„Die höchste Kunst in der Christenheit“

„Die höchste Kunst in der Christenheit“

Vor einem Jahr unterrichte Holger für die Erstsemester am EBI „Einführung in die Theologie“. Folgender Text beruht auf diesem Material.

Christliche Theologie kann vielfältig definiert werden. Inhaltlich geht es ihr natürlich immer um Gott und die Gotteserkenntnis, schließlich ist dies auch die direkte Wortbedeutung (die Lehre über Gott). Im Hinblick auf die Methode ist das Hören auf Gottes Wort zentral. Aber wir können noch mehr dazu sagen: Theologie ist vor allem auch die Kunst der rechten Unterscheidung. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Luther und andere Reformatoren betonten sie im 16. Jahrhundert wieder neu.

Der deutsche Reformator hob eine konkrete Unterscheidung heraus: Wir müssen unterscheiden zwischen Gesetz (was Gott von uns fordert) und Evangelium (was Gott für uns getan hat). „Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium ist die höchste Kunst in der Christenheit“. Wer sie gelernt hat, der „wisse, daß er ein Theologe ist“.

Heute, in einer Zeit, in der Adjektive wie „holistisch“ oder „ganzheitlich“ zu Modebegriffen geworden sind und die Synthese und Inklusion großgeschrieben werden, kann diese Kunst nicht zu laut angepriesen werden. Rechtes Unterscheiden ist fast schon in Vergessenheit geraten, aber unerläßlich!

Wir müssen unterscheiden zwischen dem Zeremonialgesetz im AT (nicht mehr gültig) und dem Moralgesetz (weiterhin gültig); zwischen Rechtfertigung (ein für allemal) und Heiligung (wachsend); zwischen Wiedergeburt (nicht sichtbar) und Bekehrung (sichtbar); zwischen allgemeiner Gnade (für alle) und erlösender Gnade (für einige); zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche; zwischen Kirche und Reich Gottes; zwischem dem Bund der Werke und dem der Gnade.

Es gilt die Kernlehren des Evangeliums von weniger wichtigen zu unterscheiden, d.h. auch, was zum Christsein unbedingt zu glauben nötig ist und worüber man unterschiedlicher Meinung sein kann. Es sind die Schöpfungsordnungen zu unterscheiden, denn Staat, Wirtschaft, Familie und Kirche haben unterschiedliche Aufgaben. Die Gotteskindschaft der Christen ist zu unterscheiden von der Sohnschaft Christi: Christen sind mit Christus in einer „ethischen Einheit“ verbunden, nicht in einer „wesensmäßigen Einheit“ (Christus und der Vater), wie der reformierte Philosoph und Theologe Cornelius Van Til betonte.

Was ist Folge der Sünde und was ist Teil der guten Schöpfung? Ist z.B. das sexuelle Begehren als solches gut oder unvermeidlich sündig? Zwischen Schöpfung und Fall ist unbedingt gut zu unterscheiden. Auch Schöpfung und Erlösung sind unbedingt richtig aufeinander zu beziehen. Ihre heute oft anzutreffende penetrante Vermischung hat schwerweigende Folgen: Aus der Tatsache, dass Gott in der ganzen Schöpfung gegenwärtig ist und dort handelt, wird die Behauptung abgeleitet, dass Gott mit jedem Menschen vereinigt sei, der Geist in allen wohne und die Kirche sich irgendwie auf alle Menschen erstrecke (übrigens das Grundproblem der ‘Taizé-Theologie’).

Die Bibel ist klar und präzise von anderen Quellen der Autorität zu unterscheiden. Da die gesamte Schöpfung Offenbarungscharakter hat, spricht  alles in ihr in gewisser Weise von Gott. Daher tragen auch Verstand, Wissenschaft usw. zur theologischen Erkenntnis bei. Dennoch ist der besondere Status der schriftlichen Offenbarung Gottes in seinem Wort, der Bibel, zu beachten. Andernfalls wird nur zu leicht im Namen der gegenwärtigen Kultur,  Wissenschaft und Weltsicht biblische Lehre beiseite geschoben.

Schon Luther unterschied zwischen dem „verborgenen“ und dem „offenbarten Gott“. Ersterer „geht uns nichts an“, der ‘andere’ aber hat sich klar und deutlich offenbart. So auch der niederländische reformierte Theologe Herman Bavinck (1854–1921): „Das, was hinter der Offenbarung liegt, ist vollkommen unwissbar“ (Reformed Dogmatics II). Wir können einerseits viel wissen, und das mit Bestimmtheit; andererseits wissen wir aber eben längst nicht alles, weil wir nicht Gott sind und weil dieser uns nicht alles mitgeteilt hat.

Auf eine besonders wichtige Fundamentalunterscheidung ist näher einzugehen: Gott ist der Herr und Schöpfer, wir sind seine Geschöpfe. Sie steht im Hintergrund vieler der genannten einzelnen Unterscheidungen. Diese Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf gehört zum Wesenskern der christlichen Weltanschauung und wurde daher von allen großen christlichen Denkern bekräftigt. Augustinus: „Denn obwohl nichts [in der Schöpfung] ohne ihn sein kann, ist doch auch nichts, was er ist.“ (Der Gottesstaat, VII, 30; s. auch Bekenntnisse, X,VI,9) Der katholische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton: „Das orthodoxe [rechtgläubige] Christentum bekräftigt, dass die Unterscheidung von Gott und Mensch heilig ist, denn so war und wird es ewig sein.“ (Orthodoxy) Und Chestertons Zeitgenosse Bavinck: „Die wahre Religion unterscheidet sich von allen anderen durch die Tatsache, dass sie die Beziehung zwischen Gott und der Welt, einschließlich des Menschen, als zwischen Schöpfer und seinem Geschöpf auffaßt.“ (Reformed Dogmatics II) Cornelius Van Til (1895–1987) betonte immer wieder: die grundlegendste Unterscheidung besteht zwischen Gott, der unabhängig (self-contained) und autonom ist, zwischen der „absoluten Person“ und dem von ihm abhängigen und nichtautonomen Menschen als seinen Geschöpfen.

Die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf wurde jedoch in der Geistesgeschichte vielfach geleugnet und angegriffen. Dies geschah nicht nur in der heidnischen Antike, sondern auch z.B. in der Renaissance (Ficino, Bruno, Pico della Mirandola), im 19. Jhdt. durch Philosophen wie Schelling, Fichte, Hegel, Schopenhauer. In Litauen (bzw. im litauischsprachigen Ostpreußen) ragte zu Beginn des 20. Jhdts. Vydūnas (Wilhelm Storost) heraus: „Nichts existiert in Wirklichkeit neben dem einzigen Gott, denn alles andere sind nur [Gottes] Erscheinungen“.

Vydūnas war zwar Mitglied der lutherischen Kirche, vertrat aber eine pantheistische Weltanschauung. Für ihn war Gott „das Eine [lit. vienatinė] Wesen“. Es gibt nur eine Wirklichkeit: den absoluten Geist. Die Welt, deren Teil der Mensch ist, ist bloß ein Zustand dieses Geistes. „Der wirklich weise Mensch sieht sich in der Ursache des Universums existierend, weiß sich eins mit dieser Ursache.“ Vydūnas-Experte Vacys Bagdonavičius kommentiert:

„Mit diesen Worten wird eine grundlegende Idee der monistischen Vedanta-Richtungen über die Identität der individuellen Seele (atman) und dem geistlichen Absoluten des Ganzen (brahman) postuliert. Die von Vydūnas genannte Ursache des Universums ist das geistliche Sein, das Absolute. In jedem Werk von Vydūnas wird wiederholt betont, dass diesem Sein, d.h. der Ewigen Ursache des Universums, alles entspringt, dass in ihm alles ist und zu ihm zurückkehrt. Das geistliche Absolute ist mit anderen Worten die einzige wirkliche Realität, Grund seiner selbst und der Welt.“

Einzig dem geistlichen Absoluten kommt letztlich Wirklichkeit zu, weshalb man diese Weltanschauung auch Monismus nennt (gr. mono – eins). Die wahrnehmbare Welt ist bloß eine Art „Täuschung, Vorspielung und Illusion“ (V. Bagdonavičius, Sugrįžti prie Vydūno). Dies bedeutet auch, dass das Wesen des Menschen göttlich ist, weshalb dieser „zu Gott aufsteigen“ kann und soll (Raštai, III). Der Heilsweg nach Vydūnas: In den „inneren Tiefen“ des Menschen „das Licht des Bewußteins“ entdecken und wecken. Obwohl er all dies mitunter auch in christliche Lexik packte, hat der Inhalt mit dem Christentum jedoch nichts zu tun.

Daher kann man sich über die einseitige Sicht zu Vydūnas mancher Vertreter evangelischer Kirchen Litauens und Deutschlands nur wundern. Was haben protestantische Theologie und Theosophie à la Vydūnas gemeinsam? Absolut gar nichts! Denn Kern seiner Lehre ist die Leugnung der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf. Auf der Gedenkplatte in Detmold (wo Vydūnas nach dem Krieg lebte und verstarb) wird er „Dichter, Linguist, Philosoph, Theosoph“ genannt. Theosoph – genau. Gott sei Dank heißt es nicht „evangelischer Christ“ oder ähnlich. Die theosophische Weltanschauung ist jeder Form des biblischen Christentums zutiefst fremd. Auf Bekenntnisse verpflichtete Pfarrer und Theologen in Deutschland sollten dies wissen.

In Litauen schrieb auch die populäre Schriftstellerin Jurga Ivanauskaitė gegen die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf an (der gnostische Jesus in ihrem Roman Die Regenhexe: „Ich bin Alles. Aus mir entspringt alles und zu mir kehrt alles zurück.“). Interessanterweise ist es aber ein Philosoph, der an keinen Erlöser glaubt, dem „Religionen fremd und überflüßig“ sind und der die „christliche Metaphysik“ verwirft, der zumindest die Wichtigkeit der Unterscheidung begriffen hat. In Transcendencijos tyla (das Schweigen der Transzendenz) stellt Arvydas Šliogeris zuerst „das Wesen des reinen Heidentums“ richtig als „die Einheit von Mensch und Gott“ dar. Dann im folgenden Abschnitt („Kristaus misija“, die Mission Christi):

„Der grundlegende Gedanke des Christentum ist sehr einfach: Der Mensch ist nicht Gott und kann nicht Gott sein, obwohl er in seiner eigenen Übernatürlichkeit Gottes Ebenbild ist und er als einziges unter den lebendigen Wesen sich Gott als der absoluten Transzendenz öffnen kann. Aber sich Gott öffnen kann er widerum nur deshalb, weil er als einziges Wesen sich von Gott unterschieden weiß.“

Šliogeris ist dicht an der Wahrheit. Auf den folgenden Seiten unterscheidet aber auch er nicht richtig: Den Unterschied zwischen der ethischen Kluft wegen der Sünde des Menschen, die ganz aufhebbar ist, und dem Abstand zwischen absolutem Gott und geschaffen Menschen, der tatsächlich unaufhebbar ist, sieht er nicht. Der Mensch hat ein moralisches Problem, nicht ein ontologisches!

Theologie muß immer mit Demut gepaart sein. Daher können sich christliche Theologen das Schwert ihres Handwerks auch einmal von einem Nichtgläubigen wie Šliogeris schärfen lassen. Denn sie können unterscheiden, wo er Wahrheiten erfaßt und daher von ihm zu lernen ist, und wo ihn seine Gottesverachtung in die Irre führt. Die Kunst der rechten Unterscheidung bewahrt so vor einem falschen Fundamentalismus, der alle Wahrheit nur bei sich findet und nicht mehr lernbereit ist, und einem falschen Skeptizismus, der an keine Wahrheitsfindung mehr glaubt und deshalb auf unterscheiden meint verzichten zu können.