Zwei Baptisten

Zwei Baptisten

Zwei Baptisten, die zu den berühmtesten Predigern der Kirchengeschichte gehören, verkörpern zwei unterschiedliche Positionen zur christlichen Einheit. Der eine wirkte in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und füllte dort die größten Säle. Bis heute ist er durch seine Schriften bekannt: Charles H. Spurgeon (1834–1892). Der andere ist US-Amerikaner, einer der einflussreichsten und angesehensten Evangelikalen und sicher der meistgehörte Evangelist des 20. Jahrhunderts: Billy Graham (geb. 1918).

Das verwerfliche Schauspiel

Spurgeon war zeit seines Lebens ein Mann von klaren Worten und von klaren Überzeugungen. Er vertrat eine calvinistische Theologie und hielt diese für den klarsten Ausdruck des Evangeliums. Aber er wusste auch, dass es Christen gibt, die diese Auffassung nicht teilen. Spurgeon schätzte z.B. seinen Landsmann John Wesley sehr, den Vater des Methodismus, der ein Nichtcalvinist war. Wichtig war ihm die Treue zu den Grundwahrheiten des historischen Christentums – das Christentum, das die Reformatoren wieder erneuerten.

Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts drang jedoch auch im britischen Baptistenbund die moderne, liberale Theologie vor, die an einigen dieser Grundwahrheiten rüttelte. 1887 klagte Spurgeon den Unglauben einiger baptistischer Geistlicher an und forderte eine entsprechende Reaktion des Bundes, die jedoch ausblieb. In seinem Journal „Sword and the Trowel“ (Das Schwert und die Kelle) schrieb Spurgeon daraufhin im August 1887:

„Jetzt ergibt sich für uns ernsthaft die Frage, inwieweit jene, die in dem Glauben verharren, ‘der einmal den Heiligen übergeben ist’, sich mit denen verbrüdern sollten, die zu einem anderen Evangelium abgewichen sind. Christliche Liebe hat ihre Ansprüche, und Spaltungen sollten als schwere Übel gemieden werden; aber wie weit lässt es sich rechtfertigen, wenn wir mit jenen im Bunde sind, die von der Wahrheit abweichen?“

In September kritisierte er die Passivität seiner Geschwister:

„Das Haus wird beraubt, ja, seine Grundmauern werden untergraben, aber die guten Leute in ihren Betten lieben die Wärme so sehr und haben so Angst vor einem Schädelbruch, dass sie nicht hingehen und die Diebe verjagen… Inspiration [der Bibel] und Spekulation [Bibelkritik] können nicht lange in Frieden nebeneinander wohnen. Kompromisse kann es hier nicht geben. Wir können nicht an der Inspiration des Wortes festhalten und sie gleichzeitig ablehnen. Wir können nicht an das Sühneopfer glauben und es leugnen… Wir können nicht die Bestrafung der Unbußfertigen anerkennen und gleichzeitig in der ‘größeren Hoffnung’ [auf Errettung von Ungläubigen] schwelgen. Für einen Weg müssen wir uns entscheiden.“

Am 28. Oktober 1887 verließ Spurgeon mit seiner Gemeinde den Bund, denn, so schrieb er im November, „wir haben das verwerfliche Schauspiel vor uns, dass erklärtermaßen orthodoxe Christen öffentlich ihre Einheit mit jenen beteuern, die den Glauben verleugnen…“ Spurgeon kündigte die Einheit auf – um der Wahrheit willen: „Unsere feste Überzeugung ist es, dass es dort, wo keine feste geistliche Einheit sein kann, es auch keinen Anschein von Gemeinschaft geben darf. Gemeinschaft mit erkanntem, schweren Irrtum ist Teilhaben an der Sünde“.

Spurgeon kritisierte den Unwillen, Lehrangelegenheiten präzise zu definieren, und die Bereitschaft, den Inhalt des orthodoxen Christentums auf ein Minimum zu reduzieren. Ein bloßes Bekenntnis „zum christlichen Glauben“ reichte ihm nicht; dies Bekenntnis muss mit Inhalt gefüllt werden. Wie so manche nach ihm in der calvinistischen Tradition (Abraham Kuyper, B.B. Warfield, Francis A. Schaeffer) hatte Spurgeon erkannt, dass sich die modernistische Theologie zwar noch christlich nennt, tatsächlich aber mit dem Christentum nur noch wenig gemein hat: „Ich halte die ausgereife ‘moderne Theologie’ für einen völlig neuen Kult, der mit dem Christentum nicht mehr zu tun hat, als der Abendnebel mit den ewigen Bergen“.

Spurgeons Position war daher folgende: Wenn Christen in einem Bündnis mit Pastoren zusammengeschlossen sind, die nicht das Evangelium predigen, laden sie moralische Schuld auf sich; die Einheit der Kirche wird zuerst durch Irrtum zerstört. „Absonderung von solchen, die grundlegenden Irrtum dulden oder untergehenden Seelen das ‘Brot des Lebens’ vorenthalten, ist nicht Spaltung, sondern das, was die Wahrhaftigkeit und das Gewissen von allen verlangen, die als treu erfunden werden wollen“ („Sword and the Trowel“, 1888).

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Eine Weite in Gottes Gnade

Spurgeon setzte sich für Einheit in der Wahrheit ein. Andere Akzente setzte Graham. Dieser vertritt zwar auch eine eindeutig konservative Theologie, in der Evangelisation ging es ihm aber um möglichst große Weite. Eine breite kirchliche Unterstützung gab es zum ersten Mal 1957 beim „Feldzug“ in New York, der vom „Protestant Council of New York“ getragen wurde – und zu diesem regionalen Kirchbund gehörten zahlreiche liberale Gemeinde und Leiter. Grahams Grundsatz: „Wir sollten bereit sein mit all denen zusammenzuarbeiten, die mit uns arbeiten wollen. Unsere Botschaft ist klar, und wenn jemand mit einer radikal anderen theologischen Sicht sich einem Feldzug anschließt, der Christus als den Weg zu Versöhnung verkündet, dann weicht er oder sie von eigenen Überzeugungen ab, nicht wir.“ (Just As I Am)

Unterstützung durch eine breite Koalition von Kirchen bedeutete aber auch, dass die Bekehrten in all diese Kirchen (wo auch immer sie theologisch stehen) geschickt werden konnten. In den Zeitungen wurde Graham damals mehrfach so zitiert: „Wir senden sie [diejenigen, die ‘nach vorne’ kamen und damit eine Hinwendung zu Gott ausdrückten] zu ihren eigenen Kirche, ob nun römisch-katholisch, protestantisch oder jüdisch… Der Rest ist Gottes Sache.“ (zit. in W. Martins Graham-Biografie A Prophet With Honor) Die Liberalen glaubten nicht an Grahams Botschaft, aber sie wollten auch etwas von den Massen der Bekehrten abhaben: „Wir stimmen nicht mit Billy Grahams Theologie überein, aber wir nutzen ihn, um unsere Kirchen zu bauen.“

In späteren Jahren waren auch Sätze von Graham zu hören wie „Ich habe keinen Streit mit der katholischen Kirche.“ In einem Interview in den 80er Jahren:

„Ich glaube, dass ich zu allen Kirchen gehöre. Ich fühle mich gleichermaßen zuhause in einer anglikanischen oder baptistischen oder einer Versammlung der Brüder oder in einer römisch-katholischen Kirche… Heute werden wir in diesem Land [USA] zu 100 Prozent von der katholischen Kirche unterstützt. Vor zwanzig Jahren war dies nicht so. Und die Bischöfe und der Papst sind unsere Freunde.“

Ganz anders als Spurgeon traten bei Graham die Lehrdifferenzen in den Hintergrund: „Das Kennzeichen christlicher Jüngerschaft ist nicht Rechtgläubigkeit, sondern Liebe“, meinte er. Und: „Die ökumenische Bewegung hat meinen Horizont erweitert“. Problematisch für viele Evangelikale war vor allem auch, dass Graham (trotz seiner biblistischen Theologie) in Teilen das katholische Verständnis im Hinblick auf das Heil übernommen hat. 1978 sagte er im Magazin „McCall‘s“: „Früher glaubte ich, dass die Heiden in fernen Ländern verloren sind, falls ihnen das Evangelium von Christus nicht gepredigt wird. Dies glaube ich nicht mehr.“ Diese Sätze wurden von Grahams Mission ‘zurechtgerückt’. Doch auch im Interview mit Pastor Robert Schuller im Mai 1997 sprach Graham von „unbewusste Christen“ (was an die „anonymen Christen“ des katholischen Theologen Karl Rahners erinnert), und weiter: „Sie [Muslime, Buddhisten, andere Ungläubige] mögen den Namen Jesu nicht kennen, aber sie wissen in ihren Herzen, dass sie etwas brauchen, was sie nicht haben. Und sie wenden sich dem einzigen Licht zu, das sie haben. Ich denke, dass sie gerettet sind.“ Graham bestätigte, dass es eine „Weite in Gottes Gnade“ gibt (ein Begriff, den der Baptist Clark Pinnock prägte).

Andere Evangelikale widersprachen Graham und plädierten dafür, eine „Jochgemeinschaft“ (nach 2 Kor 6,14) mit falschen Theologien und Lehren vor allem in der Evangelisation zu meiden. Denn, so Martyn Lloyd-Jones: „Dies ist der große Unterschied: die ökumenischen Leute setzen Gemeinschaft vor Lehre. Wir sind Evangelikale, wir setzen Lehre vor Gemeinschaft.“ Francis Schaeffer hatte keinerlei Berührungsängste mit Atheisten oder Liberalen, aber er betonte genauso:

„Wir müssen die Wahrheit praktizieren, auch wenn es teuer ist. Wir müssen sie im Hinblick auf kirchliche Verbindungen und evangelistische Zusammenarbeit praktizieren. Es ist ein Unterschied, ob man eine öffentliche Diskussion mit einem liberalen Theologen führt oder ob man ihn einlädt, in unserem [evangelistischen] Programm zu beten.“ (The Church at the End of the Twentieth Century)