Ehre, wem Ehre gebührt – endlich!

Ehre, wem Ehre gebührt – endlich!

Juden war es fast während des gesamten Mittelalters bis weit in die Neuzeit so gut wie überall in Europa verboten, Land zu erwerben. Dies zwang häufig zum Leben in Städten und zu Handwerks- und Händlerberufen. 1882 wurden im Zarenreich nach Pogromen weitere diskriminierende Gesetze erlassen, die es auch in Litauen den Juden praktisch unmöglich machten, in Dörfern zu leben. Kein Wunder, dass die Städte um 1900 oft einen jüdischen Bevölkerungsanteil von einem Drittel, ja manchmal von mehr als der Hälfte hatten. Städtisches Leben wurde von der jüdischen Einwohnerschaft stark geprägt; sie trugen wesentlich zum Aufstieg der Städte Litauens bei. Wie auch in Šiauliai.

1851 wurde in Vilkmergė, heute Ukmergė, Khayim Frenkl geboren (heute litauisch Chaimas Frenkelis geschrieben). Er brach die Jeschiwa, die Tora- und Talmudschule, ab und lernte im polnischen Bialystok Gerberei. 1879 ging Frenkl nach Šiauliai (damals poln. Szawle / russ. Shavli), das durch die neue Bahnlinie Riga–Tilsit–Königsberg wirtschaftlich interessant geworden war. Der junge Meister gründete mit gesparten 5000 Rubel Kapital eine Fabrik zur Lederverarbeitung, 1892 errichtete er ein neues, modernes Werk mit eigener Stromversorgung. Die Frenklschen Lederwerke gehörten bald zu den bedeutendsten im Zarenreich. Mit Sohn Jakov gründete er noch eine Schuhfabrik in Riga. Anfang des 20. Jhdts. arbeiteten über 1000 Arbeiter bei dem jüdischen Unternehmer (das Hauptwerk wuchs von 10 auf 800 Mitarbeiter). Andere Lederfabrikanten kamen noch hinzu, so dass Šiauliai um 1900 sogar weltweit eines der wichtigsten Lederzentren war wie auch ein Eintrag in der „Encyclopedia Britannica“ von 1911 zeigt. (Übrigens hatten die ab 1906 produzierten „roten Schuhsohlen“ eine große Nachfrage im Ausland; die heutigen Damenschuhe mit hohen Absätzen und roter Sohle von Christian Louboutin haben zwar Kultstatus, aber wohl auch Vorgänger…)

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Die Lederfabrik Frenkls um 1900

Frenkls Investitionen haben entscheidend zur Entwicklung von Šiauliai beigetragen. Ohne ihn wäre der Ort wohl eine Kleinstadt geblieben. 1908 errichtete er eine prächtige Villa als Familiensitz, deren vor einigen Jahren aufwendig restaurierte Inneneinrichtung (Jugendstil und Art Deco) noch heute beeindruckt. Frenkl betätigte sich als wichtiger Mäzen und finanzierte den Bau und Unterhalt von z.B. Gymnasien und Altersheimen für die jüdische Bevölkerung (um 1900 immerhin Zweidrittel der Einwohner).

Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Frenkl die wichtigste und herausragende Person in der modernen Entwicklung der Stadt war. 1920 verstarb der größte Sohn Shavels (jiddisch für Šiauliai). Sein Sohn führte die Werke bis zu sowjetischen Enteignung weiter und emigrierte dann. So musste die Familie das Ende des jüdischen Lebens in der Stadt nicht mehr miterleben.

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Schülerinnen des jüdischen Gymansiums für Mädchen mit Lehrer

Am Vorabend des II Weltkriegs lebten um die 8-9000 Juden in der Stadt. Schon Ende Juni standen die Deutschen in “Schaulen”, und gleich im Sommer wurden im Wald bei Kužiai, 12km von der Stadt entfernt, oder in Žagarė an der Grenze zu Lettland mehrere tausend Juden erschossen. Im Herbst 1941 wurde in Šiauliai ein Ghetto gebildet, in das man über 4000 Juden pferchte. Ab 1943 leitete es die SS. Als sich im Juli 1944 die Front nahte, wurde das Ghetto aufgelöst und die restlichen Einwohner ins KZ Stutthof, von dort nach Dachau oder Auschwitz gebracht. Den Krieg überlebten 350–500 Juden der Stadt.

Das sowjetische Schuh- und Lederwerk „Elnias“ führte die Tradition Frenkls weiter, ging jedoch nach der Privatisierung 1996 bankrott. Mit der Schließung der Gerberei  „Stumbras“ vor etwa zehn Jahren ging die Epoche der Lederfabrikation in Šiauliai zu Ende.

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Fabrikgebäude heute

In der Sowjetrepublik Litauen wurde einem jüdischen Kapitalisten natürlich keinerlei Ehre zu teil. Doch auch die demokratisch regierte Stadt betrachtete das Andenken an Frenkl und sein Werk wahrlich nicht als Priorität. Die Villa des Unternehmers direkt neben dem Werksgelände war von den Sowjets als Militärkrankenhaus weitergeführt worden. Von der gesamten Innenausstattung blieb nichts erhalten. Die Restaurierung geschah im Wesentlichen mit Fördermitteln des Landes und der EU.

Die Stadt plante vor rund zehn Jahren eine Straße der Stadt endlich nach Frenkl zu benennen – um genauer zu sein: einen Weg. Doch auch dies scheiterte am starken Protest der Anwohner. Wer will schon in der Straße eines Juden wohnen! So manche kommunistischen Dichter und Denker zieren dagegen immer noch Straßen und Schulen. Einen starken Antisemitismus gibt es in Litauen nicht, doch von einer ausgesprochenen Judenfreundlichkeit kann leider auch keine Rede sein.

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Die Frenkl-Villa von der Hofseite

So blieb Frenkl, der größte Sohn der Stadt, bis zu diesem Jahr ohne Ort eines offiziellen Gedenkens (abgesehen von der Villa selbst und dem Teil des Museums in der Villa, wo natürlich die Werksgeschichte gezeigt wird). Zu ihrem 25. Jubiläum und dem 70. Jahrestag der Auflösung des Ghettos kam der Verband der Industriellen der Stadt auf die Idee, ein Denkmal für den größten Unternehmer der Ortsgeschichte zu finanzieren. Und so geschah es auch: innerhalb eines halben Jahres wurde das Projekt zügig realisiert. In der vergangenen Woche enthüllte Premier Butkevičius die Bronzeskulptur Frenkls, angefertigt von Bildhauer Raimundas Kvintas. Nun blickt der Unternehmer auf die alten Gebäude seines Werkes.

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Chaimas Frenkelis, Skulptur von R. Kvintas