Ausmerzen der Armut – wessen Aufgabe?

Ausmerzen der Armut – wessen Aufgabe?

„Hier geht es um die Armen…“

Der Dokumentarfilm „58“ geht ans Herz, keine Frage (auf YouTube s. hier). Er nimmt den Zuschauer hinein ins Leben der bettelarmen Äthiopierin Workitu, zeigt den Inder Sanjiv beim Steineklopfen, gefangen in Schuldknechtschaft; weiter geht es nach Brasilien, über einen Slum in Nairobi bis hin zu Kinderbordellen in Kalkutta. Manches erscheint schrecklich düster, aber es wird auch geschildert, wie Christen Zeichen der Hoffnung setzen, Gemeinden Not lindern, Trost spenden, nach Auswegen aus dem Elend suchen.

Der Titel des Films von Tony und Tim Neeves, vom internationalen christlichen Hilfswerk Compassion in Auftrag gegeben, spielt an Jesaja 58 an. Beim Propheten heißt es dort: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend sind, führe ins Haus.“ „58“ will Christen zum Einsatz gegen Armut motivieren und kommt in diesem Jahr in Gemeinden zum Einsatz, kann mit Begleitmaterial im Internet heruntergeladen werden.

58 IV

Der Film zeigt, wie praktische Hilfe in Kenia, Indien und anderswo aussehen kann. Die vorgestellten Projekte sind zweifellos sinnvoll und der Förderung wert – den Eindruck gewinnt man zumindest. Doch „58“ geht weit darüber hinaus. Einzelne Leiter vor Ort kommen zu Wort, und was sie sagen, ist meist wohl wahr, bleibt aber eher im Ungefähren. Der Pastor einer Slum-Gemeinde: „Als Gottes Gemeinde können wir nicht einfach zusehen, wie Menschen so leben“. Ein palästinensischer Theologe: Gott ist ein Gott der Liebe, „der alle Menschen gleich liebt“ – das sei unsere Botschaft heute; schließlich appelliert er an die „Verantwortung“ von uns im Westen. Ein ehemaliger äthiopischer Justizminister spricht gar von einem erhofften „kompletten Wandel“ im Land – ein Wandel, den die christliche Kirche anführen soll.

Zwischen den Episoden schlägt Compassion-Leiter Wess Stafford die Brücke zur Bibel und spitzt die Botschaft des Films deutlicher zu. Auf den Spuren Jesu in Israel erläutert er z.B. das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Der Steinbrucharbeiter ist wie der Verletzte an der Straße beim Samariter. „Die christlichen Gemeinden und Kirchen müssen ein barmherziger Samariter für sie sein.“ Was soll dies nun konkret für den Zuschauer heißen? Niemand will sich in der Rolle des vorbeigehenden Leviten oder Priesters wiederfinden. Bin ich also verpflichtet, Sanjiv und seiner Familie genau so zu helfen wie dies der Samariter mit dem Überfallenen tat?

Was ist unsere Verantwortung? Konkret? Das Gleichnis Jesu ist da noch eindeutig. Es beantwortet die Frage „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10,29). Jeder Mensch in Not, dem ich begegne, kann dies werden, und dies gilt unter Umständen auch für einen geographisch weit entfernten Menschen. Stafford weitet den Verantwortungsbereich jedoch gewaltig aus: die christlichen Gemeinden und Kirchen müssen etwas tun. Für jeden, der so arm ist wie Sanjiv? Ist das wirklich die Aussage von Lk 10,25f? Soll dort wirklich in dieser pauschalen Weise die globale Verantwortung der Kirche für die Armen bekräftigt werden?

Stafford trägt seine Erläuterungen emotional und mit großer Sicherheit vor. Auf dem Ölberg erklärt er Jesu Rede vom Weltgericht in Mt 25,31f. Dort scheidet der wiederkommende Menschensohn die Völker in Schafe und Böcke. Er „entscheidet danach, was du wirklich getan hast.“ Die „entscheidende Botschaft“ des Abschnitts, die Jesus uns mitteilen will: „die Armen bedeuten mir wirklich etwas“; „Hier geht es um die Armen und wie extrem wichtig sie für mich sind“; „Wenn es um die Armen geht, müssen wir etwas tun.“

Leider muss man dem Missionsleiter widersprechen. Evangelikale Exegeten sind sich einig: es geht hier nicht um die Armen als solche, sondern „die geringsten Brüder“ (Mt 25,40) sind eben genau dies: Christen in Not, Gläubige. Nun werden im Film auch leidende Geschwister vorgestellt, doch die Aufforderung „Wenn es um die Armen geht, müssen wir etwas tun“ geht weit über das hinaus, was der Text selbst sagt.

Diese unnötige Überfrachtung von Bibeltexten wirft einen Schatten auf den Film (auch zur Auslegung von Jesaja 58 selbst wäre noch manches zu sagen). Aber selbst dabei bleibt es nicht. „58“ wird eingerahmt durch folgende These: „Es liegt im Verantwortungsbereich christlicher Gemeinden, extreme Armut zu beenden. Wir verfügen über die nötigen Mittel.“

58 VI

Näher wird dies gegen Ende des Film von Scott C. Todd (s.l.) ausgeführt. Der leitende Mitarbeiter von Compassion wird auf einer Konferenz gezeigt, wo er manche Statistik nennt: Seit 1990 haben 600 Millionen Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser bekommen; die Zahl der Toten durch Malaria ist deutlich zurückgegangen. Und vor allem: „Innerhalb einer Generation haben wir den Anteil der Menschen in extremer Armut halbiert“, von 52 auf 26% der Weltbevölkerung. „Wie kommen wir auf 0%?“ Todd beruft sich auf „weltbekannte Wirtschaftswissenschaftler“, die meinen, 73 Mrd Dollar pro Jahr sollten über 10 Jahre hinweg eingesetzt werden, und damit sei die Armut ganz zu beseitigen. Geld sei nicht das einzige, Gemeinden haben „eine kraftvolle Stimme, die sie nutzen sollten“. Aber wenn es heißt: „Gott hat uns das Nötige gegeben, um extreme Armut zu beseitigen“, auf dem Plakat zu lesen ist: „Wir haben alles, was nötig ist. Tun wir alles, was nötig ist?“ und Todd schließlich auffordert, freigiebiger zu sein (nur 1% mehr geben), dann wird eins deutlich: „eins mit Gottes Herz werden“ drückt sich vor allem auch dadurch aus, dass wir im reichen Norden unsere Portemonnaies öffnen und für soziale Hilfsprojekte spenden.

Das kann sicher gut, notwendig und hilfreich sein. Doch warum die gewaltige Überhöhung  solch konkreter Hilfe? Todd gegen Ende: „Wenn wir aufwachen, werden wir begreifen, dass extreme Armut von der Erde verschwinden kann“; „Die Zeit ist gekommen, der extremen Armut ein Ende zu setzen“; „Gott wird uns gebrauchen, um die Geschichte zu ändern.“ Geht‘s nicht ein wenig bescheidener?

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„Gott will, dass wir weltweite Armut auslöschen“

Nun sollte man von einem 75minütigen Film nicht zu viel an Analyse,  Hintergrundinformation und Argument erwarten, schließlich arbeiten Filme eher visuell und wie auch in diesem oft musikalisch. Todd hat nun aber auch ein Begleitbuch geschrieben: Fast Living (bisher nur in Englisch). 200 Seiten geben dem Autor Raum, Thesen genauer zu entfalten und zu begründen. Schließlich fordert er selbst dort eine „solide theologische Basis“.

58 V

Todd kämpft eingangs gegen die „Zombies der niedrigen Erwartungen“ an. Wir sollen vielmehr „erwarten, dass Christen durch Gottes Gnade und Kraft tatsächlich der weltweiten extremen Armut in den kommenden 25 Jahren ein Ende setzten werden.“ Es geht eindeutig um wirtschaftliche (also nicht geistliche) Armut, sie könne aus der Welt verbannt werden. Und zwar durch die Christen: „Gott hat uns für diese Aufgabe das Mandat und jedes nötige Mittel gegeben“, so der Autor. Dies sei eine Aufgabe, die Gott uns gezeigt hat, und deshalb dürfen wir keine falsche Demut zeigen: „Ich glaube Gott will, dass wir weltweite Armut auslöschen, und Er hat uns die nötigen Ressourcen dazu gegeben,… um dies auch zu tun.“

Wie im Film, so auch hier: Die Ausmerzung der extremen Armut sei das klare „Mandat“ der Kirche. Eine gewagte These. Wie lautet eine biblische Begründung? Die einzige, die ich auf den mehreren Hundert Seiten gefunden habe, sieht wie folgt aus: Wir sollen als Christen das Reich Gottes ausbreiten, „und diese Ausbreitung schließt die Ausmerzung des Bösen der extremen Armut ein“. Sicherlich geht die Ausbreitung des Reichs auch in gewisser Weise mit einer Ausmerzung des Bösen einher – aber in erster Linie und direkt in der Kirche selbst! Mit dem Ausbreiten der Kirche korreliert der Rückgang von verschiedenen gesellschaftlichen Übeln manchmal, manchmal aber auch nicht. Es ist gewiss nicht das Mandat der Kirche, den Mord, die Bestechung, die Kindesmisshandlung und wer weiß was für Übel in einem ganzen Land direkt auszumerzen. Dies ist oftmals die direkte Verantwortung der staatlichen Obrigkeit (dass die Kirche indirekt, vor allem durch ihre Verkündigung, dazu mitbeitragen kann, steht ja außer Frage). Da der Mensch jedoch böse bleibt, sind hier nur Teilsiege zu erringen.

Man möchte Todd an die Worte Dietrich Bonhoeffers am Ende seiner Ethik erinnern:

„Jesus beschäftigt sich so gut wie gar nicht mit der Lösung weltlicher Probleme… Sein Wort ist nicht Antwort auf menschliche Fragen und Probleme, sondern die göttliche Antwort auf die göttliche Frage an den Menschen. Sein Wort ist wesentlich nicht von unten, sondern von oben her bestimmt, nicht Lösung, sondern Erlösung… Wer sagt uns eigentlich, dass alle weltlichen Probleme gelöst werden sollen und können? Vielleicht ist Gott die Ungelöstheit dieser Probleme wichtiger als ihre Lösung, nämlich als Hinweis auf den Sündenfall des Menschen und auf Gottes Erlösung. Vielleicht sind die Probleme der Menschen so verstrickt, so falsch gestellt, dass sie eben wirklich nicht zu lösen sind. (Das Problem von Armen und Reichen wird sich eben nie anders lösen lassen, als indem es ungelöst bleibt.)“

Auf dieser Linie haben bei Compassion durchaus Mitarbeiter gedacht wie Tim Glenn, der  2008 auf dem Blog der Mission den Beitrag „Warum wir Armut nicht beenden können“ verfasste. „Ich bin nicht ganz sicher, ob Christen überhaupt dazu berufen sind, die Armut zu beenden“, so Glenn. Eigentlich gibt es genug für alle, aber das Problem von Gier und Korruption bleibt. Wir bräuchten einen massiven Wandel der menschlichen Natur, um Armut wirklich auszumerzen. Daher sollen wir nicht die Armut beenden, sondern vielmehr Gott gehorsam sein und den Armen unter uns helfen (Dt 15,11). Wir können etwas von der Ungerechtigkeit beseitigen. – Von dieser realistischen Sicht hat man sich mit „58“ und Fast Living leider weit entfernt.

Todd sieht jedoch die Statistik auf seiner Seite. Diese zeige doch, dass die „Tyrannei der extremen Armut schon jetzt gebrochen wird“. Nun leben nicht mehr 52% der Weltbevölkerung in extremer Armut wie noch 1981, sondern nur noch 26. „Wir müssen den Motor verstehen, der uns von 52 zu 26 gebracht hat“, so im Buch. Die Frage sei nicht, ob wir die Armut ausmerzen können, sondern wie dies geschehen kann.

All das stimmt in gewisser Weise. Aber wer ist das „wir“? Wer hat den Anteil der Armut halbiert? Welches ist denn der Motor, der Armut reduziert? Immer wieder wird heute von vielen Christen gefordert, man müsse sich intensiver mit weltweiter Armut beschäftigen. Richtig! Aber genau deshalb ist auch zu fragen: Welchen Anteil hatte die Kirche bei dieser Halbierung der Armut? In Film und Buch findet sich allerdings keinerlei Nachweis, dass die christlichen Kirchen der Motor waren, der von 52 zu 26% geführt hat. Sie hat sicherlich mit dazu beigetragen, doch hat wirklich sie Hunderte Millionen aus der Armut befreit? Wenn die Halbierung aber im wesentlichen nicht auf das Konto der Kirche geht, warum soll sie dann auf einmal den Rest ausmerzen? Und schmückt man sich hier nicht mit fremden Federn?

Welches ist also nun der Motor? Todd hat offensichtlich viel Sympathie für den Ökonomen Jeffrey Sachs, von dem die Zahl der berühmten 73 Milliarden stammt. Sachs, der das Buch mit dem vielsagenden Titel The End of Poverty schrieb, fordert zusätzliche 73 bis 135 Milliarden US-Dollar jährlich, insgesamt dann 135–195, um die Armut auszurotten. „Hat Sachs recht?“ fragt Todd. Ein afrikanischer Ökonom wird zitiert, der Sachs und Co. heftig widerspricht („[foreign] aid doesn‘t work, hasn‘t work and won‘t work“). Die Debatte über die Effektivität internationaler Hilfe sei wichtig, so Todd, und es wird sogar kritisch bemerkt, dass die verschiedenen Anti-Armuts-Kampagnen der letzten Jahrzehnte immer den Ruf auf den Lippen führen „Die Regierungen müssen die Hilfe erhöhen!“ Todd meint: „Wir werden nicht zufrieden sein, bis die Effektivität der Arbeit belegt ist“. Doch Todd übernimmt einfach die 73 Mrd von Sachs, macht sie ja sogar zu einem Eckpunkt seines Arguments (zumindest im Film), diskutiert überhaupt nicht, ob dieser recht hat und diese Art der Hilfe effektiv oder wie effektiv sie ist.

In Kapitel 23 von Fast Living kommt Todd der Wahrheit nahe, sehr nahe. Adam Smith, der Vater der modernen Volkswirtschaftslehre aus dem 18. Jahrhundert, wird genannt. Smith habe mit seiner Betonung des Segens des freien Markts zumindest teilweise recht gehabt, und Todd bemerkt, dies seien „harte Neuigkeiten“ für einige unter den Lesern. Er stellt richtig dar, wie die Wirtschaftsöffnung in China zu zahlreichen neuen Jobs führte und viele Chinesen aus der Armut befreite. Er nennt das konkrete Beispiel des Happy Meal-Spielzeugs von McDonald‘s, gefertigt natürlich in Asien. Nachfrage in den USA hat in China Jobs und Wohlstand geschaffen – eine „schreckliche Äußerung für viele“ Globalisierungsgegner. Todd schreibt, dass die Billiglohnempfänger in China und anderswo in Asien sich nicht ausgebeutet fühlen, sondern dank ihres Jobs eben Arbeit und Würde haben, nun ihre Familie ernähren können. „Der Bereich der Geschäftswelt hat viel Macht, um extreme Armut zu begrenzen“, so resümiert Todd. Investitionen sind „ein unglaublich mächtiges Instrument zur Abschaffung der Armut“, und daher ist „eine ausgewogenere Einschätzung der Globalisierung“ nötig.

Todd ist ganz auf der richtigen Fährte, bindet den Sack jedoch nicht zu. Er gibt irgendwie zu verstehen, dass die Wirtschaft in Asien der Motor war und ist, der Hunderte Millionen aus der Armut gehoben hat. Wo ist da die Kirche? Ist das nun der Motor? In Kapitel 26 tauchen jedoch die 73 Mrd von Sachs wieder auf, es geht um die Möglichkeiten der Kirchen in den USA, ihre Budgetprioritäten. Hunderte Millionen von Geschwistern leben in lebensbedrohlicher Armut, und „der amerikanischen Kirche ist die Geldbörse des Reiches anvertraut“.

„Das einzig bekannte Gegenmittel gegen weitverbreitete Armut…“

Hilfe für Geschwister in Not ist eine Sache, sicher eine wichtige Sache, der Motor, der Armut auf breiter Front reduziert, aber eine andere. Um es klar zu sagen: Der Motor ist nicht die Kirche, sondern dies Mandat hat Gott der Wirtschaft und Arbeit zugeteilt. Natürlich hat die Kirche ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und daher in gewissem Sinne ein soziales Mandat (s. z.B. die Lausanner Verpflichtung, Art. 5; s. dazu vor allem auch K. Bockmühls gute Einordnung und ausgewogene Kritik des Artikels in Evangelikale Sozialethik, 1975). Doch dies ist keineswegs ein Mandat, weltweite Armut auszumerzen!

Hazlitt

All diejenigen, die immer ein intensives Beschäftigen mit dem Thema fordern, sind zu fragen, ob sie z.B. Henry Hazlitts The Conquest of Poverty (Die Überwindung der Armut, 1973) durchgearbeitet haben, ein Standardwerk zum Thema aus liberaler Perspektive (konkret: aus Sicht der Österreichischen Schule der Nationalökonomie). Nüchtern betont Hazlitt (1894–1993, s.l.), dass Armut uns immer begleiten wird wie Krankheit und Tod (deshalb nannte er sein Buch auch bewusst nur „Überwindung“, nicht „Ende“ der Armut). „In seiner ganzen Geschichte hat der Mensch nach einem Mittel gegen die Armut gesucht, und doch hat immer die Lösung vor seinen Augen gelegen… Dieses individuelle Mittel war Arbeit und Sparen“, so der US-Ökonom. Er betont, dass das viel gescholtene System des Kapitalismus „die Menschheit aus der Massenarmut gehoben hat“ und dieser „in den Industrieländern Massenarmut schon überwunden hat“. Nur Produktion sorgt für Wohlstand, dazu braucht es u.a. Begeisterung für Technik und Unternehmergeist.

Letztlich sagt der Brite David Landes auf den 700 Seiten seines Klassikers Armut und Reichtum der Nationen nichts anderes. Armut ist (oder war) der Normalzustand der Menschheit, sie lebte fast immer und überall in größtem Mangel. Daher sollten wir gar nicht zuerst fragen, was zu Armut führt, sondern was Wohlstand schafft. Erzeugung von Wohlstand ist eine große kulturelle Leistung. Arbeit, Sparen, Konsumverzicht und Aufbau von Vorräten, Neues wagen, Risikobereitschaft, Erfindungsgabe, Phantasie, unternehmerische Aktivität, Liebe zur Technik – all das sind Eckpunkte dieser Kultur.

Entscheidend sind, so Landes, langfristiger Schutz des Kapitals und sicheres Eigentum. „Dem Privateigentum alle Rechte verschaffen, damit Sparen und Investieren gefördert werden“, „die individuellen Freiheitsrechte sichern“, „Vertragsrechte durchsetzen“, stabile, unbestechliche, leistungsstarke, genügsame Regierungen, die ein offenes Ohr für die Bürger haben – das ist nötig, um Wohlstand zu schaffen und Armut deutlich zur reduzieren. „Die Geschichte lehrt uns, dass die besten Heilmittel gegen die Armut aus dem betroffenen Land selbst kommen… was zählt, sind Arbeit, Sparsamkeit, Redlichkeit, Geduld, Beharrlichkeit“, so Landes in seiner Weltgeschichte der Wirtschaft. Übrigens betont auch der peruanische Volkswirt Hernando de Soto stark die Eigentumsrechte (s.  hier).

Money Greed

Ähnlich stellt Jay W. Richards in Money, Greed, and God dar, dass Schaffung von Reichtum langfristig die Armut reduzieren wird. „Wohlstand wird geschaffen, wenn unsere kreative Freiheit in einer Umwelt des freien Marktes blühen kann und dies getragen wird von einer Herrschaft des Rechts und einer reichen moralischen Kultur.“ Er zitiert William Easterly (ein Opponent von Sachs): „Das Ende der Armut wird das Ergebnis von selbstgeschaffenen politischen und ökonomischen Reformen sein, nicht von Hilfe von Außen.“ Und hier bringt er es auf den Punkt: „Das einzig bekannte Gegenmittel gegen weitverbreitete Armut über Generationen hinweg ist Kapitalismus. So ist es.“ Wohltätigkeit (charity), Regierungshandeln haben ihre Aufgabe, sind oft entscheidend in extremen Katastrophensituationen. „Es gibt jedoch keinerlei Beleg, dass sie das Problem der Armut auf breiter Front oder langfristig lösen.“ Was hilft tatsächlich? Eigentumsrechte, Herrschaft des Rechts, persönliche Tugenden – das ist „langweilig, schafft aber Wohlstand“. So ist es auch kein Zufall, dass Länder mit ökonomischer Freiheit und Herrschaft des Rechts auf lange Sicht blühen.

Richards nennt schließlich zehn Schritte oder Maßnahmen zur Armutsreduzierung: Die Herrschaft des Rechts zum Durchsetzen bringen, die Regierungen sich darauf konzentrieren lassen; ein formelles System der Eigentumsrechte etablieren, wirtschaftliche Freiheit sichern; stabile Familien und andere wichtige zivilgesellschaftliche Einrichtungen; Glaube an Wahrheit und Zielgerichtetheit im Universum; richtige kulturellen Sitten, Traditionen und Tugenden wie Ausgerichtsein auf die Zukunft, Risikobereitschaft, Fleiß, Respekt vor den Rechten und dem Eigentum Anderer, Wille zum Sparen; Vermittlung von gewissen wirtschaftlichen Grundkenntnissen: Wohlstand und Reichtum werden zuallererst geschaffen, d.h. Verteilung ist nicht das Hauptproblem; Segen des freien Handels; ich kann nach der Verbesserung des eigenen Lebens streben, ohne andere zu schaden; Notwendigkeit der harten Arbeit.

In Richards Zehn-Schritte-Programm kommt die Kirche direkt gar nicht vor. Demütigend für Todd und alle christlichen Armutsvernichter. Aber gewiß hat sie eine wichtige Rolle zu spielen. Ihre Aufgabe bei der wirklichen breiten Reduzierung der Armut ist aber eine eher indirekte: bei der Schaffung von kulturellen Sitten, Traditionen und Tugenden ist sie natürlich an vorderster Front beteiligt.

„Mangelnder ökonomischer Sachverstand“ und „Realitätsverlust“

Wie kommt es aber nun, dass das Naheliegende nicht gesehen wird? Dass selbst Armutsexperten den wahren Motor nicht sehen? Dass auf Kapitalismus, Globalisierung und Neoliberalismus immer nur eingedroschen wird – auch von evangelikalen Christen, und das gerade in Deutschland? (Todd als Amerikaner ist hier ja sehr zurückhaltend.)

Eine Antwort ist sicher, dass weite Teile der Bevölkerung und damit auch Christen in den reicheren Ländern viel zu wenig Grundwissen von wirtschaftlichen Zusammenhängen besitzen. Die Folge: selbst im reichen Deutschland sind fast 80% (!) mit dem Wirtschaftssystem nicht zufrieden. Historiker Paul Nolte analysiert scharf:

Nolte

„Das Problem der Deutschen ist nicht zu viel, sondern zu wenig Markt. Wir leiden nicht unter einem überbordenden Kapitalismus, sondern haben in vieler Hinsicht immer noch nicht gelernt, marktwirtschaftliche Prinzipien überhaupt zu akzeptieren; wir tun uns sogar schwer, sie zu verstehen. Diese Distanz aber produziert erst recht Ängste und setzt damit eine Spirale in gang, die uns in den Schutz vermeintlicher Schonräume führen will, in Nischen des Lebens, in denen wir vor dem ‘kalten’ Kapitalismus… sicher sind“ (Riskante Moderne).

Nolte spricht von „mangelndem ökonomischen Sachverstand im Alltag“, spricht gar von „Realitätsverlust“: „Wer den Kapitalismus für einen furchtbaren Irrweg der Geschichte hält, müsste sich konsequenterweise in die Tonne des Diogenes zurückziehen oder als Einsiedler in den Wald flüchten“, denn im Alltag, angefangen bei den wie wundersam immer „gefüllten Regalen im Supermarkt“ profitieren wir ständig von der wirklich funktionierenden freien Marktwirtschaft. Und gegen die Rede vom Primat der Politik: „Deutschland hat nicht zu viel Ökonomie, sondern ist strukturell unterkommerzialisiert“.

58 VIIIAuf diesem Hintergrund finden in Deutschland Christen nur schwierig Gehör, wenn sie Sätze wie diese von sich geben: „Globalisierung ist ein Programm gegen Massenarmut“ (der Katholik Roland Baader). Viel leichter hat es da das Kapitalismus-bashing wie in Der Preis des Geldes von Thomas Giudici und Wolfgang Simson. Beide kommen wieder dicht an die Wahrheit heran, denn auch hier wird Adam Smith genannt, der „die menschliche Arbeit und Arbeitsteilung als Quellen des Wohlstandes“ erkannte. Man wolle die Marktwirtschaft „ausdrücklich nicht“ kritisieren, aber was ist dies anderes als Augenwischerei, wenn es dann um so dicker kommt:

„Das marktwirtschaftliche Modell nutzt den typisch menschlichen Trieb zu horten. Die Wurzeln dieses Triebes liegen im Herzen des Menschen und heißen Habsucht und Gier. Habsucht bedeutet haben wollen, was man nicht hat, und Gier besagt immer mehr haben zu wollen… Die Erfindung des Geldes und der Marktwirtschaft fördern und fordern es: Gier ist geil. Mehr ist immer besser.“ Ein paar Seiten weiter: „Das menschliche Bedürfnis, den eigenen Nutzen zu maximieren und damit einhergehend Gier und Habsucht, sind die zentralen Treiber des marktwirtschaftlichen Handelns. Der Wunsch nach mehr, nach Maximierung, ist der Treibstoff der Marktwirtschaft.“

Das ist die übliche Taktik: der freien Marktwirtschaft wird unterstellt, sie habe ein unmoralisches Fundament (und das soll keine Kritik sein?!). Unsinn! Das Streben nach mehr ist keineswegs als solches mit Gier gleichzusetzen. Was ist am Wunsch nach mehr schlecht? Hätten wir diesen Wunsch nicht, würden wir heute alles noch mit der Hand waschen, uns fast immer zu Fuß fortbewegen und auf der Maschine tippen (was aber auch schon ein Fortschritt war). Und Urlaub gäbe es auch nicht; von Fernreisen könnte keine Rede sein. Hier ist unbedingt festzuhalten: Der Wunsch, ja der Trieb der Menschen, das Leben zu verbessern, hat sie aus der Armut befreit. Er ist ganz und gar natürlich, aber dabei – wie kann es anders sein – auch von mehr oder weniger Sünde durchdrungen. Doch hätten wir diesen Wunsch nicht, würden wir einfach im Elend verharren.

Giudici/Simson schießen gewaltig am Ziel vorbei. Noch einmal wird zugestanden, dass die Marktwirtschaft „die beste bekannte Wirtschaftsordnung für einen effizienten und effektiven Einsatz der Ressourcen“ ist. Es sei „unbestritten, dass das marktwirtschaftliche System das Wirtschaftswachstum am besten fördere.“ Hurra, könnte man meinen, sie haben es also doch kapiert. Fehlanzeige. Gleich anschließend wieder hanebüchener Nonsens: Es stimme nicht, „dass dadurch der Wohlstand aller wächst. Eine Erkenntnis, die durch die Einkommens- und Vermögensstatistiken laufend bestätigt wird: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, und neuerdings verarmt auch der Mittelstand immer mehr.“ Beide Experten hätten besser ihre Hausaufgaben gemacht. Wo sollen diese Statistiken sein? Die ständige Wiederholung dieses Mythos macht ihn nicht wahr. Natürlich werden Reiche reicher, und dies oft schneller als die Armen, denn anders kann es ja nicht sein (wenn erst einmal Kapital aufgebaut ist, vermehrt es sich auch schneller, wenn gut investiert). Zur vielbeschworenen Schere zwischen Arm und Reich nur noch dies: Es gab in der Menschheitsgeschichte noch nie solchen Massenwohlstand wie nun – und wer ist dafür verantwortlich??

Schließlich wird auch noch das Prinzip des freien Tausches kritisiert. Es „erscheint“ nur positiv. Tatsächlich fördere es letztlich „das Recht des Stärkeren“. Oh Hilfe! Die Wahrheit wird hier auf den Kopf gestellt. Denn es gibt im Prinzip nur zwei Arten, zu Reichtum und Wohlstand zu kommen. Der freie Tausch, und das am höchsten entwickelte System des freien Tausches ist die kapitalistische Marktwirtschaft. Am Markt kann sich nur der behaupten, der die Bedürfnisse des Kunden und Käufers am besten erfüllt. Wenn Raub und Diebstahl weitgehend ausgeschlossen sind und Eigentumsrechte gewahrt werden, dann kann man sich am Markt nur dadurch langfristig einen Vorteil verschaffen, indem man direkt oder indirekt anderen Nutzen verschafft. Ich kann mit einem Produkt nur damit Geld verdienen, wenn es den Kunden Vorteile bringt. In diesem System kommt also nur der zu Reichtum, der anderen gut dient. Die Alternative, die lange genug die Weltgeschichte dominierte: andere Völker ausrauben und plündern, die eigenen Untertanen ausbeuten, unterdrücken und versklaven.

Auf den Märkten findet die große Entmachtung statt. Das ist so offensichtlich, dass wir es heute schon gar nicht mehr sehen. Zu was kann mich z.B. der doch als so mächtig angesehene Bill Gates zwingen? Sein Windows oder MS Office benutzen? Zu was hätte mich der wahrlich skrupellose Steve Jobs mit all seiner Macht zwingen können? Etwa sein iPhone zu kaufen? All seine Macht nutzt ihm gar nichts, wenn ich sein neustes Spielzeug nicht haben will.

Märkte sind eines der genialsten Entmachtungsinstrumente, das die menschliche Kultur hervorgebracht hat. Christen wissen, dass es in ihnen Missbrauch gibt und geben muss – schließlich leben wir nach dem Sündenfall. Aber noch einmal: die einzige Alternative zur Marktordnung ist eine ‘Raubordnung’, und da herrscht dann wirklich das Recht des Stärkeren.

Giudici/Simson meinen jedoch, in den „real existierenden Märkten“ sei „nichts [!] zu sehen von einer Realisierung der Versprechen von Wohlstand und Glück. Im Gegenteil.“ Man muss schon ganz verblendet sein, um nicht zu sehen, dass der Kapitalismus zu einer Erhöhung des materiellen Lebensstandards im 20. Jhdt. um das Zehn- bis Zwanzigfache (so C. Christian von Weizsäcker) geführt hat, zumindest in den Industrieländern.

Anstatt das wirtschaftliche Wissen unter Christen zu stärken, vergiften Giudici/Simson den Diskurs geradezu. Dass so ein schlimmes Werk im angesehenen Brendow-Verlag erscheinen konnte, ist schon vielsagend. In Deutschland haben wir nur noch einen „politikverseuchten, staatsversumpften Restkapitalismus“, so Roland Baader, und auch auf dem treten wir noch herum, anstatt ihn in die Intensivstation zu fahren und mit der Krankenheilung zu beginnen.

 Klare Quellen

„Christliche Gemeinden tun zu wenig gegen Armut“, so hören wir heute. Irgendwie stimmt dies wohl, doch wer legt eigentlich fest, was von wem und in welchem Umfang gegen Armut zu tun ist? Es wird höchste Zeit, dass evangelikale Christen auf der Suche nach Antworten nicht nur das sozialistisch ideologisierte Accra-Bekenntnis der Weltgemeinschaft reformierter Christen, sondern auch andere Quellen studieren. Drei seien hier abschließend als Beispiele genannt.

Nef

Im Liberalen Institut in der Schweiz engagieren sich auch manche Christen wie der Präsident Robert Nef (s. r.). In der Reihe „Reflexionen“ erschien dort der Band „Christlicher Glaube und Kapitalismus“ (2/2006). Auf der Internetseite außerdem: „Wirtschaftliche Freiheit stellt das beste Rezept gegen Armut dar“ und „Mangelnder Eigentumsschutz erzeugt Armut“. Das Institut brachte auch den Aufsatzband Das Ende der Armut: Chancen einer globalen Marktwirtschaft heraus.

In Großbritannien schlägt Peter Heslam (s.u.) echte Brücken zwischen Wirtschaft und Theologie und  knüpft dabei auch an Smith an. Heslam, Leiter von „Transforming Business“ in Cambridge, schreibt: „Es war nicht die Make Poverty History-Kampagne von 2005, die als erste die Öffentlichkeit zum Nachdenken darüber brachte, was gegen die weltweite Armut getan werden kann. Es war Smiths Buch The Wealth of Nations, veröffentlicht 1776, zu einer Zeit, als auch im Westen die meisten Menschen noch arm waren.“ (www.licc.org.uk). Eine blühende Wirtschaft, basierend auf dem Fleiß und der intelligenten Arbeit aller, dient dazu, dass breiter Wohlstand für alle erreicht und die Armut deutlich reduziert wird. Und die Geschichte der Länder, die Smith in diesem Gedanken gefolgt sind, hat seine Wahrheit auch bestätigt. Oft wird dieser wichtige Aspekt in Smiths Werk übersehen. „Als Antwort auf die Armut“, so P. Heslam, „ist nicht nur die moralische Vorstellungskraft, sondern auch der unternehmerische Geist und der persönliche Nutzen [Smiths self-interest; die Übersetzung Egoismus ist ganz unangemessen] nötig. Alle drei treiben den Menschen an. Wenn sie an einem Strang ziehen, können die Ergebnisse für die Armen sehr positiv sein“.

Heslam II

Viel Material stellt auch das Acton-Institut aus den USA bereit. Es ist benannt nach dem großen britischen Historiker Lord Acton (John Emerich Edward Dalberg Acton, 1834-1902). Dieser gehörte der katholischen Kirche an, und das Institut wird auch von einem Katholiken geleitet (zu dessen Buch s. hier), Mitarbeiter sind aber auch manche Protestanten. Zu empfehlen sind z.B. die Texte auf dieser Seite, konkret dort der Beitrag der Ökonomin Anielka Munkel aus Nikaragua („Faith, Freedom, and the End of Poverty“). Zu einem neuen Nachdenken über Armut regt auch das Projekt „PovertyCure“ von Acton an. Jedem deutschen Armutsbekämpfer sei schließlich das Werk  Economic Thinking for the Theologically Minded von Samuel Gregg, Acton-Mitarbeiter, empfohlen, mehr von ihm s. hier.

58 VII