Kirche der Letten, Litauer und Deutschen

Kirche der Letten, Litauer und Deutschen

Die lutherische Kirche in Litauen wurde über Jahrhunderte von den Deutschen dominiert. Ab etwa dem späten 16. Jhdt. rechneten sich die allermeisten litauischen Protestanten dem reformierten Glauben zu; nur die deutschen Kaufleute in den Städten hielten an der lutherischen Konfession fest. Bis 1800 gab es so nur etwa ein Dutzend Gemeinden im Land (neben einigen Hundert refomierten um 1600).

Im Zarenreich nahm die Zahl der lutherischen Gemeinden zu. Im Norden siedelten sich Letten an, und zwischen 1795 und 1860 strömte entlang der Grenze zu Preußen eine größere Zahl Deutsche und „lietuvininkai“ (Litauer aus dem Memelland) ins Land, allesamt Lutheraner. In der Suwalkija zwischen Kaunas und Ostpreußen wurden sechs neue Gemeinde zwischen 1825–1840 gegründet.  Ende des 19. Jhdts. gab es in den russischen Gouvernements Vilnius, Grodno, Kaunas 50.000 Lutheraner, außerdem rund 30.000 in der Suwalkija. Viele Gemeinden waren nun national gemischt: in Landgemeinden bildeten Litauer die Mehrheit, in den Städten Deutsche. Und im Norden von Biržai bis zur Ostsee sprachen die meisten Lutheraner lettisch. Die Geistlichen waren fast ausschließlich Deutsche. Nur bei den „surinkimininkai“, den Pietisten im Memelland und Ostpreußen, herrschte die litauische Sprache vor. Ihre Prediger („sakytojai“) waren Litauer.

Nach dem I Weltkrieg gab es im unabhängigen Litauen etwa 5 Prozent Protestanten, die Mehrheit, ca. 3%, Lutheraner in rund 50 Gemeinden. Davon waren geschätzt 40% deutschsprachig. Bis zum II Weltkrieg überschatteten die Konflikte zwischen den Volksgruppen das Leben der Kirche. Ab 1920 hatte jede Gruppe (Litauer, Letten, Deutsche) eine eigene Synode und wählte jeweils einen Senjor (Anfang der 20er  Jahre konnte man sich nicht auf eine einheitliche Sprache auf der Synode einigen). Nur ein gemeinsames Konsistorium wurde gebildet. Die Zusammenarbeit in der Leitung war äußerst schwierig. Die deutsche Seite stand dem Präsidenten des Konsistoriums Vilius Gaigalaitis (ab 1925) in offener Feindschaft gegenüber. Auf Seiten der Litauer strebte  der Verein „Pagalba“ (Hilfe) ab 1923 eine Verbesserung der Situation der litauischen Lutheraner an, geriet jedoch in immer nationalistischeres Fahrwasser. Der litauische Staat begünstigte ebenfalls die litauische Seite. Auch durch die Bildung der theologischen Fakultät an der Vytautas-Universität 1925 wollte man den litauischen Charakter der Kirche stärken (dort wurden bis 1936 lutherische und reformierte Pfarrer ausgebildet). Litauische Gottesdienste wurden nach und nach überall eingeführt wie z.B. ab 1930 auch in Kaunas.

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Lutherische Kirche in Alkiškis (Kreis Akmenė) ganz im Norden Litauens

Ab 1923 gab es dann noch eine zweite lutherische Kirche im Land. Im Memelland, das 1923 von Litauen besetzt und dem Staat angeschlossen wurde, wohnten fast nur Evangelische. Die über 100.000 Lutheraner des Gebiets (deutsch- und litauischsprachig) unterstanden jedoch der Altpreußischen Union, der Ev. Kirche in Berlin. Nur eine Minderheit in der sehr deutsch geprägten Kirche wollte in der lutherischen Kirche Litauens aufgehen.

Erst der II Weltkrieg mit all seinen Wirren und Folgen ‘löste’ diese verzwickte Situation. Die allermeisten Deutschen wurden umgesiedelt oder vertrieben, auch die großé Mehrzahl der Memelländer (Deutsche und viele Litauer) verließ bis Anfang der 60er Jahre das Land. Die Mehrheit der (immer noch deutschen) Pfarrer ging ebenfalls nach Deutschland. Es blieben Deutsche zurück, die aber meist Ehen mit Litauern eingingen und Litauisch konnten oder erlernten.

So wurde die lutherische Kirche erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu einer tatsächlich litauischen bzw. zu einer litauischsprachigen Kirche. Am längsten hielt sich noch das Lettische in den Gemeinden des Nordens. Aber auch dort lituanisierten sich die Letten immer mehr, und der letzte Pfarrer, der Gottesdienste auf Lettisch halten konnte, starb vor einigen Jahren.

Die unterschiedlichen Volksgruppen bestehen in der Kirche aber immer noch. Im lutherischen Teil unserer Gemeinde gibt es noch einige ältere deutsche Damen, die uns gern in ihrer Muttersprache begrüßen, und nicht wenige Mitglieder sprechen lettisch oder verstehen es zumindest.

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Dieser multinationale Charakter der Kirche wurde für uns deutlich, als wir am 21. Juli an der Beerdigung von Otilija aus der Gemeinde in Šiauliai teilnahmen. Die über 90-Jährige wuchs in einem Hof nahe der lettischen Grenze auf, wurde nach Sibirien verbannt, lebte mit Familie später in Šiauliai. Sie entstammt einer lettischen Familie und wollte unbedingt auf einem alten Friedhof der evangelischen Letten unweit der Grenze begraben werden. Zu den Gräbern unter hohen Bäumen führt heute kein Weg mehr, nur noch ein Trampelpfad über den Acker. So zog die Trauergesellschaft dem Sarg durch ein Rapsfeld hinterher (s. Foto ganz oben). Bei der Bestattung erklangen auch lettische Lieder, angestimmt von unserem Pfarrer Romas (s. Foto o.), der aber eigentlich kein Lettisch spricht. Auf den Sarg wurde ein spezielles Tuch gelegt und dann in die Erde gelassen – ein alter Brauch der evangelischen Letten.

Heute kommen die drei nationalen Gruppen gut miteinander aus, weil der Charakter der Kirche nun feststeht und die litauische Sprache die der Kirche ist. Vor allem die Nachnamen weisen heute noch auf lettische und deutsche Wurzeln hin.

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Teilnehmer der Synode der lutherischen Kirche in Tauragė 2011

Ein letztes wichtiges Problem waren die unterschiedlichen Traditionen in Liturgie und Liedgut. Gerade die Kirche des Memellandes und die litauische Gemeinschaftsleute aus Ostpreußen, Jahrhunderte getrennt von den Lutheranern Litauens, hatten ganz eigene Bräuche und sprachliche Ausdrücke entwickelt. Mit dem neuen Gesangbuch von 2007 und einer einheitlichen Liturgie ist aber auch dieser Prozess inzwischen abgeschlossen.