Warum gegen das Böse und für das Gute kämpfen?

Warum gegen das Böse und für das Gute kämpfen?

Richard Dawkins Buch Zauber der Wirklichkeit verzaubert, und das in mehrerer Hinsicht. Einmal wieder zeigt der britische Biologe, dass er zu der besten Wissenschaftsautoren der Gegenwart gehört. Es ist kein Zufall, dass sich so gut wie alle seine Bücher sehr gut verkaufen. Auch Der Zauber der Wirklichkeit: Die faszinierende Wahrheit hinter den Rätseln der Natur ist flüssig und über weite Strecken fesselnd geschrieben, und in dieser Veröffentlichung kommen auch noch die gelungenen Illustrationen von Dave McKean hinzu, die die Lektüre zu einem Genuss für die Sinne machen. Doch der Schein trügt.

Zauber der Wirklichkeit richtet sich vor allem an ein jugendliches Publikum, das mit den Grundlagen der Wissenschaft vertraut gemacht werden soll – ein zu lobendes Anliegen. Eine genauere Analyse zeigt allerdings, dass Dawkins hier genau das macht, wovor er in Der Gotteswahn vehement warnt: die Indoktrination der Nachwachsenden. In dem Bestseller wirft der Atheist dies natürlich den Kirchen und Religionen vor. Offensichtlich hat Dawkins begriffen, dass in der Jugend wichtige Weichen gestellt werden, und so konnte wohl auch er der Versuchung nicht widerstehen, die junge Generation mit seinen Thesen zu verzaubern, d.h. ihnen mit diversen Tricks seine atheistische Weltanschauung unterzujubeln. Dies wäre natürlich im Einzelnen in den zwölf Kapiteln nachzuweisen. Hier sei nur seine Sicht von Grundfragen der Ethik herausgegriffen.

„Schlimme Dinge geschehen, und das ist alles“

In Kapitel 11 wendet sich Dawkins der Moral zu: „Warum geschehen schlimme Dinge?“ (im Original: „Why do bad things happen?“) Er gesteht ein, dass die Menschen angesichts des Bösen nach Erklärungen und Lösungen suchen: „Man kann nur schwer dem Gefühl widerstehen, dass Gerechtigkeit in irgendeiner Form existieren muss.“ Wie mehrfach im Buch verwirft Dawkins auch bei dieser Frage die Deutung der Religionen. In seinen Augen sind dies allesamt Mythen und Legenden, die auf verschiedene Weise Vorstellungen von Gut und Böse auf eine göttliche Ordnung zurückführen. Dann fragt er wie auch sonst nach dem wahren und tieferen Grund: „Warum geschehen schlimme Dinge tatsächlich?“

Dawkins lehnt natürlich jegliche Vorstellung einer Art übernatürlicher Fügung oder göttlicher Bestimmung ab und fasst zusammen: „Wir haben also festgestellt, dass schlimme wie gute Dinge nicht öfter geschehen, als sie sollten. Das Universum hat keinen Verstand und keine Gefühle; es ist keine Persönlichkeit, weshalb es nicht mit dem Wunsch handelt, uns zu schaden oder zu helfen. Schlimme Dinge geschehen, und das ist alles.“

Vorausgesetzt es gibt keinen Gott und nichts Übernatürliches, dann geschieht einfach, was geschieht – und jede tiefere Erklärung ist ausgeschlossen. Insofern ist Dawkins seinem Denksystem wieder einmal treu. Doch an ihn ist unbedingt eine Reihe von Rückfragen zu stellen: Warum spricht er dann überhaupt vom Bösen? Was ist Böses? Gibt es in seiner Weltanschauung überhaupt objektiv Böses? Warum gibt er nicht unumwunden zu, dass wir auf die Frage des Kapitels keinerlei Antwort haben? Die faszinierende Wahrheit hinter dem Rätsel der Moral ist wenig faszinierend.

Die Frage „Warum geschehen schlimme Dinge?“ führt auf die falsche Fährte. Es wäre von Dawkins ehrlicher, zuerst die eben genannten Fragen zu stellen und sich selbst ihnen zu stellen, d.h. sie auch zu beantworten. Auf welcher Grundlage und mit welchem Recht spricht er weiterhin vom Bösen – vom Bösen an sich?

dawkins

Richard Dawkins

Lustgefühle fördern

Die Existenz des universellen moralischen Empfindens und Denkens der Menschen ist eine große Herausforderung für Atheisten wie Dawkins. Warum bewerten Menschen über alle Kulturen und Epochen hinweg Geschehnisse nach moralischen Kriterien? Warum halten Menschen geradezu penetrant an Vorstellungen von Gut und Böse fest? Warum handeln so gut wie alle Menschen so, als ob Gut und Böse in irgendeiner Weise objektive Größen sind? Warum, so C.S. Lewis in den ersten Kapiteln von Pardon, ich bin Christ, können sich die Menschen nicht lösen von der Vorstellung eines moralischen Gesetzes über uns?

Moderne Atheisten haben natürlich ihre Antworten gegeben. Sittliche Urteile, so z.B. Bertrand Russell (1872–1970), drücken Hoffnungen und Ängste, Begehren oder Abneigungen, Liebe oder Hass aus – mit anderen Worten: Moral beruht auf subjektiven Wünschen und Empfindungen. Der britische Philosoph: „‘Das, was für mich gut ist’, bedeutet ‘das, was meine Bedürfnisse befriedigt’.“

Der Biologe Franz M. Wuketits folgt in Verdammt zur Unmoral? Russell und entwickelt darin eine evolutionäre Ethik. Auch der Österreicher glaubt, dass Moral „letztlich eine Sache von Empfindungen [ist]. So gesehen kann sie nicht objektiv sein, sie unterliegt unseren Gefühlen.“ Wuketits weiter: „Der Mensch – jeder Mensch – sucht positive Lebensgefühle und möchte Unlust vermeiden. Eine evolutionäre Ethik führt daher zu dem Postulat, Lustgefühle zu fördern.“ Was wir heute als ethisch richtig einschätzen, „entstand in der Evolution jenseits von Gut und Böse, als ein Überlebensprinzip, das mit Ethik und Moral nichts zu tun hat. Das Moralverhalten steht so auf einer natürlichen Basis…“ In seinem ethischen Modell gibt es keine „ewigen Werten oder Moralprinzipien, die gleichsam von außen dem Menschen aufoktroyiert werden könnten“.

„Das soziale Leben vermittelt dem Menschen positive Gefühle“, so Wuketits. Dies mag erklären, weshalb wir aufeinander Rücksicht nehmen und uns auch nicht selten ethisch verhalten wollen. Unklar bleibt jedoch, woher in diesem Verständnis Postulate, ein echtes Sollen, herkommen: Warum soll ich etwas – und sei es die Förderung meiner Lustgefühle – tun? Wer oder was verpflichtet mich dazu? Letztlich bleibt Wuketits nur eine irrationale Hoffnung, „daß sich diese Gefühle in einer Richtung entwickeln werden, die Kooperation, Altruismus, Hilfsbereitschaft fördert, Egoismus, Aggression, Gewalt jedoch minimiert…“

Beiläufiger Nebeneffekt der Evolution

Wuketits ist wenigstens halbwegs ehrlich und bekennt sich zur Subjektivität der Moral. Dawkins tut dagegen so, als ob er im ganzen Buch tiefere Erklärungen liefern würde, bessere als die der Religionen. „Hinter“ (so das wichtige Wort im deutschen Untertitel) dem Rätsel des moralischen Empfindens gibt es bei Dawkins jedoch nichts. Er beantwortet die Frage „Warum geschehen schlimme Dinge tatsächlich?“ in keiner substantiellen Weise. Er stellt einfach dar, dass wir Dinge erleben, die wir als schlimm oder böse empfinden. Warum? Es ist einfach so, d.h. es hat sich eben evolutionär so entwickelt.

Wäre Dawkins also konsequent, würde er zugeben, dass es nur subjektive Empfindungen von Gut und Böse gibt. Schon Darwin sah in der Welt zu viel Leid, weshalb er meinte, nicht an einen allmächtigen und liebenden Gott glauben zu können. Damit ging ihm die objektive Grundlage der Moral verloren; ein moralisches Empfinden blieb zurück.  Tatsächlich ist natürlich das Problem der Existenz des Bösen und zugleich eines guten Gottes ein Problem für die christliche Lehre. Christen sind aufgefordert, gute Antworten zu geben. Diese werden sicher nicht alle befriedigen. Doch ist die Antwort der modernen Atheisten besser?

Sie lehren, dass Tod, Schmerz und Leid absolut notwendige und damit ‘gute’ Elemente der evolutionären Ordnung sind. Kann es da zu viel Leid geben? Der Tod seiner Lieblingstochter ließ Darwins Glaubensreste absterben und trieb ihn weiter in Richtung Evolution; doch diese Lehre fragt zynisch zurück: die Evolution nimmt ihren Lauf und lässt den Schwächeren, schlecht Angepassten sterben – das ist der normale, ‘gute’ Gang der Dinge; warum beschwerst du dich? – Das Leid in der Welt ließ Darwin an einem guten Schöpfer zweifeln; doch seine neue Auffassung machte aus seinem tiefen Schmerz einen beiläufigen Nebeneffekt der Evolution, ein rein subjektives Empfinden.

Dawkins folgt Darwin, und so ist auch er zu fragen: Gibt uns seine Position Motivation und Grundlage, um gegen Leid, Schmerz und Tod anzukämpfen? Sie zu verringern? Sie als wirkliche Übel anzusehen? Wohl kaum. „Warum geschehen schlimme Dinge?“ ist gar nicht die Kernfrage. Dies ist vielmehr: Warum soll ich gegen das Böse, wahrhaft Böses, kämpfen? Und vielleicht sogar noch wichtiger: Wo soll die Kraft im Einsatz für das Gute herkommen? Schließlich lässt sich das Böse nur durch das Gute überwinden. Warum ist es nicht dumm, sondern lobenswert, nach moralischen Heldentaten zu streben, nach Taten um des Guten willen, die auf Kosten meiner Lustgefühle gehen?

Christen sollten sich von Dawkins und Co. nicht einschüchtern lassen. Die Frage nach Gut und Böse und warum Gott das Böse zulässt, ist ernst zu nehmen. In Evangelisation und Apologetik sind hier gute, wenn auch nicht umfassende Antworten zu formulieren. Apologetik hat aber auch eine werbende und positive Seite, kann durchaus auch auf Angriff umschalten. Und Dawkins sowie Gesinnungsgenossen gegenüber sollte man in die Offensive gehen: Der Kaiser ist tatsächlich nackt. Er schmückt sich noch mit den Begriffen des religiösen und ethischen Erbes, das an objektiv Gutem und Bösem festhielt. Tragfähige Antworten sind Fehlanzeige. In einer gefühlsorientieren Zeit wie dieser geben Dawkins, Wuketits und andere Evolutionsethiker keinerlei präzise Grundlage für verantwortliches Handeln.

Vor siebzig Jahren und zehn Tagen wurden die Urteile über die deutschen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg verkündet. Chefankläger Jackson hatte den Prozess mit einer engagierten Rede begonnen, in der es hieß: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen.“ Wahrlich böse Untaten, objektiv böse. Gott sei Dank haben wir nicht nur das Gefühl, „dass Gerechtigkeit in irgendeiner Form existieren muss“. Es gibt sie wirklich, und sie ist in Gott selbst verwurzelt.