Glaubens sind und wie sie im Einzelnen in den Kirchen gesehen werden? Ohne klar formulierte, entsprechend ausführliche Bekenntnistexte wird es nicht gehen. Protestanten haben hier ein reiches Erbe, formulieren aber auch in diesen Tagen Dokumente dieser Art. Der Vatikan hat diese Hausaufgaben schon immer gemacht. Auf evangelischer bzw. evangelikaler Seite genügt es da nicht, einfach einen Konsens quasi durch persönliches Dekret festzustellen.

Während der Konferenz in Augsburg wurden die Thesen von „Mission Manifest“ vorgestellt. In der siebten These geht es um die Inhalte des Glaubens: „zurück zur Bibel und zur Lehre des Glaubens“ (so bei der Vorstellung); „Wir müssen die Inhalte des Glaubens neu entdecken und sie klar und mutig verkündigen“ (im gedruckten Text). Sehr gut! Ja und Amen.

Aber diese Inhalte sind ja konkrete Inhalte, und wenn man sie ausformuliert (und will man mit ihnen arbeiten, ist dies unvermeidlich), dann wird man sich ganz schnell in konfessionellen Bahnen bewegen. Hartl selbst tut dies auch. Im kurzen Kommentartext zu These 7 heißt es, dass die Inhalte in der Bibel zu finden und „lebendig überliefert im Verstehen der Kirche, wie es der [katholische] Katechismus lehrt“, sind.  Hohages Worte spiegeln Hartls Slogans wie „Jesus in der Mitte“ ja wieder, aber wenn’s dann zu Sache geht, wird das katholische Lehrpaket frei Haus geliefert, mit allem Drum und Dran. Wie sollte es auch anders sein? Und dann stellt sich die einfache Frage: Paket annehmen oder nicht?

Evangelikale Bewegung und evangelische Kirchen

„Vor rund hundert Jahren waren die Fronten zwischen katholischen und reformatorischen Christen noch völlig unversöhnlich“, stellt Hohage ganz richtig fest. Solange die römisch-katholische Kirche alle Protestanten pauschal als Häretiker ansah (bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil), konnte dies kaum anders sein.

Bei ihm sind es aber nur die Evangelikalen, die eine Ablehnungsfront aufgebaut hatten:  Nicht wenige Evangelikale betrachteten bzw. betrachten die katholische Kirche als „die ‘Hure Babylon’ aus der Offenbarung des Johannes“. Hohage erwähnt außerdem die evangelikale Skepsis, mit der man die Arbeit des 1948 gegründeten Ökumenischen Rates der Kirchen begegnete; ihre Befürchtung, ob man sich beim Einlassen auf die Ökumene „am Ende in dasselbe liberale Fahrwasser begibt oder sich mit dem Antichristen oder der Hure Babylon einlässt“. Nun müsse aber „geprüft werden, ob die damaligen Gründe für den traditionellen evangelikalen Konfessionalismus heute wirklich noch zutreffen.“

Sicherlich ist Hohages Skizze in den groben Strichen korrekt, doch es ist hier dennoch einiges durcheinander geraten. Teile der evangelikalen Bewegung, vor allem aus dem Bereich des Dispensationalismus und nicht wenige Pietisten, sehen Rom als die Hure Babylon an, was (trotz mitunter scharfer Kritik am Papsttum) in dieser Klarheit sicher nicht Teil der reformatorischen Bekenntnistradition wurde (im Westminster-Bekenntnis wird in Kap. 25 über die Kirche davor gewarnt, dass Kirchen auch „Synagogen des Satans“ werden können; hier ist wohl Rom im Blick, aber auch selbst in Zeiten der äußerst scharfen Kämpfe im England des 17. Jhdts. wurde auch dort keine klare Identifizierung vorgenommen!).

Die Distanz zu den Aktivitäten des Ökumenischen Rates der Kirchen war natürlich völlig richtig und wurde von vielen theologisch konservativen Protestanten geteilt. Was soll nun aber „traditioneller evangelikaler Konfessionalismus“ sein? Reformatorischer Konfessionalismus, also lutherischer und reformierter? Doch dieser ist wohl nicht gemeint. Die Haltung des Abgrenzens? Aber was hat das mit Konfessionalismus zu tun? Jede Konfession, jedes Bekenntnis, ja jede Lehre und jede Wahrheitsaussage zieht Grenzen. Also ein zu strenges Abgrenzen?

Um es klar zu sagen: Es gibt keinen evangelikalen Konfessionalismus im eigentlichen Sinne. Denn die evangelikale Bewegung ist eben genau das: eine breite und recht lose, kaum exakt zu definierende Bewegung. Sie wird durch einige wenige Grundüberzeugungen, eine geschichtliche Prägung, gewisse Traditionen, auch Personen und Werke, zusammengehalten. Dieses Zusammensein ist aber wahrlich locker und zerfranst nun am Rande immer mehr. Die Evangelikalen bilden Netzwerke, von denen die Evangelischen Allianzen wichtige sind, keine Konfessionen.

Eine Grundlage der Bewegung und der Strömungen in ihr sind keine Bekenntnisse, sondern Dokumente zwar verwandter, aber anderer Art: die „Glaubensgrundlage“ der Allianz, die „Lausanner Verpflichtung“ und andere „Erklärungen“. Sie haben nicht den bindenden Charakter wie z.B. die altkirchlichen Bekenntnisse oder diejenigen aus der Reformationsepoche. Man orientiert sich an ihnen, mehr auch nicht. Vor allem decken sie nicht annährend den ganzen Lehrbereich der Dogmatik ab, können daher gar nicht als alleinige identitätsstiftende Grundlage dienen. (Sicher können die Linien hier nicht zu scharf gezogen werden. Manche Dokumente wie das „confessional statement“ der „Gospel Coalition“ gehen recht weit in Richtung Bekenntnis, was dann natürlich auch dem Netzwerk eine stärker konfessionelle Prägung gibt, in dem Fall eine reformierte.)

Dies ist auch im Hinblick auf die Gespräche zwischen WEA und Vatikan und die daraus hervorgehenden Dokumente zu bedenken. Natürlich können solche Gespräche sinnvoll sein, und so etwas wie die Übereinkunft zum Verhaltenskodex für Mission („Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“) ist zu begrüßen. Aber die WEA ist eben doch nur ein loses Netzwerk. Es ist nicht klar, wie viele Christen sie denn nun wirklich repräsentiert (Angaben können nur auf recht groben Schätzungen beruhen); und die Art der Repräsentation ist eine prinzipiell andere als in der römischen Kirche, aber auch anders als bei Kirchen und Kirchenbünden mit z.B. synodaler Verfassung.

Die Allianz ist schließlich ein Christenbund und kein Kirchenbund. Daher kann sie auch auf Weltebene nicht die Fragen klären, die die Kirchen bzw. ihre Weltverbände untereinander klären müssen. Die Allianz kann von ihrem Ansatz her gar nicht die großen Konfliktpunkte, aufgeworfen in der Reformation, klären, weil ihr die Ausgangsbasis dafür fehlt: umfassende, ausführliche, klare und präzise Glaubensdokumente wie die großen reformatorischen Bekenntnisse, die den Glaubensinhalt für die Mitglieder konkret festschreiben.

Evangelicalism is not enough“, Evangelikalismus reicht nicht, wie Carl Trueman sagt. Evangelische Christen mit evangelikaler Prägung brauchen auch eine Verankerung in einer kirchlichen, konfessionellen Tradition im eigentlichen Sinn. Das „bloße Christentum“ (C.S. Lewis‘ „mere Christianity“) oder auch evangelikale Grundüberzeugungen  reichen nicht, um Kirche zu bauen. „Evangelikal“ ist eine zusätzliche Identität – ähnlich wie die europäische Staatsbürgerschaft die nationale ergänzt. Evangelikalien ist keine Heimat, nur eine konkrete Konfession kann es sein. Denn echter Konfessionalismus ist immer ein kirchlicher Konfessionalismus. Die Evangelikalen bilden keine eigene Konfession, und wenn sich dereinst eine evangelikale Bekenntniskirche gründen sollte, dann wäre sie eben genau dies: Kirche und nicht Bewegung.

Wenn Hohage also feststellt, dass evangelikaler Konfessionalismus „nicht mehr zeitgemäß“ ist, aber weitgehend unklar bleibt, was er damit überhaupt meint, dann spiegelt sich darin nur eine der großen Schwäche der Evangelikalen wieder: ein verschwommener Begriff von Kirche und Konfessionalität. Gewiss, keiner leugnet sie als solche, aber im Fokus stehen die gemeinsamen Aktivitäten. Von Rom mit einem klaren und stabilen, zugleich tiefen und weiten Kirchenverständnis werden die Evangelikalen da leicht über den Tisch gezogen.

Schließlich fragt Hohage, „wie wir Evangelikale es schaffen wollen, angesichts zunehmender einander widersprechender Auslegungen der Heiligen Schrift auch in zentralen Themen die Einheit des Glaubens zu wahren, ohne dabei auf die ‘Tradition’ (z.B. die Glaubensväter, und seien es die aus unserer eigenen Bewegung) oder ein Lehramt zurückzukommen. Kann die evangelikale Auffassung der Heiligen Schrift als ‘höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung’ (Glaubensbasis der Ev. Allianz) diese Glaubenseinheit aus sich selbst heraus noch gewährleisten?“

Diese Sätze veranschaulichen nur das eben Gesagte. Natürlich schaffen die Evangelikalen dies nicht! Mich wundert allein schon die Fragestellung. Noch einmal: Evangelikalismus allein reicht nicht. Ja, man muss auf eine Tradition, Glaubensväter und Bekenntnisse der Vergangenheit zurückkommen und sollte zu dieser Tatsache stehen. Alles andere ist naiv. Schließlich ist die „evangelikale Auffassung der Heiligen Schrift“ als „höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ ja nicht nur die evangelikale Auffassung – als ob die Evangelikalen diese erfunden hätten. Es ist die Auffassung der Reformation (während der sie natürlich auch nicht erfunden wurde), und wenn man nicht in dieser verwurzelt ist, wird auch diese Haltung der Schrift schlicht den Bach runtergehen, wie die Debatten der Gegenwart nur zu gut zeigen.

Allein aus sich heraus ist Evangelikalismus in lehrmäßiger Hinsicht zu herzlich wenig fähig. Schließlich fehlt dem losen Netzwerk bei harten Konflikten über die Schriftauslegung die Möglichkeit, an gewissen Stellen klar zu sagen: dieser Lehre ist falsch, und zwar aus diesen und jenen Gründen. Dazu bedürfte es eben wieder ausführlicherer Bekenntnisse und kirchlicher Strukturen.

Konfessionalismus und Bekenntnisse

Hohage lehnt eine Form des Konfessionalismus ab, wobei unklar bleibt, was er damit eigentlich meint. Die Endung auf -ismus ist oft mit einem abwertenden Ton verbunden (Dogmatismus, Rassismus usw.). Klar, dass Konfessionalismus kein Kompliment ist. Konkret nennt er jedoch nur die Brandmarkung der Kirche Roms als satanisch, und die diese Position sei eindeutig nicht mehr zu halten:

„Es gibt keinen geistlichen, vom Heiligen Geist gewirkten Grund mehr, das heute noch so zu sagen. Und selbst wenn die Katholische Kirche das Potenzial dazu einmal gehabt haben sollte, so zu werden, sieht die Situation heute anders aus: Wir haben die für uns entscheidenden Grundlagen des Glaubens und viele ethische Ansichten gemeinsam.“

Nun war der dämonische Charakter Roms unter Protestanten immer umstritten. Die Ablehnung einer gewissen Extremposition bedeutet noch lange nicht, dass Konfessionalismus ad acta gelegt werden könne. Hohage schwingt nun aber ins Gegenteil über und gibt zu verstehen, dass die katholische Kirche aus geistlicher Perspektive nicht mehr verworfen werden dürfe. Schließlich habe man die „entscheidenden Grundlagen des Glaubens“ gemeinsam. Möglicherweise war die Kirche eine falsche und höchst defizitäre, nun gelte dies aber nicht mehr.

Dies ist eine seltsame Argumentation. Hier lehnt sich der Pastor der badischen Kirche sehr weit aus dem Fenster, denn er setzt einfach fest: Wer heute noch die katholische Kirche scharf angeht, der hat den Heiligen Geist nicht auf seiner Seite. Es mag ja sein, dass man zu positiven Eindrücken durch die recht katholisch geprägte MEHR-Konferenz kommen kann. Hohage sollte jedoch anderen auch ganz andere Erfahrungen zugestehen. Man sollte nicht vom „evangelikalen Katholiken“ Hartl auf die ganze römische Weltkirche schließen. Gerade in den vom Katholizismus dominierten Ländern gibt es viele sehr unschöne (um es einmal so zu sagen) Phänomene, die immer noch reformatorisch strenge Reaktionen rechtfertigen (wie die „vermaledeite Abgötterei“ zur katholischen Messe im Heidelberger Katechismus, Fr. 80).

Die römisch-katholische Kirche sieht ihren Konfessionalismus als immer noch zeitgemäß an – aber hallo! Und daran wird sich nichts, aber auch gar nichts ändern. Auf der evangelikalen Seite sieht dies schon ganz anders aus. Steht man in Rom trotz aller Debatten und aller Bewegung fest auf seinem Fels, so ist von einem festen Stehen dort nicht so viel zu sehen.

100 zu 1

Man betrachte zum Abschluss nur, welche Schlussfolgerungen Ekkehart Vetter aus „Mission Manifest“ zieht. Der Vorsitzende der Evangelischen Allianz nahm an MEHR teil und meinte im Interview mit kath.net, dass dort „missionarische Grundüberzeugungen formuliert sind, die auch im evangelischen und speziell im evangelikal-charismatischen Bereich geteilt werden.“ Daher lädt das Thesenpapier in seinen Augen „auf jeden Fall zur Zusammenarbeit ein“. Im Hinblick auf die Konferenz begrüßt Vetter den Zug „in Richtung Neuevangelisierung Deutschlands“. Man solle sich auf evangelikaler Seite nicht zu schade sein, „auch auf den anfahrenden Zug noch aufzuspringen und mit zu wirken“.

kath.net kommt auf die „theologischen Unterschiede“ zwischen Katholiken und Evangelikalen zu sprechen und fragt, was zu tun sei, „wenn praktizierende Christen aufgrund ihrer konfessionellen Zugehörigkeit auf solche Unterschiede stoßen“. An dieser Stelle wird‘s leider wieder verwirrend. „Konfessionelle Zugehörigkeit“ – eigentlich meint dies, auch in der Sicht der Katholiken, die Identifikation mit einer Bekenntnistradition im Sinne einer echten Konfession und damit eben auch kirchlichen Tradition. Vetter spricht nun aber über die Glaubensbasis der Allianz. „Dies ist ein kurzer Text, der nicht alle dogmatischen Fragen anspricht, aber der Basisüberzeugungen eines an den zentralen Inhalten der Bibel orientierten Glauben beschreibt.“ Er gibt zu verstehen, dass sie auch von Katholiken geteilt werden könne, und betont: „Primär ist nicht die Konfession, sondern das Evangelium als Basis.“

Gewiss beschreibt sie „Basisüberzeugungen“, und natürlich ist das Evangelium die Basis. Aber all das ist nicht der entscheidende Punkt. Der Knackpunkt ist, ob wir als Evangelikale mit Rom tatsächlich genug Einheit in zentralen Fragen haben, um gemeinsam in einem Zug unterwegs zu sein.

Vetters Rückblick in die Geschichte der Allianz ist richtig, aber er bekräftigt seine heutige Sicht nicht. Die Glaubensbasis war Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen worden, damit Christen aus verschiedenen evangelischen Kirchen, die noch einen anderen breiten Grundkonsens gemein hatten (z.B. skizziert in den protestantischen sola – „allein“), eine tragfähige Grundlage haben, die ihre Kooperation erleichtert. Viele Evangelikale wie Vetter gehen nun weit darüber hinaus. Der „Ansatz über die Glaubensbasis“ mache es möglich, eine Gemeinsamkeit in ausreichend vielen „zentralen Fragen“ mit den Katholiken festzustellen, so dass „mehr Miteinander“, Zusammenarbeit in der Evangelisation und ein Fahren in einem gemeinsamen Zug (das obige Bild) möglich sei. Kritiker solch eines Vorgehens werden als diejenigen dargestellt, die immer „ein Haar in der Suppe“ suchen und finden.

Die Glaubensbasis wird hier jedoch gleichsam überfrachtet und soll leisten, was sie nicht leisten kann! Sie ist eben nicht das Instrument, um einen Grundkonsens zwischen Evangelischen und Katholiken in den zentralen Fragen überhaupt konstatieren zu können. Dies hat gar nichts mit dem Unwillen zur Zusammenarbeit oder Kritizismus oder Verdammung jeglicher Ökumene was auch immer zu tun.

Ich kann diesen Optimismus à la Vetter nicht teilen, weil er auch dem Katholizismus nicht gerecht wird. Viele Katholiken wie auch Hartl sehen in der Glaubensbasis auch ihre „Basisüberzeugungen“. Aber sie haben daneben aber noch ganz andere, die nicht einen Deut weniger wichtig sind! Das Kirchenverständnis gehört dazu, das hierarchische Amtsverständnis, damit verbunden wiederum die Lehre von den Sakramenten und im Kern die Eucharistie. Daher ist Neuevangelisierung im katholischen Verständnis im Kern eine Hinführung zu den Sakramenten.

Tatsächlich ist das Bild vom Zug sehr hilfreich. Allerdings ist der von Vetter beschriebene Zug eben kein irgendwie allgemein christlicher oder missionarischer – es ist ein katholischer Zug mit katholischem Lokführer und Schaffner, mit katholischem  Treibstoff und Ziel. Ein evangelikales Abteil oder sogar ein evangelikaler Wagon ändern daran nichts. Nach der Vorstellung von „Mission Manifest“ versammelten sich Dutzende Vertreter von Organisationen und Werken auf der Bühne, die evangelistisch-missionarisch aktiv sind – soweit ich das überblicken konnte so gut wie alle aus dem katholischen bzw. katholisch-ökumenischen Spektrum. Ist das wirklich der Zug der Evangelikalen?

In Litauen hat all dies eine wahrhaft existentielle Dimension – für die Evangelischen des Landes. Gut zwanzigtausend Protestanten stehen etwa zwei Millionen Katholiken gegenüber, ein Zahlenverhältnis von fast 100 zu 1. Die Zahl der engagierten Evangelikalen ist sehr überschaubar, hier ist von einigen Tausend auszugehen. Die katholische Kirche steht trotz vieler Herausforderungen gut dar, hat Reformen durchgeführt und das Episkopat deutlich verjüngt. Nachwuchssorgen gibt es nicht, werden doch immer noch an die 90% der Neugeborenen katholisch getauft.

In Litauen fährt ein katholischer Schnellzug, und die Evangelikalen haben ihre Bimmelbahn. Da denkt der eine oder andere schon ans Umsteigen. Innerhalb der Studentenarbeit LKSB (Mitglied des evangelikalen Dachverbandes IFES) kam vor gut acht Jahren der Vorschlag auf, mit der katholischen Studentenseelsorge enger zu kooperieren – das Gemeinsame sehen, mehr Miteinander, Zusammenarbeit usw. All die Dinge, die ein Vetter in Deutschland gutheißt. Wir haben uns gegen diese Ausrichtung entschieden und im Gegenzug als Ziel die Stärkung der evangelischen Kirchen betont. Es gibt bis heute freundschaftliche Kontakte und auch vereinzelt gemeinsame Aktionen mit den Katholiken, aber die Züge bleiben unterschiedlich. Ergebnis der Klärung war auch, dass angestellte Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder von LKSB einer evangelischen Kirche angehören müssen. Ohne diese mühsam errungene klare Linie hätte sich LKSB wohl schon in der Studentenseelsorge aufgelöst.

Die römisch-katholische Kirche wird natürlich auch in Litauen Bestand haben. Sie übt allein schon durch ihre zahlenmäßige Dominanz einen gewaltigen kulturellen Sog aus. Im historisch gesehen konfessionell pluralen Deutschland kann man dies kaum nachvollziehen. Der Protestantismus wird im baltischen  Land langfristig nur dann überleben, wenn die Evangelischen auf zwei Beinen stabil stehen: auf dem der evangelikal geprägten intensiven Kooperation wie in der theologischen Ausbildung, in Medien und Werken, in der Evangelisation; und in der tiefen Verwurzelung im reformatorischen Erbe und den Bekenntnissen des Protestantismus, sei es nun die lutherische, reformierte oder anabaptistische Prägung.

Gott sei Dank ist in beiden Richtungen schon einiges geschehen: Die Glaubensbasis der europäischen Allianz und die drei grundlegenden Dokumente der Lausanner Bewegung („Lausanne“, „Manila“, „Kapstadt“) sowie die erste der drei Chicagoer Erklärungen liegen inzwischen auf Litauisch vor. Und in den vergangenen sechs Jahren hat zumindest unsere reformierte Kirche, teilweise in Kooperation mit jüngeren Gemeindeverbänden, ihre Hausaufgaben gemacht: Zweites Helveticum, Heidelberger Katechismus, Westminster-Bekenntnis, New City Catechism – alles erschien in litauischer Sprache. In diesem Jahr wird noch das Niederländische (Belgische) Bekenntnis herauskommen.

So manche Instrumente sind also vorhanden. Sie werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten von den evangelischen Christens Litauen auch genutzt werden müssen. Ansonsten werden die „Christozentrik“ à la Hartl (der auch schon in Kaunas zu Besuch war), der Drang zu großen Zahlen und die Sehnsucht nach Harmonie ein Übriges tun.  Orientierung an den evangelischen Bekenntnissen ist in Litauen immer noch zeitgemäß, ja der von manchen in Deutschland gescholtene Konfessionalismus ist hier nichts anderes als eine Frage des puren Überlebens.