Religion im Aufwind?

Religion im Aufwind?

Ganz Osteuropa wurde jahrzehntelang vom Kommunismus beherrscht. Die Religion galt überall als Relikt der Vergangenheit, das einst ganz verschwinden wird. In unterschiedlichem Maße wurden vor allem die christlichen Kirchen unterdrückt. Ab 1988/89 zog dann mit der Freiheit auch die Religionsfreiheit ein. Christliche Gemeinden und Werke erlebten Anfang der 90er Jahre in vielen Ländern der Region einen Aufbruch.

Seitdem hat sich viel getan. Wie steht es heute um den Glauben in Osteuropa? Einen hervorragenden Überblick liefert die ausführliche Studie „Religious Belief and National Belonging in Central and Eastern Europe“. Herausgeber ist das Pew-Forschungszentrum, engl. Pew Research Center, aus den USA, das 1995 aus dem Times Mirror Center for the People & the Press hervorging. Das Forschungszentrum ist nach dem US-amerikanischen Ölindustriellen Joseph Newton Pew (1848–1912) benannt und hat seinen  Sitz in Washington, D.C.

Für die Osteuropastudie führte das Meinungsforschungsinstitut zwischen Juni 2015 und Juli 2016 in 17 verschiedenen Sprachen mit 25.000 Befragten aus 18 Ländern Interviews durch. Das statistische Material zum Thema Religion ist daher von hoher Qualität. Hier gibt es einen zusammenfassenden Überblick in deutscher Sprache.

Die Studie zeigt deutlich, wie groß die Unterschiede allein schon zwischen den Ländern Zentraleuropas sind. So bezeichnen sich in Estland 45% der erwachsenen Einwohner als Konfessionslose, in Tschechien sogar 72%. In Rumänien und Griechenland (wie auch Armenien) existiert diese Kategorie kaum; in Litauen rechnen sich ebenfalls nur um die 6% den Religionslosen zu.

Einen Glaube an Gott bekennen in manchen Ländern der Region sehr viele Einwohner. Mit über 90 % werden hohe Werte in Georgien, Armenien, Moldawien oder Rumänien erreicht. In Litauen liegt die Zahl schon deutlich niedriger: etwa Dreiviertel sagen, dass sie an (einen) Gott glauben. Ungarn und Estland weisen schon relativ niedrige westeuropäische Werte auf.

Die Angaben zu Litauen erscheinen uns durchaus korrekt. Pew geht von einem leichten Rückgang des Anteils der Katholiken aus. Landesweit liegt deren Zahl aufgrund breiteren Zahlenmaterials bei konstant leicht unter 80%. Die Taufstatistik der letzten Jahrzehnte lässt für die Zukunft sogar ein leichtes Wachstum vermuten.

Völlig richtig hält die Pew-Studie den schlechten Kirchen- bzw. Messbesuch der Katholiken in Litauen (und Lettland) fest: schlappe 10%. Auch wenn er sinkt, liegt dieser Wert in Polen ein Vielfaches höher. Im südlichen Nachbarland geht immer noch fast jeder zweite Katholik regelmäßig zur Messe. Katholische Fachleute aus Litauen gehen davon aus, dass nur rund jeder siebte Katholik seinen Glauben wirklich ernst nimmt. Dazu passt die Zahl der Studie, dass nur rund 15% der Einwohner in Litauen tägliches Gebet praktizieren.

Sehr schön zeigt die Studie in einem Kasten die unterschiedlichen Tendenzen bzw. Prägungen im Hinblick auf „Believing, Behaving, Belonging“ auf. In Westeuropa glaubt man oft vieles, d.h. man ist weiterhin religiös („believing“), praktiziert diese Religiosität aber weitgehend privat und individuell, will sich also keine organisierten Religionsgemeinschaft anschließen („belonging“). In einigen Ländern Osteuropas wie auch in Litauen rechnet man sich immer noch gerne Kirchen zu, aber die praktizierte Religiosität hinkt deutlich hinterher.

Recht klare Unterschiede ergeben sich auch in ethischer und kultureller Hinsicht. Homosexuelle Beziehungen werden tendenziell immer noch als moralisch falsch angesehen, gerade in den orthodox geprägten Ländern (Ausnahme ist hier Griechenland). In Litauen lehnen sie über 70% ab. Zum Vergleich: laut einer anderen Pew-Studie verwerfen nur noch 8% der Deutschen homosexuelle Beziehungen als unmoralisch – Deutschland überholt damit das säkulare Frankreich und auch Tschechien. Interessant ist auch, dass im traditionell streng katholischen Polen nur noch knapp die Hälfte der Einwohner Homosexualität negativ bewerten.

Wie ist die Auflösung der UdSSR zu bewerten? In Armenien, Russland und Moldawien betrachten dies große Mehrheiten als schlechtes Ereignis: im Baltikum ist genau anders herum: 75% der Einwohner, wohl so gut alle Esten in Estland, sehen darin etwas positives.

Große Unterschiede zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken zeigen sich auch bei Sicht der Demokratie. In Litauen sind die Zustimmungswerte zur parlamentarischen, liberalen Demokratie hoch; nur 15% sprechen sich für nichtdemokratische System aus. Damit sind die Litauer sogar demokratiefreundlicher als die Polen, Ungarn und sogar die Esten. In Bulgarien, Weißrussland und auch in Lettland halt sich Zustimmung zu demokratischen Regierungsform und Ablehnung die Wage; in Russland liegen die Demokratieskeptiker deutlich vorne.

Allgemein kann man feststellen, dass trotz zahlreicher Unterschiede die über Jahrhunderte gefestigte konfessionelle Prägung der Länder bis heute Auswirkungen hat. Protestantische, katholische und orthodoxe Staaten zeigen mitunter deutliche Unterschiede. So ist die Zustimmung zu staatlicher Unterstützung der Mehrheitskirche bei den Orthodoxen viel stärker ausgeprägt. Aber auch in Litauen wollen immerhin über 40%, dass der Staat die katholische Kirche stärker fördert.

Der zusammenfassende ORF-Beitrag ist „Religion im Aufwind“ überschrieben. So allgemein geht dies aus der Studie eigentlich nicht hervor. Ganz allgemein kann man vielleicht behaupten, dass Osteuropa als Ganzes noch stärker religiös geprägt ist als Länder im Westen. Von einem breiten Wachstum und Zunahme von Religiosität kann in den letzten Jahren aber keine Rede sein. Osteuropa passt sich in zum Teil sehr unterschiedlichem Maße Westeuropa an, hier und da zügiger, hier und da zögerlicher oder gar nicht.

Wachstum von Gemeinden und Kirchen war natürlich nicht der Fokus der Pew-Studie. Ein allgemeiner Aufwind ist auch hier nicht festzustellen, wohl eher eine frische Brise hier und dort – und die gibt es sicher auch in Westeuropa. Indirekt geht aus der Studie sicher hervor, dass Osteuropa eine der wichtigsten Missionsregionen der Welt ist: die Länder wurden einst christianisiert, die tatsächliche Bindung an Kirchen und Glauben ist jedoch eher schlecht (mit der großen Ausnahme Polen – und auch dies Land macht eine komplexe Wandlung durch).

Abschließend sei auf eine weitere interessante Studie des Pew-Forschungszentrums hingewiesen. Hier geht es um die religiöse Landschaft weltweit in den nächsten Jahrzehnten. 2035 werden mehr muslimische als christliche Kinder geboren werden, und 2060 wird der Islam mit dem Christentum gleichziehen. Das Thema Islamisierung wird zur Zeit ja heiß und emotional diskutiert. Hier gibt es solide Statistiken, die zumindest zeigen, dass ernste Herausforderungen auf uns zukommen.

(Bild o.: Kathedrale in Vilnius)