Aus der Vergangenheit lernen

Aus der Vergangenheit lernen

Martyn Lloyd-Jones war ab 1947 dreizehn Jahre lang erster Vorstandsleiter der IFES (International Fellowship of Evangelical Students; von 1956 bis 1967 ebenfalls IFES-Präsident; s. Foto o.). C. Stacey Woods, erster Generalsekretär dieses internationalen Verbands der evangelikalen Studentenmissionen, über den berühmten Prediger: „Dr. Martyn Lloyd-Jones hat der Bewegung seinen Stempel aufgedrückt. Er gab uns Rückgrat, Überzeugungen und die Bereitschaft, wenn nötig, Kompromisse zu vermeiden und gegenüber dem Ökumenischen Rat der Kirchen und der WSCF [World Student Christian Fellowship] einen klaren Standpunkt zu beziehen.“

1971 wandte sich der Waliser Lloyd-Jones (1899–1981) noch einmal in einer Vortragsreihe an das Leitungskomitee der IFES und rief dazu auf, sich erneut über die Bedeutung des Begriffs „evangelical“ (evangelikal) Klarheit zu verschaffen (später erschienen die Beiträge als kleines Buch: What Is An Evangelical?).

Lloyd-Jones betont darin vier leitende Prinzipien: Erstens geht es um die Bewahrung des Evangeliums; schließlich sind Evangelikale zuerst Menschen des Evangeliums. Zweitens muss von der Geschichte gelernt werden. Drittens plädiert er dafür, die Wichtigkeit von negativen Prinzipien und Stellungnahmen („Negatives“) zu beachten und ihnen einen angemessen Raum zu geben. Er lehnte die Auffassung ab, man müsse sich immer positiv ausdrücken und „evangelikal“ ausschließlich positiv definieren. Es gelte die Balance zu bewahren: Evangelikale sind aufgerufen, für etwas einzustehen (wie gesagt zuallererst das Evangelium); sie sind damit aber genauso berufen, gegen bestimmte Lehren, Weltanschauungen und Missstände zu sein. Viertens darf die biblische Wahrheit nicht durch  falsche Hinzufügungen oder Abzüge verfälscht werden.

Gerade Lloyd-Jones dritte Warnung war geradezu prophetisch. In der Ökumene wird heute fast schon dogmatisch gefordert, man müsse immer das betonen, was die Kirchen eint, keinesfalls das, was trennt. In der Evangelisation wird schnell zum Positiven des Evangeliums gesprungen – auf Kosten der Buße, „das erste Wort des Evangeliums“ (J. Edwin Orr), und des „Elends“ des gefallenen Menschen (Heidelberger Katechismus), die zu Randthemen verkommen. In der Theologie sterben bald die Stimmen wie von Reinhard Slenczka aus, der ein klares Ja zur Autorität und Inspiration der Bibel mit einem Nein zur historisch-kritischen Methode verbindet, da diese mit der Verbalinspiration „schlechterdings unvereinbar“ ist. Schließlich gewöhnen sich im Hinblick auf die Ethik auch Evangelikale immer mehr an, biblische Werte und Ordnungen nur positiv vorzuleben zu wollen; man will einzig  für die Anderen, für die Ausgestoßenen, für die Nichtakzeptierten, für moderne Partnerschaften, für Homosexuelle sein… Irgendein klares Nein, eine eindeutig negative Einordnung bestimmten Verhaltens, gilt als lieblos und pharisäerhaft.

Lloyd-Jones zeigt, dass die Vernachlässigung des negativen Aspekts unbiblisch ist, da ja z.B. schon Paulus gegen die Irrlehre der Galater ankämpfte (um das Positive, die Gnade, zu schützen!). Es ist dann vor allem die Kirchen- und Theologiegeschichte, die die Berechtigung und Wichtigkeit des Negativen zeigt. Er nennt das Beispiel der Puritaner, in deren Tradition der Prediger sich selbst sah. Sie waren wahrlich von positivem Geist beseelt; ihnen ging es um das Evangelium, das es zu reinigen galt. Daneben waren sie aber auch von der Wichtigkeit des Negativen überzeugt: es gibt bestimmte Dinge, die ein Christ nicht glauben und die er nicht tun soll.

Lindsay Brown, wie  Lloyd-Jones Waliser, leitete die IFES als Generalsekretär von 1991 bis 2007. In Shining Like Stars / Wie Sterne in der Nacht betont auch er ganz im Geist seines Landsmannes, „dass alle Christen sich für Geschichte interessieren sollte. Schließlich ist die Bibel ein Buch voller Geschichte.“ Wir werden erstens daran erinnert, was Gott in der Vergangenheit getan hat. Zweitens hilft die Beschäftigung mit der Geschichte einer Kirche oder Bewegung die eigenen Wurzeln zu entdecken und so die Identität zu festigen. Drittens bewahrt dies vor Hochmut: „Demütige geistliche Leiter sehen sich selbst in einer langen Kette von Heiligen aller Zeiten.“ Browns Fazit: „Hüten Sie sich vor Leuten, die sagen: ‘Du redest zu viel von der Vergangenheit!’.“

Lindsay Brown

Lindsay Brown

Welche Lektion ist aus der Geschichte der modernen christlichen Studentenbewegungen zu lernen? Auch hier gibt es Positives wie Negatives.

Studentengruppen, die in etwa mit denen der heutigen IFES-Bewegungen zu vergleichen sind, bildeten sich zuerst in England. Den Anfang machte die Cambridge Inter-Collegiate Christian Union 1877; eine entsprechende Gründung in Oxford folgte zwei Jahre später. In den USA bildete sich zur selben Zeit die Student Volunteer Movement (1886/88), die junge Leute vor allem für die Außenmission motivierte. Ihr berühmtes Motto: „Die Evangelisation der Welt in dieser Generation!“

Mehrere dieser nationalen Studentenbewegungen aus Europa und Nordamerika gründeten schließlich 1895 in Schweden die World Student Christian Federation (WSCF), deren Ziele 1897 formuliert wurden. Vor allem ging es der WSCF damals um eins: „Studenten veranlassen, Jünger Jesu zu werden, die sich zu ihm als ihrem alleinigen Heiland und Gott bekennen“; das geistliche Leben soll gefördert werden, und es gilt „Studenten zu werben für den Dienst an der Ausbreitung des Reiches Christi über die ganze Erde“.

Praktisch alle wichtigen Prinzipien der späteren IFES wurden schon vor mehr als hundert Jahren betont: die wichtige Rolle des Bibellesens, studentische Leitung und Initiative, selbständige nationale Bewegungen, der überdenominationelle Ansatz. Man will keine Kirchen und Gemeinden gründen, sondern „getreuer Helfer und Diener der christlichen Kirche“ sein; Hauptziel ist es, die Mitglieder der Gruppen „zu treuen und brauchbaren Gliedern der christlichen Kirche heranzubilden“.

Die letzten Zitate stammen aus John R. Motts Rückblick auf die ersten 25 Jahre WSCF. Der US-Amerikaner Mott (1865–1955), ab 1888 Sekretär des YMCA, war die überragende Gestalt in der weltweiten Studentenbewegung und ein Pionier der Ökumene (1946 erhielt er den Friedensnobelpreis). Wie heute in der IFES betonte er die „Notwendigkeit tieferen Denkens“ und verband geistliches Leben mit sozialer Verantwortung. Er forderte „die soziale Ordnung der Regel Christi zu unterstellen“, ja vollmundig – wie damals üblich – die „Verchristlichung der Gesellschaftsordnung“. Dennoch, so Mott, bleibt „die geistliche Wiedergeburt des Einzelnen das Erste“.

John R. Mott

John R. Mott

Warum sind dann aber SMD, VBG, UCCF oder LKSB nicht Mitglied der WSCF (heute World Student Christian Fellowship)? Man vergleiche dazu nur einmal die damaligen und heutigen Ziele der WSCF. Auf der Homepage wscfglobal.org wird der Zweck der Arbeit nun so umschrieben: „Dialog, Ökumene, soziale Gerechtigkeit und Frieden“. Dagegen ist natürlich in dieser Allgemeinheit nichts einzuwenden. Doch Stichworte wie Evangelisation oder Mission findet man überhaupt nicht. Fördern will der Dachverband christlicher Studenten „kritisches Denken und die konstruktive Veränderung unserer Welt“; wichtig ist ihnen „die Analyse von sozialen und kulturellen Prozessen sowie Solidarität und Aktion über Grenzen von Kultur, Geschlecht und Rasse hinweg“. Wiederum kann man nur bemerken: wunderbar! Aber woran wird erkennbar, dass dies eine christliche Bewegung ist?! „Gender-Analyse“ sei eine „ständige Priorität“. Warum hat man aber das ‘Kerngeschäft’ praktisch ganz aufgegeben: die Priorität der – altmodisch gesprochen – Rettung von Seelen?

Noch ein Jahrhundert zuvor sagte Mott, sicher im Namen der ganzen WSCF: „lebenswichtigste[!] Betätigung der weltweiten Studentenbewegung ist es, Studenten in persönliche Beziehung zu Jesus Christus zu bringen“. Es geht um Mission und Evangelisation, und ein wesentliches Mittel dazu ist die Bibel. Mott warnte schon 1921: „Es ist eine auffallende Tatsache, dass diejenigen Bewegungen, die es an Nachdruck in der Förderung des Bibelstudiums haben fehlen lassen, auch auf anderen Gebieten an Lebendigkeit eingebüßt haben.“

Das Problem war, dass sich viele WSCF-Bewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den „gewissen, klaren, allgemein gültigen und leitenden Grundsätzen“ (Mott) Schritt für Schritt entfernten. Beeinflusst durch modernistische und liberale Theologie wurde mehr und mehr gezweifelt an der Einzigartigkeit und Göttlichkeit Jesu, der Notwendigkeit der persönlichen Umkehr und der Autorität der Bibel.

In England trennten sich die Cambridger Gruppen daher schon ab 1910 von der Student Christian Movement, um Erbe und Identität zu bewahren; 1928 wurde schließlich die Inter-Varsity Fellowship of Evangelical Unions (heute UCCF) gegründet. In Deutschland blieb die Einheit der christlichen Studenten in der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung (DCSV), für die z.B. auch Karl Heim tätig war, noch bis zum II Weltkrieg (bzw. bis zum Verbot der DCSV 1938) erhalten. Danach trennten sich die Wege der evangelikalen, missionarischen SMD und der ESG, der Evangelischen Studentengemeinde.

Die SVM erreichte ihre Höhepunkt im Jahrzehnt des I Weltkrieges. Doch gerade in der Zeit mit den meistbesuchten Veranstaltungen kippte alles. Auf der Konferenz zum Jahreswechsel 1919/1920 in Des Moines sprach ‘Patriarch’ Mott in der Eingangsrede noch in der gewohnten Art zu den gewohnten Themen. Doch bevor Indien-Missionar Sherwood Eddy vom YMCA reden wollte, sagten einige Studenten tatsächlich zu ihm: „Warum willst du uns wieder diesen Quatsch bringen?.. Was sollen wir mit diesen abgedroschenen Phrasen? Warum redest du vom lebendigen Gott und göttlichen Christus?“ Eingeschüchtert änderte Eddy tatsächlich seine Rede und sprach zuerst von sozialer Reform…

Die SVM verlor bald so gut wie allen evangelistischen Antrieb. Lindsay Brown würdigt im schon zitierten Buch den Beitrag des SVM für die Weltmission: „Aber diese Bewegung hat sich verrannt und ist in den Ökumenismus abgedriftet. Sie fühlte sich der sichtbaren Einheit mit Menschen aus den verschiedensten christlichen Prägungen verbunden; dagegen fehlte dieser Bewegung eine klare Formulierung der christlichen Lehre als Mitte und Klammer. Sie hatte nie eine Glaubensgrundlage, zu er sich alle bekannten. Auch das Student Christian Movement, von dem sich die Gründungsmitglieder der britischen Inter-Varsity-Bewegung abspalteten, verlor seine anfängliche Begeisterung für Christus. Diesen Bewegungen ging der evangelistische Schwung verloren, weil ihnen die lehrmäßige Verwurzelung fehlte.“

Die ersten Leiter der IFES lernten aus diesen Fehlern. Sie begriffen, dass man eine eindeutige Glaubensgrundlage auch klar formulieren muss, um nicht irgendwann abzudriften (Mott sah ja durchaus die Wichtigkeit der „leitenden Grundsätze“, doch sie wurden leider nie in einem autoritativen Dokument zusammengefasst). Unter der Leitung Martyn Lloyd-Jones stellte der erste IFES-Vorstand deswegen eine Zusammenfassung der wichtigsten biblischen Wahrheiten auf, die (wie Lloyd-Jones auch im obigen Buch dann später gut ausführte), die Lehren von erstrangiger Wichtigkeit umreißen sollten.  C. Stacey Woods: „Unsere Glaubensbasis ist der Anker, der uns davor bewahrt, an den Klippen des Irrtums zu zerschellen oder an den Untiefen geistlicher Wirkungslosigkeit auf Grund zu laufen.“

Daher hat auch LKSB solch einen Anker, ein Glaubensbekenntnis, das die Überzeugungen der weltweiten evangelikalen Bewegung widerspiegelt. Dies ist bis heute wichtig, damit die Studentenarbeit auf dem richtigen evangelistischen Kurs bleibt. Denn in unserer pragmatischen, an Erfolg orientierten Zeit rückt allzu leicht die Frage nach den Methoden in den Vordergrund: Was funktioniert? Viel wichtiger ist jedoch, dass in der Verkündigung die Inhalte treu weitergegeben werden. Diese Akzentuierung ist schon im NT begründet. Es ging den Aposteln immer um eines: einen eindeutigen Inhalt, das Evangelium, zu kommunizieren; um das zu erreichen, gebrauchten sie – je nach Hörer – ganz verschiedene Methoden und Stile. Sie waren keinen Methoden treu, sondern dem Inhalt und bewahrten diesen.

Die SVM war eine der wichtigsten christlichen Bewegungen der Neuzeit überhaupt, die über 20.000 junge Leute dazu motivierte, Missionar zu werden. Doch die SVM verschwand komplett, weil sie einfach überflüssig geworden war. Positiv erwähnt werden muss, dass es seit 2002 eine Art relaunch gibt, SVM2: ein Netzwerk von missionarischen Studentenbewegungen, das bewusst an die Tradition der alten SVM von 1886 anknüpft. Als Bekenntnisgrundlage gilt nun die „Lausanner Verpflichtung“ aus dem Jahr 1974.

Dies heute vielleicht populärste Dokument der evangelikalen Bewegung entstand ebenfalls aus dem Zusammenspiel von Ja und Nein. Ab etwa 1960 drangen modernistische und liberale Theologie immer stärker auch in die internationale Missionsbewegung und den Ökumenischen Rat der Kirchen ein. Der Ruf zur persönlichen Umkehr wurde deutlich leiser. Erlösung wurde immer mehr als Humanisierung der Welt verstanden, Christus meinte man auch in anderen Religionen zu finden.

Ab Mitte der 60er Jahre regte sich scharfer Widerspruch gegen diese Neuerungen und die Verwässerung der Mission. Hier sind die Wheaton Declaration aus den USA (1966) und für Deutschland die Frankfurter Erklärung (1970) zu nennen. In Letzterer heißt es: „Heute ist die organisierte christliche Weltmission in eine tiefe Grundlagenkrise geraten.“ Die Erklärung verwirft „die falsche Lehre, dass sich Christus anonym auch in den Fremdreligionen, dem geschichtlichen Wandel und den Revolutionen so offenbare, dass Ihm der Mensch ohne direkte Kunde des Evangeliums hier begegnen und sein Heil in Ihm finden könne.“ Die Einzigartigkeit Christi und des Evangeliums wurden bekräftigt.

Bekräftigung, das Ja, und Verwerfung, das Nein, finden wir auch in Art. 3 der „Lausanner Verpflichtung“, wo es eindeutig heißt:

„Wir bekräftigen: Es gibt nur einen Erlöser und nur ein Evangelium… Als Herabsetzung Jesu Christi und des Evangeliums lehnen wir jeglichen Synkretismus ab und jeden Dialog, der vorgibt, dass Jesus Christus gleichermaßen durch alles Religionen und Ideologien spricht. Jesus Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott, hat sich selbst als die einzige Erlösung für Sünder dahingegeben. Er ist der einzige Mittler zwischen Gott und Menschen. Es ist auch kein anderer Name, durch den wir gerettet werden… Wenn Jesus als der ‘Erlöser der Welt’ verkündigt wird, so heißt das nicht, dass alle Menschen von vornherein oder am Ende doch noch gerettet werden. Man kann erst recht nicht behaupten, dass alle Religionen das Heil in Christus anbieten.“

„Lausanne“ formulierte in neuen Worten den alten Kern des Evangeliums: Gott rettet Sünder. Und auch hier verbindet sich Positives mit Negativem.