Die Religion der sozialen Gerechtigkeit

Die Religion der sozialen Gerechtigkeit

„Kämpfer für soziale Gerechtigkeit“

„Gerechtigkeit“ wird gewiss wieder ein zentrales Thema im Bundestagswahlkampf werden. Auf die Frage des „Spiegels“ (6/2017), ob Deutschland ein gerechtes Land sei, gab Kanzlerkandidat Martin Schulz eine präzise Antwort: „Nein. Deutschland ist kein gerechtes Land. Millionen Menschen fühlen, dass es in diesem Staat nicht gerecht zugeht.“ Man fragt sich, warum andere Millionen in dieses ach so ungerechte Land strömen wollen und dort fast schon ein Paradies wähnen.

Äußerungen wie die von Schulz sind natürlich nicht auf die bundesdeutsche Rechtsstaatlichkeit gemünzt. Auf die ist man ja sogar recht stolz. Kommt vor deutschen Gerichten Gerechtigkeit zum Zuge? Allermeist sicher, und ganz gewiss viel öfter als in Tschetschenien oder Eritrea oder China. Auch Schulz wird seine Rechte vor deutschen Gerichten wohl gut geschützt wissen. Doch ihm geht es um etwas anderes: um die soziale Gerechtigkeit. Sie hat die gute alte Gerechtigkeit mehr und mehr vereinnahmt.

Soziale Gerechtigkeit, so scheint es, brennt auch den evangelischen Kirchenleitungen in Deutschland auf der Seele. Zahlreiche Stimmen zu Jahresbeginn machten dies deutlich. Bischof Dröge von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz traf am 9. Januar die Fraktion der Brandenburger Linken zu einem Austausch in Potsdam. „Ich nehme mit Respekt wahr, wie die LINKE sich für soziale Gerechtigkeit und gute Perspektiven in Brandenburg einsetzt“, so der Bischof.

Kollege Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, forderte bei der Landessynode Mitte Januar in Bad Neuenahr, die evangelische Kirche müsse angesichts der in diesem Jahr anstehenden Bundes- und Landtagswahlen die soziale Gerechtigkeit zum Thema machen. Die Kirche wohlgemerkt; als ob dies nicht schon so gut wie alle Politiker täten.

Ins gleiche Horn blies EKD-Chef Bedford-Strohm in seiner Neujahrspredigt im Berliner Dom. Darin zitierte er Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus dem Jahr 1935, wo dieser den kompromisslosen Einsatz für soziale Gerechtigkeit forderte. Der bayerische Bischof weiter: „Wenn die einen trotz lebenslanger harter Arbeit im Alter eine Rente zu erwarten haben, die zum Leben nicht ausreicht, und kein finanzielles Polster irgendwo haben, während andere ein Barvermögen haben, das sich in ganz Deutschland auf inzwischen 5,3 Billionen Euro summiert, dann stimmt etwas nicht im sozialen Gefüge unseres Landes. Wir brauchen im Jahr 2017 in unserem Land eine große gemeinsame Anstrengung für mehr soziale Gerechtigkeit.“

Auch in seiner Rede beim Johannisempfang der EKD im vergangenen Juni in Berlin hob  der Ratsvorsitzende hervor, dass zur „Krisenbewältigungskompetenz“ immer auch soziale Gerechtigkeit gehöre. „Wer die Kernthemen sozialer Gerechtigkeit vernachlässigt, der hat schon in den Klingelbeutel des Krisen-Götzendienstes eingezahlt.“

Wer sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt, muss ein guter Mensch sein. Nur so ist wohl zu erklären, dass auf der Internetseite der WSCF (World Student Christian Federation), zu der auch die Evangelische Studierendengemeinde (ESG) gehört, ein Nachruf auf den vor einigen Monaten verstorbenen Castro zu finden ist. Die kubanische Studentenbewegung schreibt dort, man habe die „schockierende Nachricht“ erhalten, dass der „historische Führer der kubanischen Revolution, eine prophetische Stimme und ein unermüdlicher Kämpfer für soziale Gerechtigkeit gestorben ist.“ Die christliche Studentenbewegung in Kuba und die Föderation der christlichen Studenten in Lateinamerika und der Karibik sind in „tiefer Trauer“ über den Verlust des „Comandante“ Fidel Castro Ruz vereint. Er war „ein Beispiel für Solidarität, Antiimperialismus, Kampf für Souveränität, Gleichheit und  Freiheit des Menschen“, setzte sich „für die am stärksten Benachteiligten“ ein. All dies seien „Werte und Prinzipien, die Christen und Christinnen verteidigen und in unserer Alltagspraxis fördern.“ „Wir danken Gott für sein Leben“.

Ein langjähriger Herrscher eines Unrechtsstaates wird zum Helden der sozialen Gerechtigkeit? Nun mag man einräumen, dass sich viele Kubaner, auch Christen, über Jahrzehnte hinweg in Anbiederung geübt haben. Doch warum veröffentlicht so etwas die WSCF (wenn auch nur in Spanisch)? Irgendetwas ist hier gewaltig aus dem Lot geraten.

„Die sozialen Verhältnisse immer wieder neu regeln“

Armut, soziale Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – geflügelte Begriffe, aufgeladene Worte, aber kaum findet man greifbare und klare Konzepte. Nur zu oft ist zu fragen, wovon überhaupt die Rede ist. Im Glaubens-ABC auf den Seiten der EKD wird zum Stichwort „Gerechtigkeit“ alles wild durcheinander gemischt, und am Ende ist man auch nicht schlauer als vorher. Was aus biblisch-christlicher Sicht zur Gerechtigkeit wirklich festzustellen ist, erhellt sich dem Leser kaum.

Auf „Wikipedia“ heißt es, der Begriff der sozialen Gerechtigkeit beziehe sich „auf gesellschaftliche Zustände, die hinsichtlich ihrer relativen Verteilung von Rechten, Möglichkeiten und Ressourcen als fair oder gerecht bezeichnet werden können“. Eine gerechte Verteilung von Rechten ist einfach zu definieren: alle Rechte gelten für alle gleich – ein klassischer Eckpfeiler des Rechtsstaates. Aber auch hier macht „soziale Gerechtigkeit“ alles komplizierter, denn ihr geht es ja um soziale Anspruchsrechte. Wie sollen die gerecht verteilt werden? Und was ist eine gerechte Verteilung von Ressourcen? Bei Otfried Höffe ist es die „Gleichverteilung oder eine Verteilung gemäß der Bedürfnisse“. Gerechte Verteilung jedem nach seinen Bedürfnissen? Oder gar gleiche – genau gleiche? – Verteilung? Wie soll das in der Gesamtgesellschaft aussehen – konkret? Welcher gottgleiche Staat soll das bewerkstelligen? Soziale Gerechtigkeit nehme, so der Philosoph, eine „Zwischenstellung zwischen der nicht mehr geschuldeten Gerechtigkeit und der freiwilligen Menschenliebe“ ein (Gerechtigkeit). Das klingt gut, aber was soll denn zwischen Pflicht und Freiwilligkeit liegen?

Bei der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es zum Stichwort Sozialstaat, dass die Bundesrepublik nach dem Grundgesetz ein sozialer Bundesstaat bzw. ein sozialer Rechtsstaat ist. Dann wird festgehalten: „Die Prinzipien des Rechtsstaates sind unveränderlich und zeitlos gültig.“ Dagegen ließe sich „soziale Gerechtigkeit, die zentrale Zielsetzung des Sozialstaates, … nicht ein für alle Mal verbindlich definieren. Ihre Ausgestaltung hängt ab von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Das Sozialstaatsprinzip ist somit ein dynamisches Prinzip, das den Gesetzgeber verpflichtet, die sozialen Verhältnisse immer wieder neu zu regeln.“

Hier wird dem Leser weißgemacht, die Quadratur des Kreises sei möglich, und die ganze Krux des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ wird deutlich. Auf einmal ist der Staat verpflichtet, seine Zwangsmaßnahmen wie Gesetze, Vorschriften und Steuern einzusetzen, um eine andere Art der Gerechtigkeit – nicht die klassische der Rechtsstaatlichkeit! – zu verwirklichen. Die vielleicht noch gut klingende „Dynamik“ wird zum Vorwand für weitgehend willkürliche Umverteilung von Eigentum. Das bloße Adjektiv bzw. die Vorsilbe „sozial“ wurde zur angeblichen Erlaubnis, die sozialen Verhältnisse „zu regeln“ und das heißt doch im Sinne einer verschwommenen sozialen Gerechtigkeit zu steuern.

Wer gibt aber dem Gesetzgeber überhaupt das Recht zu dieser Steuerung? Hier kommt in der Regel als Antwort nur der „demokratische Mehrheitswille“. Doch seit wann ist der bloße Mehrheitswille ein Prinzip des Rechtsstaates? Wenn morgen um der sozialen Gerechtigkeit willen und gewollt von einer Mehrheit die „Superreichen“ weitgehend enteignet werden – wie könnte dem noch widersprochen werden? Schließlich sei doch soziale Gerechtigkeit die zentrale Zielsetzung des Sozialstaates, der dann auch alles andere untergeordnet werden muss.

Soziale Gerechtigkeit ist als Thema inzwischen auch bei den Evangelikalen gelandet. Im  Just People?-Kurs der Micha-Initiative wird festgestellt: „Gerade beim Thema der sozialen Ungerechtigkeit besteht in vielen Kirchen dringender Nachholbedarf!“ Im AT werde soziale Gerechtigkeit eingefordert, und jeder Christ müsse sich fragen, ob die eigene Tätigkeit mehr zu sozialer und globaler Gerechtigkeit beiträgt. „Christliche Prinzipien von Solidarität, sozialer Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit“ müssen stärker betont werden. Der Kurs konzentriere sich bewusst auf Armut und soziale Gerechtigkeit.

Kategorische Äußerungen, und davon nicht zu wenige. Soziale Gerechtigkeit muss sein, so der Tenor. Christen und Kirchen haben danach zu streben. Punkt. Widersprechen geht gar nicht. Was versteht man bei „Micha“ nun aber darunter? „Im Kurs sprechen wir außerdem auch oft von ‘sozialer Gerechtigkeit’. Dieser Begriff wird sehr unterschiedlich definiert, deshalb wollen wir uns hier auch nicht auf eine Definition festlegen. Durch den Kurs möchten wir aber Anstöße geben, wie soziale Gerechtigkeit aussehen kann und sollte.“

Im ersten Band von Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit… hat John Stott ein Kapitel „Komplexe Zusammenhänge – können wir konsequent denken?“ (Im Englischen steht für das „konsequent“ straight – gerade, richtig.) Auf Stott als einem der Väter der Hinwendung der Evangelikalen zum sozialen Engagement wird bekanntlich gerne zurückgegriffen. Er warnte jedoch genauso vor schlampigem Denken, ja Gedankenlosigkeit. Wenn man nun im Just People?-Kurs liest, es ginge vor allem um soziale Gerechtigkeit, ist dann nicht eine inhaltliche Klärung und Füllung dieses Begriffs angebracht, ja nötig? Hier reicht eben nicht das stereotype „wir müssen etwas gegen die Armut tun!“ Gewiss müssen wir das. Aber wer soll was denn genau tun?

Es wird aber nicht einmal der Versuch gemacht, den für den Kurs ja zentralen Begriff der sozialen Gerechtigkeit auch nur grob zu definieren oder zu umreißen. Die Zielangabe scheint eindeutig: Strebe unbedingt nach sozialer Gerechtigkeit! Aber was ist davon zu halten, wenn sich jeder dieses Ziel selbst zurecht definieren kann und soll? Vielleicht lag Castro dann ja gar nicht so falsch? Und man spiele dies einmal mit dem Begriff „Demokratie“ durch. Bekanntlich gibt es da auch unterschiedliche Definitionen (man denke an die kommunistischen „Volksdemokratien“). Demokratie kann so und mal so aussehen. Das mag wohl sein. Hier muss man sich doch wohl auf eine Art der Definition festlegen (wenn auch nicht zu eng). Wie sollte Demokratie denn aussehen? Und wie sollten wir soziale Gerechtigkeit verstehen? Es sieht ganz danach aus, dass sich die Kämpfer für soziale Gerechtigkeit die Moralität gutschreiben, sich dann aber nicht die Mühe machen, dieses Konzept klar zu umreißen. Damit kaschieren sie die Preisgabe der Vernunft. Auch wenn ich Stott in der Sozialethik nicht in allem folge – sauber argumentiert und begründet hat er dagegen fast immer.

Sprachrohr einer neuen Religion

Kardinal Reinhard Marx gesteht in Das Kapital – Ein Plädoyer für den Menschen ebenfalls ein, dass es „schwierig“ sei, zu einem „Grundkonsens“ über einen „allgemeinen zustimmungsfähigen, gehaltvollen Begriff sozialer Gerechtigkeit zu kommen“. Wohl wahr. Doch auch er schreckt nicht vor kategorischen Äußerungen zurück: „Die Idee politischer Freiheitsrechte und ebenso die Idee sozialer Grundrechte ergeben sich letztlich notwendigerweise, wenn man bereit ist, die politischen und sozialen Konsequenzen des christlichen Menschenbildes und der diesem christlichen Menschenbild eng verbundenen Anthropologie der Aufklärung zu ziehen.“ (hervgh. HL)

Dass die sozialen Grundrechte ganz anderer Natur als die klassischen Grundrechte sind, erklärt Marx dem Leser natürlich nicht (hier mehr dazu). Wie üblich springt auch Marx von der Menschenwürde zur sozialen Gerechtigkeit, was diese geradezu heiligspricht:  Der „Gedanke der unveräußerlichen Würde jedes einzelnen Menschen liegt auch der Vorstellung der sozialen Gerechtigkeit zugrunde: Die sozialen Institutionen und Strukturen müssen so gestaltet sein, dass sie jedem Mitglied in Staat und Gesellschaft eine menschenwürdige Existenz ermöglichen.“

Auf dieser Linie fährt Marx fort: „Menschen haben bestimmte Anspruchsrechte allein aus der Tatsache heraus, dass sie Menschen sind. Hier spricht man von ‘Grundgerechtigkeit’ oder ‘Bedarfsgerechtigkeit’, und auch der Begriff ‘Beteiligungsgerechtigkeit’ muss hier genannt werden.“ Wenn jemand nicht in der Lage ist, „seinen materiellen Bedarf selbst zu decken“, dann „muss die solidarische Gemeinschaft einspringen und helfen. Der Sozialstaat ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit.“

Die Inflation der Gerechtigkeiten sollte erahnen lassen, auf welchem Terrain man sich befindet: auf dem der sprachlichen Totalverwirrung. So ist der Boden bereitet für wilde Sprünge. Es stimmt: Wenn Menschen materiell unterversorgt sind, sollte möglicherweise jemand einspringen. Nun müsste aber erst einmal begründet werden, warum dies in rechtlichen Kategorien gefasst werden soll. Und vor allem: Warum muss dies der Staat tun? Gibt es nicht eine Vielzahl von anderen solidarischen Gemeinschaften?

Es ist in hohem Maße irritierend, wenn angesehene Kirchenvertreter die soziale Gerechtigkeit gleichsam heiligen und sich auch noch zum Sprachrohr der neuen Religion machen. Man gewinnt fast schon den Eindruck, dass das erste Gebot im zeitgenössischen Katechismus lautet: Du sollst dich für soziale Gerechtigkeit einsetzen! Norbert Bolz brachte es vor gut einem Jahr im Essay „Gnadenlose Neuzeit“ auf den Punkt:

„Mit dem Untergang des Kommunismus schien zwar die atheistische Religion, die den Glauben an die Erlösung durch Gesellschaft gepredigt hat, ruiniert zu sein, aber in der Rede von der sozialen Gerechtigkeit hält sich dieser Glaube doch noch am Leben. Unsere Ehrfurchtssperre vor diesem Begriff ist heute so mächtig wie nie zuvor. Die Religion der sozialen Gerechtigkeit herrscht fast uneingeschränkt über die Seelen der modernen Menschen.“

Semantischer Betrug

Der Begriff „sozial“ wanderte erst vor einigen Hundert Jahren aus dem Französischen  ins Deutsche und Englische (social; dies wiederum vom lat. socius – mitgehend, Gefolgsmann). Seine neutrale Bedeutung ist recht einfach: das Zusammenleben betreffend; etwas, das auf die menschliche Gemeinschaft bezogen ist. Populär wurde der Begriff im 19. Jahrhundert. Damals entstand die Soziologie als Wissenschaft, und der Sozialismus (eine Wortschöpfung der Anhänger von Henri Saint-Simon) kaperte gleich das Wort und nahm frech das Soziale für sich in Anspruch – im Gegensatz zum ‘bösen’ Individualismus der bald kapitalistisch genannten Wirtschaftsordnung.

Kulturen, auch moderne, sind also lange ohne den Begriff ausgekommen. Und auch heute kann meist gut auf ihn verzichtet werden. „Soziales Engagement“ wird z.B. im Just People!-Kurs geradezu inflationär gebraucht. Was ist dies anderes als der Einsatz für andere Menschen oder biblischer: der Dienst am Nächsten?

Bei der Gerechtigkeit wird der Vorsatz „sozial“ äußerst problematisch, ja sinnlos. Gerechtigkeit ist so gut wie immer eine Beziehungskategorie. In der Bürgergesellschaft regelt der Grundsatz der Gerechtigkeit das Zusammenleben der Individuen. Gerechtigkeit als Regel gerechten Verhaltens unter anderen Menschen hat also immer eine soziale Dimension. Genau das ist ja auch der Grund, warum es so schwer fällt, eine halbwegs klare Definition der sozialen Gerechtigkeit im Unterschied zu der eh schon das das Zusammenleben betreffenden Gerechtigkeit zu geben.

Natürlich muss in diesem Zusammenhang Friedrich August von Hayek (1899–1992) erwähnt werden, der eine Fundamentalkritik der sozialen Gerechtigkeit vorgelegt hat, der man sich stellen muss. Hayeks Argument fasst hier sehr gut Michael von Prollius zusammen Hans Jörg Hennecke stellte den Grundgedanken Hayeks gut heraus: Für ihn lässt sich „Gerechtigkeit als Kategorie nur sinnvoll auf menschliche Handlungen oder auf die Regeln, die sie leiten, beziehen. Sie fragt jedoch nicht danach, welche Ergebnisse dieses Verhalten für einzelne Menschen oder Gruppen hat… Eine bloße Tatsache oder einen Sachverhalt, den niemand zu ändern vermag, könne man dagegen zwar als gut oder schlecht, nicht aber als gerecht oder ungerecht beurteilen. Auf Sachverhalte anwendbar ist die Kategorie Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit nach Hayek nur insoweit, als sich jemand dafür verantwortlich machen lässt, dass er einen Sachverhalt herbeigeführt oder zugelassen hat.“ (Friedrich August von Hayek zu Einführung)

In der „Schlußfolgerungen“ aus Kap. 9 in Recht, Gesetz und Freiheit (1979) fordert Hayek, dass man über den Sinn von verwendeten Worte nachdenken soll. Soziale Gerechtigkeit ist keineswegs „ein unschuldiger Ausdruck guten Willens gegenüber den vom Schicksal weniger Begünstigten“, vielmehr wurde er „zu einer unredlichen Überredungsformel“, dass man nämlich „einer Forderung irgendeiner Interessengruppe zustimmen [müsse], die dafür keinen wirklichen Grund angeben kann“. Der Ausdruck ist „intellektuell fragwürdig, Zeichen der Demagogie oder billigen Journalismus, den zu gebrauchen verantwortungsbewußte Köpfe sich schämen sollten, weil es unanständig ist, ihn zu verwenden, sobald man seine Inhaltlosigkeit erkannt hat.“

Der „fortgesetzte Gebrauch des Ausdrucks“ sei „nicht nur unredlich und Quelle ständiger politischer Verwirrung“, er zerstört auch „das moralische Empfinden“, denn der Begriff Gerechtigkeit selbst wird entleert und „infolgedessen einer der grundlegenden Moralvorstellungen über Bord“ geworfen, von der jedoch „das Funktionieren einer Gesellschaft freier Menschen abhängt“. Genau dies beobachten wir ja heute: Die Gerechtigkeit ist soweit ausgehöhlt, dass ein Spitzenpolitiker Deutschland mal eben zu einem Land der Ungerechtigkeit erklärt. Man kann eine gar nicht so schlecht funktionierende Ordnung auch kaputtreden.

Hayek argumentiert, dass der Ausdruck uns bei Entscheidungen nicht hilft. Und die oben zitierten Quellen bestätigen dies ja. Tut was! Engagiert euch! Helft anderen! Gebt ab! Diese Ermahnungen sind nur zu oft nötig. Und sie reichen völlig aus. Aber was soll hier mit dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ geholfen sein? Der wohl einzige Nutzen: Der mit Zwangsmitteln operierende Staat kommt ins Spiuel (Marx: „Der Sozialstaat ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit“).

In seinem letzten Buch Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus schreibt Hayek: „Seine bei weitem schlimmste Verwendung findet das Wort ‘sozial’, das ohnehin jedem Wort, dem es vorangestellt wird, ganz und gar seinen Sinn nimmt, in dem fast weltweit gebrauchten Begriff der ‘sozialen Gerechtigkeit’… Die Wendung ‘soziale Gerechtigkeit’ ist, wie ein hochangesehener Mann mit mehr Mut als ich schon vor langer Zeit rundheraus sagte, nichts weiter als ‘semantischer Betrug aus demselben Stall wie Volksdemokratie’ [Charles Curran, 1903-1972].“ Hayek bedauert das „alarmierende Ausmaß, in dem diese Bezeichnung das Denken der jüngeren Generation bereits in die Irre geführt hat.“

Hayek weiter: „Ich konnte auch schon die Bemerkung lesen, ‘sozial’ beziehe sich auf alles, was Einkommensunterschiede vermindere oder beseitige. Aber warum soll derartiges Handeln ‘sozial’ sein?“ Genau. Die „Verwendung des Ausdrucks ‘sozial’ [ist] praktisch gleichbedeutend mit dem Ruf nach ‘Verteilungsgerechtigkeit’.“ Allerdings, so Hayek, ist eine Wettbewerbsordnung, Erhalt von Wohlstand usw. damit nicht vereinbar. Der Kult um die soziale Gerechtigkeit steht den Prinzipien einer freien Gesellschaft entgegen. „Durch solche Irrtümer sind die Menschen also so weit gekommen, das als ‘sozial’ zu bezeichnen, was schlechthin das Haupthindernis für die Erhaltung der ‘Gesellschaft’ ist. Statt ‘sozial’ sollte es in Wirklichkeit ‘antisozial’ heißen.“ Durch das fortgesetzte Reden und Einbläuen von sozialer Gerechtigkeit „blüht eine antikapitalistische Ethik auf dem Nährboden der Irrmeinungen von Menschen, die die wohlstandsstiftenden Institutionen verurteilen, denen sie selbst ihre Existenz verdanken.“

Auch im Vortrag Wissenschaft und Sozialismus (1979) ging Hayek noch einmal auf das Thema ein: „Die neue Moral des Sozialen, wenn wir das Wort sozial als ‘das Gefüge einer Gesellschaft fördernd’ nehmen, ist das Gegenteil dessen, was sie vorgibt. Sie ist im wesentlichen ein willkommener Vorwand für den Politiker geworden, Sonderinteressen zu befriedigen. Das Soziale bezeichnet kein definierbares Ideal, sondern dient heute nur mehr dazu, die Regeln der freien Gesellschaft, der wir unseren Wohlstand verdanken, ihres Inhalts zu berauben.“

Hier erläutert er auch, warum er sozial als „Wiesel-Wort“ ansieht: „Wir verdanken den Amerikaners eine große Bereicherung der Sprache durch den bezeichnenden Ausdruck ‘weasel-word’. So wie das kleine Raubtier, das auch wir Wiesel nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussagen kann, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind die Wiesel-Wörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort ‘sozial’. Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Wahr ist nur, dass eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit – und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist.“ Hayek ist überzeugt, „dass dieser sprachliche Kollektivfetisch das Denken zerstört“, Demokratie und „die schönen Symbole der Freiheit werden langsam alle in Irrlichter verwandelt“.

„Befreiungsschlag für soziale Gerechtigkeit“

Am 17. Juni 2010 hielt Heinrich Bedford-Strom einen Vortrag mit der Überschrift „‘Gerechtigkeit erhöht ein Volk…’ Öffentliche Theologie und Wirtschaftsleben“. Damals war der Theologe im Lehrdienst tätig und noch nicht Bischof der lutherischen Kirche in Bayern. Zu den Schwerpunkten seiner wissenschaftlichen Arbeit gehören (laut Wikipedia) auch die Wirtschaftsethik, der Sozialstaat und Gerechtigkeitstheorien.

Bedford-Strom schildert eingangs an einem Beispiel zwei unterschiedliche Arten, den Begriff Gerechtigkeit inhaltlich zu füllen. Anschließend kommt er zur „biblischen Orientierung“ und fasst dort die Forderungen der Bibel teilweise durchaus richtig zusammen wie mit „Achte du in besonderer Weise auf das Recht der Schwachen“ oder „Gott [wird] in den biblischen Texten als ein Anwalt der Schwachen dargestellt“.

Dabei bleibt es jedoch nicht. Er zitiert den altkatholischen Theologen Franz Segbers: „Nicht abstrakte oder formale Gerechtigkeitsprinzipien bestimmen das Denken, die Tora steht vielmehr einseitig und bewusst auf der Seite der Schwachen der Gesellschaft. Der biblische Gerechtigkeitsbegriff fällt mit dem Recht der Schwachen und Bedürftigen zusammen.“

Gerechtigkeitsprinzipien sind nicht nur, aber auch abstrakt und formal – das ist ja dann gerade im Rechtssystem ihre große Stärke! Die Tora steht in gewissem Sinne auf der Seite der Schwachen, d.h. sie unterstützt ihr, auch ihr Recht, und ja: ihr Recht in besonderem Maße. Segbers schmuggelt hier jedoch „einseitig“ hinein. Seit wann ist Einseitigkeit ein rechtsstaatliches Prinzip? Und seit wann ist solch eine Parteinahme biblisch? Wird dort nicht an zahlreichen Stellen gefordert, unparteiisch – eben nicht zu Gunsten einer Seite – Recht zu sprechen? Wieso fällt dann der biblische Gerechtigkeitsbegriff mit dem Recht der Schwachen und Bedürftigen zusammen? Ist Recht im AT mit dem Recht der Armen wirklich identisch?

„Gerechtigkeit in biblischer Sicht orientiert sich an der Situation der Schwachen“, so Bedford-Strohm. Ja, sie orientiert sich auch an deren Situation, aber nun ist der Wurm drin, d.h. eine Exklusivität im Sinne eines „nur“.  Wir sind gelandet bei der „vorrangigen Option für die Armen“, von der in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie seit etwa 50 Jahren die Rede ist und die erstmals 1979 in einem kirchlichen Dokument Niederschlag fand. Inzwischen hat diese These in vielen evangelischen Kirchen, und dies auch außerhalb Lateinamerikas, den Rang eines Quasi-Dogmas. Bedford-Strohm:

„Das Verständnis von Gerechtigkeit in der Bibel ist in seinem Kern geprägt von der vorrangigen Option für die Schwachen. Vorrangige Option für die Schwachen, das heißt nicht, daß die anderen ausgegrenzt sind, sondern das heißt, dass den Schwachen solange besondere Aufmerksamkeit zukommen muss, bis sie am allgemeinen Wohlstand teilhaben.“ Die „vorrangige Option für die Armen“ sei sogar ein „grundlegendes Charakteristikum des Glaubens“. In der EKD-Armutsdenkschrift „Gerechte Teilhabe“ aus dem Jahr 2006 ist die „vorrangige Option für die Armen“ ebenfalls schon ein „grundlegendes Kriterium für ein christlich-ethisches Gerechtigkeitsverständnis“.

Allein diese dogmatische Sprache sollte skeptisch machen. Sind Kernvorstellungen der Befreiungstheologie schon Glaubenspflicht und feste Orientierungspunkte einer evangelischen Sozialethik – auch in Deutschland? Man lasse sich hier nicht mal so eben über den Tisch ziehen. Wenn Recht einseitig gesprochen wird, wenn einer Seite bevorzugte Aufmerksamkeit zukommen muss, wenn eine Seite also bevorteilt und privilegiert wird, dann werden die anderen etwa nicht benachteiligt und ausgegrenzt, wie Bedford-Strohm meint? Wie soll das zugehen?

Der Willkür sind hier Tür und Tor geöffnet – wie verträgt sich das mit Recht und Gerechtigkeit? „Am allgemeinen Wohlstand teilhaben“ – würde sich der Experte für wirtschaftsethische Fragen die Zahlen zum weltweiten Wohlstand einmal ansehen, würde er klar erkennen: In den letzten Jahrzehnten haben Hunderte Millionen von zuvor in extremer Armut Lebenden an (bescheidenem) Wohlstand gewonnen; andere sind von relativer Armut in eine Art globale Mitteklasse aufgestiegen. Und in den westeuropäischen Ländern hat jeder relativ Arme schon heute und schon lange widerum relativ großen Anteil am allgemeinen Wohlstand. Belege gefällig? Wie lange soll diese Bevorzugung denn getrieben werden? Bis die Armut ganz verschwindet? Aber die extreme Armut, das tatsächliche Elend (und auch die Armut, über die allermeist die Bibel spricht), ist z.B. aus Europa fast ganz verschwunden. Und relative Armut kann statistisch gesehen nie verschwinden: selbst wenn alle fast schon im Paradies leben, wird es immer Reichere und weniger Wohlhabende geben.

Bedford-Strohm skizziert in einem weiteren Punkt die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (1921–2002), dem Haus-und-Hof-Philosophen aller sozialdemokratisch und linksliberal Orientierten. Natürlich macht sie sich auch der Kirchenmann zu eigen. Der libertäre Robert Nozick (1938–2002) und Rawls-Kontrant wird dagegen in einem Satz mal eben diffamiert. Dieser würde „eine von jeder sozialen Verpflichtung entbundene persönliche Freiheit zum Ausgangspunkt nehmen“. Unsinn! Nichts dergleichen hat Nozick gesagt. Diese Leier hören wir schon seit 170 Jahren: Die Freunde des Sozialismus, der Umverteilung, der vorrangigen Option für die Armen usw. werfen ihren Widersachern, historisch den Liberalen, Gier und Egoismus vor. Das trifft in gewisser Weise immer, da nach dem Fall jeder Mensch mit Egoismus ringt. Aber behaupten Liberale etwa, dass persönliche Freiheit von sozialer Verpflichtung entbindet? Sie tun es gerade nicht! Libertäre wie Nozick sagen ja gerade, dass der Staat eine begrenzte, bei ihm „minimale“ Verantwortung hat – und der Einzelne ist verantwortlich, auch für die Armen um sich herum!

Bedford-Strohm und alle Linksorientierten schmuggeln so immer den Staat hinein: Er ist auf einmal dafür verantwortlich, die Armen zu bevorzugen, umzuverteilen, den Sozialstaat zu garantieren, soziale Gerechtigkeit zu schaffen usw. Wer den modernen, ausgeuferten Sozialstaat hinterfragt, der ist angeblich gegen die Armen, ein Egoist, ein böser Neoliberaler und gierig sowieso. Und so kommt es auch in dem Vortrag wie es kommen muss – oberlehrerhaft werden den Verantwortlichen im Staat Vorschriften gemacht: „Die Bundesregierung muss ihren Kurs bei der Bewältigung der Finanzkrise [2008/2009] grundlegend neu bestimmen. Was wir brauchen, ist  eine grundlegende Überarbeitung des Sparpakets der Bundesregierung entlang der Kriterien der ökumenischen Soziallehre.“ Wir bräuchten „einen Befreiungsschlag für soziale Gerechtigkeit“. Die Kirchen haben jetzt die Aufgabe, „in den politischen Entscheidungsprozessen unermüdlich den Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit einzuklagen“.

Ein grundlegend neuer Kurs? Einklagen? Befreiungsschlag? Schon solch eine Begrifflichkeit lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen. Aber die fromme Sahne muss natürlich noch einmal oben drauf:  „Gerechtigkeit erhöht ein Volk – aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Spr 14,34). Bedford-Strohm endet wie folgt: „Es ist Zeit, Habsucht, Gier und Egoismus hinter sich zu lassen. Es ist Zeit, die Ordnung des Gemeinwesens neu zu entwerfen. Es ist Zeit, diese Ordnung so zu entwerfen, dass Wohlstand nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander und zum Wohle aller, auch der schwächsten Glieder geschaffen wird.“

Falsche Religion steht mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß. Das war schon im AT das Argument gegen die heidnischen Kulte, die letztlich Lug und Betrug waren, weil eben ohne Halt in der Realität. Bedford-Strohm sagt in diesen Sätzen ebenfalls nichts Wahres im Sinne von der Wirklichkeit tatsächlich entsprechend. Gewiss sollen wir Habsucht, Gier und Egoismus bekämpfen, zuallererst in uns selbst und in unseren Gemeinden. Auf dieser Erde werden wir diese Laster aber nie hinter uns lassen. Sie werden uns immer begleiten. Selbst die Christen. Der Grundfehler der Sozialisten aller Jahrhunderte war doch die Illusion, der neue Mensch könne geschaffen werden. Wer eine Ordnung im großen Maßstab ohne diese Laster entwirft, der wird auf Gewalt zurückgreifen müssen, um diese auszumerzen. Denn von alleine wollen sie nicht verschwinden.

Wird in unserer Wirtschaftsordnung Wohlstand gegeneinander geschaffen? Nur zum Wohl weniger? Nicht zugunsten der Schwachen? In welcher Welt lebt Bedford-Strohm eigentlich? Als Theologe sollte er wissen, dass es in einer sündigen Welt immer ein gewisses Maß an Gegeneinander, Übervorteilung usw., Bosheit eben, geben wird. Daher bitte, bitte nicht eine paradiesische Ordnung zur Norm erheben! Doch im Grunde gilt für die real existierende demokratisch-kapitalistische Ordnung, dass ständig, tagaus, tagein, bei jedem freiwilligen Tauschvorgang, bei jedem Einkauf an der Supermarktkasse beiderseitiger Nutzen und Wohlstand miteinander geschaffen wird. Wir berauben uns (meist) nicht gegenseitig, wir beuten uns nicht aus, wir versklaven uns nicht – wir produzieren, kaufen, verkaufen, handeln usw. miteinander. Die freiheitliche Marktordnung beruht wesentlich auf Gegenseitigkeit. Wer anderes behauptet, sagt die Unwahrheit.

Alle Zahlen, alle Statistiken und jeder nüchterne Blick auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt: Noch nie haben solche Massen, solch breite Gesellschaftsschichten an Wohlstand teilgehabt. Noch nie! Ging es den Schwachen und Armen jemals besser als jetzt? Nicht zuletzt dank wirtschaftlicher Liberalisierung entkommen Massen, vor allem in Asien, der Armut – und Bedford-Strohm fordert eine ganz neue Ordnung? Bloß die nicht!

Gott bewahre uns vor diesen gesalbten Schöpfern von neuen Ordnungen, die die Wirklichkeit verzerren. Steve Volke gebrauchte in seinem Buch Der Sehendmacher das Bild vom blinden Fleck. Den haben auch viele unserer kirchlichen Anhänger der Religion der sozialen Gerechtigkeit.

(Bild o.: „Recovery Diaspora“, street art von Swoon in New York)