Jesus und die Armen (II)

Jesus und die Armen (II)

Was ist die wichtigste säkulare Tatsache in der Geschichte der Menschheit seit der Seßhaftwerdung und der Erfindung des Ackerbaus? Es ist der große Wohlstandszuwachs in den letzten einhundertfünfzig, zweihundert Jahren, „the Great Enrichment“, so Wirtschaftshistorikerin Deidre McCloskey aus Chicago. Der Rückgang der extremen Armut war bisher schon so radikal, dass nun sogar seine Ausmerzung anvisiert werden kann. Noch Jahrhunderte zuvor war dies völlig unvorstellbar.

Warum ist es dazu gekommen? Warum waren die Menschen über Jahrtausende fast überall fast immer gleich arm, und auf einmal diese Aufwärtsentwicklung? Es gibt kaum eine wichtigere historische Frage als diese. Denn Historiker versuchen das Unwahrscheinliche zu erklären, und nichts war so unwahrscheinlich wie der Wohlstand der Massen.

Wenn wir die Gründe für diesen nie zuvor gesehenen Ausbruch aus dem Massenelend erkennen, dann können wir auch Orientierung für die Zukunft geben. Je besser wir das Zusammenspiel der Faktoren beim Anstieg von Wohlstand begreifen, desto effektiver und schneller können wir den verbliebenen Armen helfen. Wer dagegen an Vorurteilen, Mythen und verfehlten Theorien festhält, der betrügt letztlich die Notleidenden.

McCloskey hat sich den Ursachen von „the Great Enrichment“ in ihrer im vergangenen Jahr abgeschlossenen Trilogie „The Bourgeois Era“ gewidmet. Im ersten der drei Wälzer, The Bourgeois Virtue, geht es um Ethik. Tiefste Ursache des Umschwungs vor einigen Hundert Jahren in Nordwesteuropa, so McCloskey, waren nicht Industrie, Innovationen und Institutionen. Es war ein moralischer Wandel und konkret auch ein rhetorischer Umschwung: die Art, in der man über diejenigen redet, die den Wohlstand produzieren – Handwerker, Händler und Unternehmer. Den Berufen der bourgeoisen Mittelschicht, den Bürgern und ihrem Tun, wurde eine Würde zugestanden und zugesprochen, die diese früher nie besaßen (daher ihr Buchtitel The Bourgeois Dignity). Dies führte zu einer liberalen Gleichheit der Chancen, zu einem Durchbrechen alter Schranken der Aristokratie, des Standes und ererbten Ranges, zu einer nie gesehenen Freiheit, an die wir uns heute schon gewöhnt haben (Closkeys The Bourgeois Equality; ein guter Audio-Überblick zur Trilogie hier).

Für McCloskey als Laienchristin in der episkopalen Kirche ist die christliche Maxime des  „Kümmert euch um die Armen!“ eine der großen Klammern um ihr großes Werk. Das Schicksal der Notleidenden geht uns unbedingt an, auch die Ökonomen. Letztlich müssen die Antworten Wissenschaftler auch dem Wohl der Armen dienen und ihr Leben verbessern. Das Kümmern, das  McCloskey gegenüber manchen Wirtschaftsliberalen und Libertären von Herzen verteidigt (sie steht damit den „bleeding heart libertarians“ nahe), beginnt jedoch mit ernsthaftem und tiefem Nachdenken. Reine Slogans wie „wir müssen etwas gegen die Armut tun!“ helfen nur wenig weiter. Natürlich, würde McCloskey sagen; aber was ist das „etwas“? Es ist eben nicht irgendetwas.

Historiker wie McCloskey befassen sich mit ihren spezifischen Fragestellungen. Professionelle Armutsbekämpfer in den Reihen der Christen wie Leiter von Hilfswerken, die oft „im Namen Jesu“ handeln, konzentrieren sich natürlich auf konkrete Maßnahmen zur Linderung von Not. Auch sie reden über Armut und Wohlstand, Reichtum und Not. Ihr gutes Handeln an der Frontlinie der extremen Armut bedeutet im Rückschluss aber noch nicht, dass alle Rede wahr und hilfreich ist.

Jesus in Verkleidung

„Jesus in den Armen begegnen ist was völlig anderes als in einer deutschen Baptistengemeinde einen Gottesdienst sonntagmorgens zu erleben“, so Steve Volke im „Hossa Talk“ (s. auch Teil I). Das erste sei „ursprünglicher, direkter, wahnsinnig überraschender“. Der Leiter des deutschen Zweigs von „Compassion“ kommt auf Matthäus 25 und Jesu Aussagen über das Weltgericht (ab V. 31) zu sprechen, die in V. 40 gipfeln: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.“ (Im Film „58“ von „Compassion“ spielt das Kapitel auch eine wichtige Rolle, s. hier.)

Mt 25 ist für Volke „der Hammer“. Vor allem auf diesen Text wird die These gegründet, dass wir Jesus in „den“, also allen Armen begegnen. Es wird gerne so getan, als ob V. 34f glasklar die These von Jesus in den Armen unterstreichen würde. Dies scheint fast schon ein Dogma zu sein, an dem rechtgläubig festzuhalten ist. Vor allem Mutter Teresa hat zur Verbreitung beigetragen: „Each one of them [the poor] is Jesus in disguise“ – Jesus sei tatsächlich in allen Armen anwesend.

Dummerweise sind die „geringsten Brüder“ dort höchstwahrscheinlich wohl genau das: geringste Brüder. (Mehr dazu hier.) Im besten Fall (für Volke) ist die Interpretation der Stelle nicht eindeutig. Dann darf aber so ein neues Dogma, dass Jesus tatsächlich in besonderer Weise in den Armen, allen Armen, anzutreffen ist, nicht nur auf diese eine Stelle gegründet werden. Natürlich sollen wir uns um die Armen kümmern. Aber wo wird denn sonst gelehrt, dass sich Jesus in dieser besonderen Weise mit ihnen identifiziert? Übrigens folgt auch der von vielen Links- und Postevangelikalen wie auch Volke geschätzte Timothy Keller in Generous Justice der klassischen Deutung von Mt 25 (s. Fußnote 56 in dessen Buch).

An dieser Stelle wird dann gerne mit dem Hinweis auf die Gerechtigkeitsbibel mit ihren über 3000 markierten Versen zu Armut und Gerechtigkeit gekontert – als ob dieses Faktum zur Stützung der konkreten Aussage ausreichen würde. Doch von der Erkenntnis, dass diese Themen „zentrale Anliegen“ Gottes sind, ist es noch ein großer Schritt zur „bevorzugten Option“ Gottes für die Armen oder einer besonderen, exklusiven Nähe zu ihnen oder gar Identifikation. In einem Beitrag von „Christianity Today“ hat Andy Horvath die von Volke vorgetragene Sicht analysiert und kritisiert; er erklärt auch, warum Vertreter von Hilfswerken geradezu verliebt in sie sind: „It’s easy to see why this passage is so championed by justice-minded Christians. Linking our eternal destiny to caring for the powerless puts the strongest possible motivation behind such a call. Many fundraising campaigns have relied on this powerful image to solicit funds for the poor.“

Treffpunkt mit Jesus

Wo begegnen wir Jesus? Diese von Volke aufgeworfene Frage ist keineswegs trivial, ja ihre Wichtigkeit ist kaum zu überschätzen. Sie berührt die gesamte Frömmigkeit, Nachfolge und Ethik.

Im Video-Trailer zum Sehendmacher ist die Gottesbegegnung in Kirchen der thematische und visuelle Einstieg. Hier bekräftigt Volke: „… und tatsächlich begegnet Gott uns in Gottesdiensten. Aber er möchte uns auch im Alltag begegnen.“ Viele Jahre sei sein „Treffpunkt mit Jesus“ vor allem der Gottesdienst gewesen. „Aber dann hat mich Jesus auf einen Weg geführt, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich den jemals gehen würde.“

An diesen sicher bewusst diplomatisch formulierten Sätzen (man will schließlich ein breites Publikum mit so einem Werbe-Video erreichen) ist kaum etwas auszusetzen. Wobei man sich aber auch schon fragt: Heißt dies, dass der Treffpunkt mit Jesus nun vor allem woanders stattfindet, also nicht mehr den Schwerpunkt im Gottesdienst hat?

In einem Interview zum Buch führt Volke dies aus: „Ich glaube, der größte Fehler, den Christen heute in Deutschland machen, ist, dass sie ihren Glauben nur als Religion sehen, die mit bestimmten Ritualen (wie z.B. dem sonntäglichen Gottesdienst) gelebt werden muss. Nachfolge ist aber etwas ganz anderes. Für mich bedeutet Nachfolge, jeden Tag zu sehen, wo Jesus gerade ist, und mich dann in seine Nähe zu begeben. Das hat ganz praktische Auswirkungen und bringt mich auch etwas aus meiner Komfortzone heraus.“

Erschöpft sich Glaube in Ritualen? Natürlich nicht. Gehört der Glaube in den Alltag? Ganz gewiss. Betrifft die Nachfolge Jesu alle Lebensbereiche? Sicher doch. Christsein am Sonntag und am Montag nicht mehr? Unsinn, keine Frage. Volke meidet die offene Abwertung des Gottesdienstes, aber im „Hossa Talk“ ist ihm ein vielsagender Komparativ herausgerutscht. Doch begegnen wir Jesus in den Armen tatsächlich „ursprünglicher, direkter“ als in einem Gottesdienst? In welcher Hinsicht ist dies etwas „völlig anderes“? Weil wir in den Armen einem Menschen aus Fleisch und Blut begegnen, der Jesus ‘in Verkleidung’ ist, und in der Kirche keine solche Begegnung mit dem leibhaftigen Menschen Jesus geschieht? Wie man es dreht und wendet: Ein Lob auf die Gottesbegegnung im Gottesdienst ist nicht herauszuhören.

Jesus in den Armen? Wie soll da die Begründung aussehen? Ich würde hier eindeutig widersprechen. Und ich kann nur dazu anregen, die These von Jesus in allen Armen einmal zu durchdenken. In welchen Armen? Denen in extremer Armut? Oder auch in denen, die ‘nur’ in relativer Armut leben wie in Deutschland Hartz IV-Empfänger? Auch in all denen, die von Armutsrisiko betroffen sind? Wo ist die Grenze – in welchen Ländern? (Nach deutschen Kriterien, Kaufkraft berücksichtigt, sind in Litauen rund die Hälfe der Einwohner arm.) Dann gleich „in allen Hilfsbedürftigen“? Aber ist das nicht jeder von uns in gewissen Situationen? Landen wir so nicht ganz schnell bei der Maxime „Jesus in allen Menschen“? (So wie das C. Baxter Kruger, Freund von Die Hütte-Autor W.P. Young, um nur einen zu nennen, das ausdrücklich und letztlich konsequent vertritt.) Oder begegnet Jesus eben doch nur potentiell, hier und dort, in den Armen?

Fragen über Fragen. Nun mag man sich bei diesen in Subjektivismus retten: Ich habe es erlebt und Jesus in den Armen getroffen (sicher würde auch Volke dies bekräftigen). Dies hilft bei der Frage nach den Normen unseres Handelns jedoch nicht viel weiter. Wenn die Deutung von Mt 25 (Jesus in allen Armen) stimmt, bleibt die Herausforderung: Wo soll ich dann nach ihm und diesen Armen suchen? Unter den Menschen, die existentiell in ihrem Leben bedroht sind? Da wird man in Europa kaum fündig werden. Dann also doch auch in den relativ Armen, die es statistisch auch in den allerreichsten Ländern gibt?

Spielt man diese Fragen durch, wird hoffentlich erkennbar, dass mit der Ausweitung von Mt 25 für die Ethik kaum etwas gewonnen wird, im Gegenteil. Ist es nicht sinnvoller, bei den klassischen Deutungen des Gebots der Nächstenliebe zu bleiben? Bei der Maxime, dass ich dem  in Not Geratenen, egal, wie arm oder reich vorher, der meine Hilfe braucht, diese tatsächlich schulde?

Der späte Triumph Zwinglis

Volke führt ein Leitprinzip der Jüngerschaft und Ethik ein, das zwar den frommen Klang auf seiner Seite hat, aber dennoch neuartig ist: „Für mich bedeutet Nachfolge, jeden Tag zu sehen, wo Jesus gerade ist, und mich dann in seine Nähe zu begeben.“ (s.o.) Gepaart mit der Überzeugung, dass Jesus bevorzugt in den Armen zu finden ist, ist die ethische Vorgabe klar: Suche du nach Jesus in den Armen und hilf ihnen.

Nachfolge kann natürlich verschieden definiert werden. In Bezug auf Jesus bedeutet sie z.B. ihm immer ähnlicher werden, in seine Fußstapfen treten oder ihn immer besser erkennen. Man kann auch Tugenden und Grundmotivationen in den Vordergrund stellen: aus Glauben, in Dankbarkeit und Liebe. Traditioneller könnte man vom Kampf gegen den alten Adam (Luther) oder von der Selbstverleugnung (Calvin) oder allgemein vom Hören auf Gott reden. Ganz breit, aber durchaus biblisch, bedeutet Nachfolge außerdem „Mensch sein“ – ein Mensch, wie ihn Gott ursprünglich gemeint hat, ohne Sünde (so der Buchtitel von Macaulay/Barrs zur Jüngerschaft: Being Human).

Nachfolge hat also viele Seiten, Dimensionen und Aspekte; die unterschiedlichen Definitionen lassen sich alle recht gut biblisch begründen. Wie sieht es aber nun mit Volkes Grundsatz aus? Jesus irgendwie lokal orten und sich ihm dann nähern? Irgendwie hört man da den Grundsatz heraus, der aus der „emerging church“ herüberweht: Gottes Wirken in dieser Welt entdecken, um sich in dieses Handeln Gottes gleichsam einzuklinken, es also mit ihm zu tun: das tun, was Gott tut. Oder nun bei Volke: dort sein, wo Jesus ist. Ist es aber das, was das Neue Testament – Mt 25 nun einmal beiseitegelassen – von uns fordert? Ich kann dies überhaupt nicht erkennen.

Wo begegnen wir Jesus? Im Jahr des Reformationsjubiläums liegt es nahe, die Frage zu stellen, wie Luther wohl geantwortet hätte. Es kann kaum Zweifel bestehen, dass der Reformator wie aus der Pistole geschossen und äußerst bestimmt gesagt hätte: in Wort und Sakrament; im gepredigten und im sichtbaren Wort Gottes.

Luther lehnte die Lehre von der Wandlung der Substanzen von Brot und Wein in Leib und Blut Christi ab (die sog. Transsubstantiationslehre der römisch-katholischen Kirche). Er hielt aber daran fest, dass Christus leiblich in den Elementen von Brot und Wein im Abendmahl gegenwärtig ist. Christen empfangen Jesus im Abendmahl. Dort begegnen wir ihm. Direkter geht‘s dort gar nicht, so würde Luther bekräftigen.

Zwingli widersprach bekanntlich. Der Reformator Zürichs lehnte die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl ab. Für ihn war es ein reines Gedächtnismahl: Gläubige erinnern sich mit Hilfe von Brot und Wein, die symbolisch für das Werk Christi stehen, zu wem sie gehören und bekräftigen ihren gemeinsamen Schwur auf Christus. Eine Begegnung mit Jesus im eigentlichen Sinne findet gar nicht statt.

Der Gegensatz zwischen beiden Positionen führte bekanntlich 1529 zur Spaltung der reformatorischen Bewegung. Vertreter der schweizerischen und der deutschen Evangelischen, darunter die beiden Reformatoren, konnten sich bei einer Zusammenkunft in Marburg in allen Punkten einigen – nur nicht in der Abendmahlsfrage.

Die Beziehung zwischen Luther und Zwingli konnte kälter nicht sein. Johannes Calvin dagegen sprach immer mit Hochachtung über den Deutschen. Wie Zwingli lehnte auch er die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl klar ab. Der Auferstandene ist mit seinem Leib im Himmel. Doch der Genfer Reformator ging weit über das Gedächtnismahl Zwinglis hinaus. Durch den Heiligen Geist begegnen wir im Mahl tatsächlich Jesus. Es findet echte Gottesbegegnung statt. Nur kommt nicht der Leib Christi aus dem Himmel herab; im Glauben und durch den Geist steigt der Gläubige gleichsam zu Jesus hinauf.

Calvin stand also einerseits auf der Seite der Schweizer: der Leib Jesu ist und bleibt im Himmel. Aber er gab Luther insofern recht, dass Jesus im Mahl wirklich gegenwärtig ist, sich den Gläubigen mitteilt, ihnen begegnet.

Unter den Evangelischen hat Zwingli weitgehend den Sieg davongetragen. Vor allem in den allermeisten Freikirchen und im evangelikalen Mainstream hat sich Zwinglis Abendmahlsauffassung durchgesetzt – auch wenn die mit dem Zürcher Reformator nur selten verbunden wird. Die Stärke seiner Lehre ist die Einfachheit und leichte Verständlichkeit. Die Folgen sind jedoch weitreichender, als man gemeinhin denkt. So hat eine wichtige Maßnahme der Gemeindedisziplin, der Ausschluss vom Abendmahl, ihre Kraft weitgehend eingebüßt. Der Christ muss der zwinglischen Lehre gemäß ja auch allenfalls auf menschliche Gemeinschaft verzichten, kann sich die heute meist aber ohne große Probleme in einer anderen Gemeinde suchen. Fehlt dem Abendmahl die Dimension der objektiven Begegnung mit Gott, verpufft dieses klassische Mittel der Disziplin.

Nur auf diesem zwinglischen Hintergrund sind auch die Antworten Volkes erklärbar. Wo begegnen wir Jesus? Katholiken und konservative Lutheraner haben hier eine klare Antwort. Fragt man dies jedoch evangelikal geprägte Christen, wer würde wohl von einhundert Befragten direkt und präzise antworten „im Sakrament des Abendmahls“?

Calvins Position hat sich leider in Europa nicht so recht durchsetzen können. Katholiken und auch Lutheraner haben schon früh wie wild auf ihn eingedroschen und seine Anhänger in einen Topf mit Zwingli gesteckt (und der war für Luther kein Christ und sogar gefährlicher als die Widersacher aus Rom). Dabei hatte seine Abendmahlsauffassung das Potential zum einigenden Kompromiss unter den Protestanten. Melanchton hatte dies erkannt, wurde dafür von den Gnesiolutheranern umso mehr verachtet.

Mehr Einigkeit unter den Reformatoren bestand in der Überzeugung, dass Christus auch im hörbaren Wort, in der Predigt, gegenwärtig ist. Tatsächlich lässt sich ja gut biblisch nachweisen, dass die Gegenwart des Wortes auch die Gegenwart Gottes selbst ist. Gott gibt sich den Menschen selbst in seinem Sohne durch das gepredigte Wort. Bedingung ist natürlich, dass der biblische Text auch getreu der Aussageabsicht Gottes ausgelegt wird. Einer der wichtigsten Sätze im Zweiten helvetischen Bekenntnis bekräftigt diese Sicht: „Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen werde…“ – und in diesem Wort ist Gott selbst anwesend.

Trotz mancher Unterschiede würden Luther und Calvin also beide bekräftigen: Gott ist in Mahl und Predigt objektiv zu finden (wobei er natürlich im einzelnen Subjekt unterschiedlich wirkt entsprechend des souveränen Handelns des Geistes). Heute ist die kirchliche Gottesbegegnung dagegen weitgehend subjektiviert; die Gotteserfahrungen im Gottesdienst sind von aller Sakramentalität fast ganz gelöst.

Echter Dienst am Menschen

Bei Volke ist deutlich zu sehen, dass die objektive Begegnung mit Jesus gleichsam aus dem Gottesdienst herausgewandert ist und nun in den Armen stattfindet. Die Ethik, unser Handeln, wird damit aber religiös überhöht und tatsächlich zu einer Art Dienst an Gott. Denn dies liegt ja auf der Linie der Nähe zu Jesus in den Menschen, der Begegnung mit ihm in den Armen.

Für wen tue ich etwas, wenn ich dem Armen helfe? Für diesen selbst, für diesen Menschen, der im Ebenbild Gottes gemacht ist. Für den Nächsten in Not. Ich tue damit in direkter Weise gar nichts für Jesus oder Gott (in einem weiteren Sinne tun wir natürlich alles für Gott, d.h. zu seiner Ehre und vor seinem Angesicht usw., s. 1 Kor 10,31; Kol 3,23).

In der Konsequenz ist der von Volke und anderen vertretene Ansatz unreformatorisch. Denn Luther hatte ja konsequent den religiösen Überbau der guten Werke eingerissen. Indem wir Gutes tun, tun wir nicht Gott einen Gefallen oder Dienst. In Von der Freiheit eines Christenmenschen betonte der Reformator: „Alle [guten] Werke sind auf das Wohl des Nächsten ausgerichtet“; wir sollen „dem Nächsten aus freier Liebe dienen“, „darauf ausgerichtet sein, was den anderen Leute diene und nützlich sei, und nichts anderes vor Augen haben, als was den anderen notwendig ist“. Dieser Dienst ist echter Dienst am Menschen; es geht beim guten Handeln nicht darum, „seine [eigene] Seligkeit zu suchen“.

Noch im Mittelalter war die Armenhilfe wie z.B. das Almosengeben auch ein religiöses und verdienstvolles Werk. Im Zuge der Reformation wurde auch die Armut gleichsam säkularisiert und erstmals eine rationale Sozialpolitik möglich. Natürlich betonten die evangelischen Kirchen auch die Gemeindediakonie, die in manchen Ländern eine Blüte erlebte (auch durch die Wiederentdeckung des Diakonats). Die Armut an sich wurde aber nun, lutherisch formuliert, zu einem „weltlich Ding“ (der Reformator über die Ehe, doch auch hier passt der Begriff). Es wurde auf einmal denkbar, das gesellschaftliche Problem der Armut anzugehen und ansatzweise zu lösen.

Folgt man Volkes Weg, droht die erneute religiöse Überhöhung der Armut. Begegnen wir tatsächlich Jesus in den Armen, ist dies keineswegs übertrieben formuliert: Armenhilfe ist dann in direkter Weise Dienst an Gott selbst. Ich betrachte dies in der Konsequenz als schädlich für die Ethik, da die praktische und abwägende Vernunft oder die Weisheit tendenziell gering geachtet werden. Denn „wo ist heute Jesus?“ wird zur Hauptfrage, „was ist sinnvoll zu tun?“ tritt in den Hintergrund. Und bei der Armutsbekämpfung auf breiter Front sollten vernünftige Erkenntnisse und Lösungen die Federführung haben. Christen haben hier ihren Beitrag zu leisten, und sie sind in besonderer Weise motiviert. Doch die Lösungsansätze des Armutsproblems sind eben nicht direkt an den Glauben gekoppelt. Was Elend tatsächlich reduziert, ist keine Frage der Theologie, weshalb hier von der ‘Welt’ gelernt werden kann und weswegen auch Christen in diesem Bereich z.T. leider sehr dumme Vorschläge machen.

Persönliche Akte der Barmherzigkeit werden natürlich nicht von der praktischen Vernunft regiert. Der barmherzige Samariter kalkulierte innerlich nicht stundenlang, was sein Tun dem in Not Geratenen oder auch ihm bringen würde. Er erkannte wohl eher intuitiv: Hier muss ich nun helfen! Und das war gut so. Aber er wollte ja auch gar nicht das Problem der Straßenräuberei in Palästina im ersten Jahrhundert lösen. Das hätte viel mehr Vernunft, Überlegung und Planung gefordert.

Zusammenfassend würde ich also festhalten: Die Gottesbegegnung findet objektiv immer noch schwerpunktmäßig im Gottesdienst, in der Wortverkündigung und in den Sakramenten, statt. Wenn Volke nun die Armut als Thema und die Armen als Menschen entdeckt hat, denen geholfen werden muss, ist das nur zu begrüßen. Doch im Alltag und in den Armen begegnet uns Jesus keineswegs „direkter“. Dort begegnen uns Mitmenschen und Mitbürger, Ebenbilder Gottes, Menschen in Not, denen wir oftmals Hilfe schulden.

Die Ereignisse im Leben Jesu vor zweitausend Jahren, vom Kommen auf diese Erde bis zur Auferstehung, bilden den Wendepunkt der Geschichte. Die christliche Jahreszählung spiegelt diese wahrlich zentrale Rolle des Gottessohnes wieder. Die wichtigste säkulare Tatsache in der Geschichte der Menschheit ist „the Great Enrichment“ und der damit direkt verbundene radikale Rückgang der Armut in den vergangenen zweihundert Jahren. Beide Tatsachen haben miteinander zu tun und sind auf komplexe Weise aufeinander bezogen (auch McCloskey analysiert in ihrer Trilogie den Einfluss des christlichen Glaubens, theologischer Lehren, ethischer Vorstellungen bis hin zu Gemeindeformen). Sie sollten jedoch keinesfalls miteinander vermischt werden.

„The Great Enrichment“ ist und bleibt die wichtigste säkulare Tatsache. Jesus hat mit ihr direkt nur wenig zu tun. Wer das leugnet, wird den Zynismus kaum vermeiden können. Denn in seinem Grundsatzprogramm (der Bergpredigt, s. Teil I) nimmt er eben nicht die materielle Armut in den Fokus; Jesus kam nicht, um das Problem des materiellen Elends zu lösen; und er begegnet uns auch nicht in direkter Weise in den Armen. Wäre dies der Fall, müsste man seinem Grundsatzprogramm weitgehendes Versagen vorwerfen. Die „ganz besondere Botschaft“ an die sehr Armen wäre dann fast 1800 Jahre lang gewesen: geduldet euch noch ein wenig.

Die Sozialethik ist unbedingt vor der frommen Überhöhung durch die falsche Spiritualisierung der Moral zu schützen. Provokant möchte man formulieren: Lasst Jesus bitte in der Kirche! Auch um der Armen willen. Denn ihr Schicksal ist viel zu wichtig, als dass man die Deutung der Armut  den selbstgesalbten Armutsexperten überlässt.

(István Csók, „Tut dies zu meinem Gedächtnis. Kommunion“, 1890)