Gottesgabe oder Fluch?

Gottesgabe oder Fluch?

Oder: Muss ein Christ auf Alkohol verzichten?

Seit vielen Jahrtausenden werden von Menschen alkoholische Getränke konsumiert. Von den Sumerern in Mesopotamien wissen wir, dass sie schon um 3000 v. Chr. große Mengen Bier herstellten und wohl über ein Drittel der Getreideernte auf die Bierproduktion verwandten. Der Alkoholgehalt dieses Getränks, das mit unseren heutigen Bieren nur wenig gemein hat, lag aber nur bei etwa 2%.

Bier war auch das bevorzugte Getränk bei den Ägyptern. Wein war dort nur der Oberschicht vorbehalten. Im Kaukasus, in Persien sowie in Israel war der vergorene Getreidesaft jedoch kaum verbreitet. Hier dominierte der Wein, weshalb der Weinanbau praktisch im gesamten AT ein Thema ist. Erst der Islam brachte die Weinkultur in Palästina zum Erliegen, denn der Koran verbietet den Gläubigen ausdrücklich den Genuss von Wein. Hochprozentige Spirituosen konsumierte man in der Antike nicht, da die Destillierung noch unbekannt war.

Die allgemeine Verbreitung alkoholischer Getränke hatte auch praktische Gründe: „Natürliche alkoholische Getränke waren über ihren Nährwert hinaus hochwertige Träger von Vitaminen und lebenswichtigen Spurenelementen und eigneten sich aufgrund der konservierenden Eigenschaften des Alkohols zur Vorratshaltung. Wegen des vergleichsweise niedrigen Gehalts an Alkohol stand dessen Wirkung als Droge nicht im Vordergrund. Es ging den Konsumenten eher um die Erfrischung mit einem Durstlöscher, der nicht leicht verdarb. Gegenüber dem oft gefährlichen Brunnenwasser besaßen alkoholische Getränke die Vorteile der geringeren Keimbelastung und des größerern Nährstoffgehalts Bier war […] der gewöhnlichste Trank der Ägypter.“ (Judith Rosta, Manfred V. Singer, Über die Kunst des rechten Alkoholgenusses – eine kleine Kulturgeschichte des Alkohols)

In Europa änderte sich daran über Jahrtausende wenig. Neben dem Brot war das Bier Hauptnahrungsmittel der breiten Bevölkerung. Bier wurde noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts als nahrhafte Stärkung für Arbeiter empfohlen, ja sogar als „hervorragendes Familiengetränk“ beworben. „Gesundheitsbier“ oder „Heilbier“ wurde auch in Apotheken vertrieben und auch Kindern angeboten.

Bis ins 19. Jahrhundert waren Alkoholika tatsächlich fast die einzig vorhandenen schmerzlindernden und betäubenden Mittel, um medizinische Eingriffe vornehmen zu können. Noch um 1900 ging man davon aus, dass eine bestimmte Menge Alkohol eine medizinisch vorbeugende Wirkung hat, wurden „Wein-Kuren“ verschrieben. Der destillierte Branntwein galt lange als Lebenselixier schlechthin, worauf Namen wie „Aqua vitae“ (lat. Wasser des Lebens), „akevitt“ oder auch „Whisky“ (nach einem gälischen Wort mit derselben Bedeutung) hinweisen. Heute wird der Alkohol in der Medizin nur noch als Desinfektions-, Einreibungs- und Kühlungsmittel, sowie natürlich zur Lösung für Medikamente in Tropfen verwendet.

„Saufteufel“ und „Gnade der Nüchternheit“

Die Geschichte des Alkohols wird natürlich auch von seinem Missbrauch begleitet. Hinweise auf Trunkenbolde finden sich schon in der ägyptischen Literatur. Der Römer Seneca: „Sobald des Weines überwältigende Kraft die Herrschaft über uns gewonnen, tritt jedes bisher verborgene Laster zu Tage.“ Martin Luther lobte in den Tischreden auf der einen Seite den Alkohol: „Unser Herrgott gönnet uns wohl, daß wir essen, trinken und fröhlich seien. Deshalb hat er auch so viele Dinge geschaffen… Der Wein hat ein Zeugnis in der Schrift…“ (730, 732) Genauso beklagte er aber auch oft den „Saufteufel“: „Denn das Beste vom Menschen vergeht mit der Trunkenheit.“ (734)

„Eine latente Trunkenheit dürfte Jahrtausende lang der Normalzustand gewesen sein“, so die oben zitierten Autoren. Wenn heute hoher Alkoholkonsum beklagt wird, so ist zu bedenken, dass früher von normalen Menschen täglich literweise Bier getrunken wurde, wenn auch mit niedrigerem Alkoholgehalt (auch der Wein z.B. der Römer hatte meist weniger Alkohol als heute). Im 19. Jahrhundert verschärfte sich das Problem, da sich der Alkohol durch Massenproduktion deutlich verbilligte und vor allem immer mehr hochprozentige Alkoholika auf den Markt kamen. Aber es erschienen nun auch echte Alternativen: Tee und Kaffee wurden im Bürgertum immer beliebter und begannen ihren Siegeszug.

Ab etwa 1800 nahmen die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Folgen des Alkohols zu. Alkoholismus wurde als Krankheit identifiziert, wobei allerdings auch die falsche Vorstellung von der Vererbung des Alkoholismus aufkam. Erstmals bildeten sich nun Abstinenzbewegungen. In Nordamerika entstanden diese meist auf protestantischem Hintergrund (Methodisten und Baptisten); in Litauen ragte Mitte des 19. Jahrhunderts Bischof Motiejus Valančius heraus, der in seinen Blaivybės Gromatos (Briefe/Schriften über die Nüchternheit) die Abstinenzbewegung seiner Zeit als großen Segen Gottes betrachtete, durch den Gott die Menschen aus der „Flut der Trunkenheit“ heraus riss.

Im 20. Jahrhundert verlor das Bier seine Rolle als Grundnahrungs- und Arzneimittel und auch als wichtigster Durstlöscher. Im Vordergrund steht heute allein das Genussmittel Alkohol. Die Wirkungsweise des Ethylalkohols oder Ethanols (chemische Formel C2H5OH) ist heute gut bekannt. Alkohol ist ein psychoaktiver Stoff, der als sog. Depressant auf das Nervensystem eine dämpfende Wirkung hat. Er wirkt toxisch, was bei Rauschzuständen offensichtlich wird, kann psychische wie körperliche Abhängigkeit auslösen. Alkohol findet sich oft nicht auf Listen von Drogen, aber natürlich ist er in Hinsicht auf die Wirkungsweise eine solche.

Bei niedrigem und mäßigem Konsum von Alkohol besteht kaum ein Gesundheitsrisiko; auch die Gefahr der Abhängigkeit ist dann sehr gering. Dennoch ist Alkohol deutlich gefährlicher als z.B. Cannabis: „Alkohol ruiniert Lebern, Hirnzellen und Ehen. Gerade angetrunkene Männer neigen zu Gewalt. Ein paar Wodkas zu viel, und friedfertige Gestalten verwandeln sich in Schläger, Vergewaltiger, sogar Mörder. Ein Drittel aller Gewaltdelikte in Deutschland wird von Tätern begangen, die durch Alkohol jede Hemmung verloren haben.“ („Der Spiegel“, 25/2015)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt daher, täglich nicht mehr als zwei „Standarteinheiten“ (SE) zu sich zu nehmen (1 SE beträgt 10g reiner Alkohol). Die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren setzt die Grenze des „moderaten“ und „risikoarmen“ Alkoholkonsums ähnlich bei 13g für Frauen (entspricht 0,3l Bier) und 20g für Männer (0,25l Wein) an. Als Mann sollte man also unter 0,5l Bier pro Tag bleiben. Ein Verbrauch von täglich 30g reinem Alkohol gilt als „Problemkonsum“, da das Suchtrisiko deutlich steigt. 5–10 Prozent der Männer und 2–5 Prozent der Frauen sind davon in den europäischen Ländern meist betroffen. In Deutschland wird geschätzt, dass 2,5% einen gefährlichen Konsum (zwischen 60 und 120g reiner Alkohol pro Tag bei Männern) und ca. 0,5 Hochkonsum (mehr als 120g) zeigen. Als alkoholabhängig gelten ca. 2,5% der Bundesbürger: in Litauen ist (bei Einschluss von Dunkelziffern) von ähnlichen und wohl höheren Zahlen auszugehen.

„Trink deinen Wein mit gutem Mut“

Kommen wir zu Sicht der Bibel. An über 250 Stellen werden in den biblischen Schriften alkoholische Getränke erwähnt. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um Wein bzw. verdünnten Wein. Im hebräischen AT wird Wein mit den Begriffen jajin, tiro und asim bezeichnet, alle drei überschneiden sich weitgehend in ihrer Bedeutung. Im griechischen NT ist fast immer der Begriff oinos gebraucht, vereinzelt gleukos (=neuer, süßer Wein) und oxos (=Weinessig).

Wein war im antiken Israel ein Alltagsgetränk, ja sogar Grundnahrungsmittel. Traubensaft wurde in geringerem Umfang getrunken, da er sich bei den klimatischen Bedingungen im Nahen Osten nicht lange lagern ließ. Es verwundert daher nicht, dass die Bibel zuerst einmal ganz normal über Wein als Teil der täglichen Nahrung redet wie in Pred 9,7: „So geh hin und iß dein Brot mit Freunden, trink deinen Wein mit gutem Mut…“ (andere Stellen: Dt 14,26; 2 Chron 2,9; Klg 2,12; Jes 55,1).

Ausgesprochen positiv wird der Wein an einigen Stellen als erfrischend und belebend bezeichnet wie in Ps 104,15: „daß der Wein erfreue des Menschen Herz…“ In 2 Sam 16,2 wird beschrieben, wie David Brote, Früchte und Wein zur Stärkung gebracht werden. (S. auch Gen 27,28.)

Wie bis heute war Wein natürlich auch ein Bestandteil von Feierlichkeiten. Das berühmteste biblische Beispiel ist sicher die Hochzeit zu Kana, als Jesus Wasser in Wein verwandelte (Joh 2,1–11; s. auch Gen 14,18; Est 1,7). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, dass Jesus den Jüngern auch eine himmlische Eucharistiefeier mit Wein ankündigte (Mt 26,29). Wein konnte auch Bestandteil des Tempelopfers sein (Ex 29,40; Lev 23,13; Num 28,14), hatte insofern im AT eine kultische Funktion. Allerdings wird dem Alkoholkonsum oder gar -rausch nirgendwo eine kultische Bedeutung beigemessen. Ganz anders in den heidnischen Religionen wie die Inschrift einer Tempelanlage der 18. Dynastie in Ägypten deutlich macht: „Betrinkt euch tüchtig und feiert einen schönen Tag, wie es euer Gott befohlen hat.“

Wein wurde auch aus medizinischen Gründen (im weiteren Sinne) konsumiert wie z.B. Spr 31,6 zeigt: „Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen“. In der bekannten Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10) behandelt dieser die Wunden des Ausgeraubten mit „Öl und Wein“ (V. 34). Viel zitiert wird außerdem 1 Tim 5,23: „Trinke nicht mehr nur Wasser, sondern nimm ein wenig Wein dazu um des Magens willen, weil du oft krank bist“. Welche Wirkung des Alkohols hier jeweils im Blick ist, ist schwer genauer zu sagen. Möglicherweise geht es z.B. Paulus nur um die desinfizierende Wirkung des Alkohols.

Schließlich erwähnen die Propheten des AT den Wein, um in ihren Visionen das zukünftige Heilszeitalter auf Erden zu veranschaulichen – Jes 25,6: „Und der Herr Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mal machen, ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist.“ (S. auch Joel 4,18; Amos 9,13)

„Sauft euch nicht voll Wein“

Neben diesen neutralen bzw. positiven Aussagen zum Wein finden sich in der Bibel aber auch eine Vielzahl von Warnungen vor einem zu hohen Alkoholgenuss, vor Sauferei. Im AT nimmt besonders Jesaja kein Blatt vor den Mund: „Weh denen, die morgens früh auf sind, dem Saufen nachzugehen, und sitzen bis in die Nacht, daß sie der Wein erhitzt“ (5,11); „Weh denen, die Helden sind, Wein zu saufen, und wackere Männer, Rauschtrank zu mischen“ (5,22). Scharf verurteilt er die Führer des Volks in Samaria und Jerusalem (Kap 28): „Aber auch diese sind vom Wein so toll geworden und taumeln von starkem Getränk… sie sind toll beim Weissagen und wanken beim Rechtsprechen“ (V. 7). Im Buch der Sprüche finden sich ebenfalls klare Warnungen: „Der Wein macht Spötter, und starkes Getränk macht wild; wer davon taumelt, wird niemals weise“ (20,1). (S. auch 23,20–21.30–31; 31,4–5). Zu hoher Alkoholkonsum beeinträchtigt das Urteilsvermögen und führt so zu törichten Entscheidungen (Est 1,10) bis hin zum Mord (2 Sam 13,28–29).

Im NT ist Paulus Warnung in Eph 5,18 am bekanntesten: „Und sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern laßt euch vom Geist erfüllen“. In 1 Tim 3,8 wird als Qualifikation für einen Diakon genannt „kein Säufer“ zu sein. In Tit 2,3 warnt Paulus die älteren Frauen (!) davor, sich „nicht dem Trunk“ zu ergeben. (S. auch Röm 13,13).

Es ist zu beachten, dass aus diesen Warnungen nicht zu viel abgeleitet wird. Deimantas Karvelis schreibt in „Konkurrent des Heiligen Geistes – geschichtliche und theologische Spuren des Weins im Christentum“ („Šventosios Dvasios konkurentas – Istoriniai ir teologiniai vyno krikščionybėje pėdsakai“, www.btz.lt): „Der einzig erlaubte Gebrauch ist für medizinische Zwecke (Lk 10, 34; 1 Tim 5, 23).“ Auf dem Hintergrund der gesamten biblischen Botschaft kann jedoch keinesfalls behauptet werden, der medizinische Gebrauch sei der einzig gerechtfertigte. Der Historiker schreibt: „Zweifellos sollen Christen voll des Geistes leben und nicht Wein genießen (Eph 5, 18), der die Gesundheit des Körpers des Christen zerstört; und dieser Körper ist doch der Tempel des Heiligen Geistes (1 Kor 3, 17).“ Hier wird der Weinkonsum als solcher im Gegensatz zum Wirken des Geistes gesehen, was nicht biblisch zu begründen ist. Und Eph 5,18 ist nicht vom Weinkonsum, sondern von seinem Missbrauch die Rede; es geht dort um Betrinken und nicht um Genuss.

Oft wird in Diskussionen zu diesen Fragen darauf hingewiesen, dass der Weinkonsum der Antike sich von dem heutigen unterschied (wir wiesen schon darauf hin, dass sich auch das damalige Bier ein anderes als die heutigen war). Robert H. Stein hat dazu in „Ist der ‘Wein’ des Neuen Testaments der gleiche wie in unserer Zeit?“ (Difficult Passages in the New Testament) gute Ausführungen gemacht. Er betont zuerst, dass es sich beim Wein nicht um alkoholfreien Saft handelt: „Es ist offensichtlich, dass ‘Wein’ in der Bibel nicht unvergorener Saft bedeuten kann, denn das Gebot sich nicht zu betrinken (Eph 5,7) und viele weitere Warnungen vor falschem Weinkonsum in der Schrift (z.B. Lev 10,9; Spr 20,1; 21,17; 23,29–35) hätten überhaupt keinen Sinn, wenn sich dieses Wort auf ein nichtalkoholisches Getränk beziehen würde. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass dies Wort nicht exakt dasselbe bezeichnet, was wir heute Wein nennen.“

Wein ist also Wein. Andererseits gilt aber auch, dass das „Wein“ genannte Getränk einen deutlich geringeren Alkoholanteil hatte, denn „vor dem Verbrauch wurde er immer verdünnt.“   Der Anteil des beigefügten Wasser konnte unterschiedlich sein, doch nur Barbaren tranken ganz unverdünnten Wein. Ein mit gleichem Anteil Wasser vermischter Wein wurde sogar als ‘starkes Getränk’ angesehen und abgelehnt. Der Begriff ‘Wein’ oder oinos bedeutete daher in der alten griechischen Welt nicht Wein, wie wir ihn kennen, sondern mit Wasser verdünnter Wein. In der Regel wurde mit Wein also ein Wein-Wasser-Gemisch bezeichnet. Wenn reiner Wein gemeint sein sollte, wurde dieser ‘unverdünnter [akratesteron] Wein’ genannt.“ Diesem Brauch folgend war auch der Abendmahlswein der frühen Kirche wohl meist verdünnt. Stein zitiert Cyprian, der um 250 für das Abendmahl verdünnten Wein vorsah.

Die Bibel hat also insgesamt eine sehr realistische Sicht des Alkohols – positive wie negative Aspekte werden gleichermaßen deutlich gesehen. Grundsätzlich ist Alkoholgenuss erlaubt, es wird jedoch deutlich zur Mäßigung geraten und vor Missbrauch gewarnt. Völlig enthaltsam lebten wohl nur die Nasiräer (Num 6,3–4; zu den bekanntesten gehörten Samson, Samuel und später Johannes der Täufer [s. Lk 1,15]) und zeitweise die Priester (Lev 10,9). Jesus hat höchstwahrscheinlich auch selbst Wein getrunken, da man ihm sonst wohl kaum nachgesagt hätte, ein „Fresser und Weinsäufer“ zu sein (Mt 11,19). Daher ist G. Meadows zuzustimmen, wenn er schreibt: „Careful biblical interpretation requires that the choice to abstain [from alcohol] be made for reasons other than the demand of the biblical pattern“. (W. A. Elwell, Evangelical Dictionary of Biblical Theology)

Über diesen biblischen Befund sollte nicht zu schnell hinweg gegangen werden. Man beachte, dass die einzige Droge, die die Bibel ausführlicher betrachtet, nicht einfach als Übel bezeichnet wird, im Gegenteil. Grundsätzlich ist der Wein eine Gabe Gottes! Angesichts der Dämonisierung des Alkohols durch radikale Abstinenz-Anhänger sollte dies nicht vergessen werden. Aber wie alle Gaben Gottes (man denke nur an Sexualität und Reichtum) kann er missbraucht werden.

Wenn Laima Bulotaitė in Priklausomybių anatomija (Anatomie der Abhängigkeiten) den „Konsum alkoholischer Getränke“ als solche als „Übel“ bezeichnet, so ist daher klar und eindeutig zu widersprechen. Sie meint, man müsse junge Menschen „beibringen, wie man diesem Übel widerstehen kann, so dass sie den Drogen ein klares ‘Nein’ sagen können.“ Offensichtlich gibt es in ihrer Vorstellung überhaupt keinen verantworteten, mäßigen Gebrauch von Drogen, einschließlich Alkohol. So kommt sie zu wenig hilfreichen Tipps wie diesen: „Trinken Sie nicht vor den Kindern… Trinken Sie nie mit Ihren Kindern und bieten Sie ihnen keine alkoholischen Getränke an.“ Wie sollen Heranwachsende den Umgang mit Alkohol lernen, wenn er zu einem Tabu erklärt wird? Wenn Verbrauch an sich schon ein Übel ist und man davor schützen müsse? Wie soll sich eine vernünftige Kultur des Alkoholkonsums entwickeln, wenn diese Kultur in Familien nicht entwickelt und vorgelebt wird? Hier darf man nicht von einem Extrem, der Sauferei, ins andere, der Tabuisierung und des Verheimlichens, fallen. Gegen Ende mehr dazu.

(Stichwort Verheimlichen: Ähnliches ist ja zum Rauchen zu sagen; so werden Schulen [in Litauen] zu rauchfreien Zonen erklärt, aber keiner vermag einem zu sagen, was die rauchenden Lehrer dort machen – gibt es sie etwa nicht? Halten es die vom Nikotin Abhängigen etwa 6–8 Stunden ganz ohne Droge aus? Was machen sie in der Zeit? Offensichtlich wird hier ein Konsum in den Untergrund gedrängt – und die rauchenden Schüler soll dann die Polizei aus den Treppenhäusern und Höfen der benachbarten Häuserblöcke jagen… Aber offiziell gilt das Problem als gelöst, wird in der Schule doch nicht geraucht.)

Freiwilliger Verzicht in bestimmten Situationen

Was folgt daraus für die Praxis der Kirchen heute? Hier ist an den Grundsatz zu erinnern, dass nur Gottes Gebote und sein Wort definieren, was Sünde ist, denn einzig Gott ist der Gesetzgeber und Richter (Jes 33, 22; Hbr 4, 12; Jak 4, 12). Der Kürzere Westminster-Katechismus definiert Sünde so: „Sünde ist jeder Mangel an Übereinstimmung mit dem Gesetz Gottes oder jede Übertretung desselben“ (Fr. 14). Luther: „Zuerst ist zu wissen, dass es keine guten Werke gibt als allein die, die Gott geboten hat, wie es ebenso keine Sünde gibt, als allein die, die Gott verboten hat.“ (Von den guten Werken) Die Freiheit des Gewissens darf nicht dadurch eingeschränkt werden, dass Christen Pflichten als göttliche Gebote auferlegt werden, die über Gottes Wort hinausgehen. Mit einem Wort: es darf nur das verboten werden, was Gottes Wort verbietet (und was darauf vernünftig abgeleitet werden kann), und es darf nur zur allgemeinen Pflicht gemacht werden, was Gottes Wort befiehlt. In den Berner Thesen von 1528: „Die Kirche Christi macht nicht Gesetze und Gebote ohne Gottes Wort. Deshalb binden alle Menschensatzungen, die man Kirchengebote nennt, uns nicht weiter, als sie im göttlichen Wort begründet und geboten sind.“

Wie wir sahen, verbietet die Bibel den Alkoholkonsum als solchen nicht, ja er wird ausdrücklich erlaubt, weshalb dieser nicht als Sünde bezeichnet werden darf. Abstinenz ist eine Möglichkeit, aber keine Pflicht. Eine Gemeinde hat daher auch nicht das Recht, den Mitgliedern den kompletten Alkoholverzicht (also auch im privaten Leben) vorzuschreiben. Man kann sich auf die Regel einigen, in der Gemeinde und während ihrer Veranstaltungen aus vielerlei guten Gründen auf Alkohol zu verzichten. Doch dies hat dann nur den Status einer praktischen Übereinkunft, aber nicht den eines direkten göttlichen Gebotes und darf sich nicht auf das gesamte Leben des Christen ausdehnen. Will eine Kirche vor Missbrauch warnen, empfiehlt sich eine weite Formulierung wie „schädliche Gewohnheiten, die zu Abhängigkeiten führen können, sind zu meiden“, da so die Freiheit des Einzelnen bewahrt bleibt und auch andere Drogen gleich miteingeschlossen sind.

Abschließend muss noch auf ein Argument eingegangen werden, mit dem dennoch ein weitgehendes Alkoholverbot für Christen begründet wird. Manche gestehen ein, dass die Bibel den Alkohol erlaubt und „gesetzlich“ nicht verbietet; Alkoholkonsum als solcher ist keine Sünde. Aber aus Liebe und Rücksichtnahme auf schwache Geschwister müsse heute dennoch auf Alkohol verzichtet werden. Grundlage sind die Ausführungen vom Paulus in Röm 14 und dort die Verse 17 und vor allem 21, wo es ausdrücklich heißt, es sei besser auf Wein zu verzichten, wenn dies zum Anstoß eines Bruder sei.

Im Kapitel geht es um die Starken und Schwachen im Glauben. Die Starken sind überzeugt, dass sie alles essen und trinken können; die Schwachen enthalten sich vom Fleisch und Alkohol. Beide Gruppen sind in der Gemeinde anzutreffen und müssen in Liebe miteinander umgehen. Der Schwache soll aufgenommen und nicht verachtet werden, aber umgekehrt gilt auch, dass die Schwachen den Starken nicht alle Regeln vorschreiben. Das Verhalten der Schwachen soll nicht pauschal zur allgemeinen Norm erhoben werden, schließlich macht Paulus eindeutig klar, dass im Prinzip weder Fleisch noch Wein zu verbieten sind. Wein selbst ist keinerlei Übel, denn „nichts [ist] unrein an sich selbst“ (V. 14).

An die Adresse der Starken sagt der Apostel nun aber in Vers 13: „richtet darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“ Die beiden Substantive am Ende des Satzes geben die gr. Worte proskomma und skandalon wider. Dies ist überraschend strenge Rede, denn es geht um Hindernisse zum Glauben und um etwas, was zum Abfall vom Glauben führt. Kenneth L. Gentry: „Paulus betont, dass der Starke seine Stärke nicht missbrauchen darf, indem er den Schwachen zum Sündigen gegen sein Gewissen führt.“ (God Gave Wine)

Die Starken sollen darauf achten, dass sie die Schwachen nicht in den Unglauben und die Sünde treiben. Bedeutet das nun, dass alle Christen überall und immer ‘sicherheitshalber’ auf Alkohol verzichten müssen – man weiß ja nie, ob nicht der eine oder andere zum Sündigen verführt werden könnte. Dies macht jedoch kaum Sinn. Einmal ist zu beachten, dass in V. 21 auch das Fleisch genannt wird – sollte wir dann nicht auf allen Fleischkonsum verzichten?

Häufig wird nun auch auf 1 Kor 8,13 Bezug genommen: „Mein Bruder und meine Schwester dürfen wegen dem, was ich esse, nicht in Sünde geraten. Lieber will ich mein Leben lang auf Fleisch verzichten, als dass eines von meinen Geschwistern durch mich zu einer Sünde verführt wird.“ Wir wissen aber nun ja, dass Paulus nicht vollkommen auf Fleisch verzichtet hat. Es geht hier (was die gr. Zeitform des Aorist deutlich macht) um einen Verzicht in einer bestimmten Situation und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wie auch 1 Kor 9,22 deutlich macht, wird der Starke aus Liebe zum Schwachen hier und da schwach, lässt sich also gleichsam zum Schwachen herab. Dies aber deshalb, um den Schwache zu „gewinnen“. Dieser soll überzeugt werden, soll nicht schwach bleiben. Thomas Schirrmacher: „Paulus will offensichtlich nicht, dass die Schwachen Fleisch essen, weil sie unter Druck gesetzt oder über den Tisch gezogen wurden, sondern nur wenn und weil sie überzeugt wurden. Er will keine Christen, die blind und gegen ihre Überzeugungen handeln oder sich nur äußerlich anpassen“ (Ethik, II).

Den Starken darf also nicht vorgeschrieben werden, immer und überall auf Alkohol zu verzichten. Denn so würden die Schwachen die Gebote Gottes neu schreiben und zu sehr die christliche Freiheit einengen. Die Starken müssen aber Rücksicht nehmen und je nach Situation auf ihr Freiheit zeitweise verzichten, damit der Schwache nicht zum Handeln gegen sein Gewissen getrieben wird.

Wird das Alkoholproblem „gelöst“?

In diesen Monaten wird in Litauen das „Alkoholproblem“ kontrovers und heftig diskutiert. Unterschriften für ein deutlich verschärftes Gesetz zur Alkoholkontrolle wurden gesammelt. Danach soll der Verkauf von Alkoholika stark eingeschränkt, die Werbung ganz verboten und auch der öffentliche Konsum streng reglementiert werden. Abstinenz-Anhänger geht es vor allem auch um den Schutz von Schülern und Minderjährigen. Auch Politiker wetteifern, wer der größere Verteidiger der Volksgesundheit ist.

Meist konzentriert sich dabei alle ganz auf die dunkle Seite des Alkohols, die viele Drogen eben auch haben; die Alkoholgegner sehen meist nur den Fluch, wollen von dem Segen rein gar nichts wissen. Dieses Doppelgesicht der psychoaktiven Substanzen darf aber nicht aus dem Blick verloren werden. Offensichtlich ist dies ja bei vielen Medikamenten, die oft ebenfalls ein hohes Abhängigkeitspotential haben, die aber wegen positiver Wirkung von uns genutzt werden.

In Maßen konsumierter Alkohol hat auch eine positive Wirkung und sollte daher nicht pauschal als Laster bezeichnet werden. Es sind Menschen, die unverantwortlich mit ihm umgehen. Genauso gut könnte man das Automobil ein Übel nennen, werden doch im Straßenverkehr weltweit pro Jahr Millionen getötet. Bei dem Verkehrsmittel wird der große positive Nutzen gesehen, der die negativen Begleiterscheinungen mehr als aufwiegt. Ob beim Alkohol jemand diesen positiven Nutzen sieht oder nicht, ist wiederum eine persönliche Entscheidung, die anderen kaum aufgezwungen werden kann.

Da Alkohol an sich also kein bloßes Übel ist, muss er nicht verboten werden und muss sich ein   Christ auch sich nicht unbedingt für möglichst scharfe Gesetze gegen Alkoholerwerb- und verbrauch einsetzen. In ethischer Hinsicht ist es eine Frage der Weisheit, d.h. des Abwägens der Folgen, welche Maßnahmen von staatlicher Seite sich hier als sinnvoll oder nicht erweisen können.

Hier fehlt es ironischerweise den radikalen Abstinenz-Anhängern an Nüchternheit im Hinblick auf die Möglichkeiten des staatlichen Handelns durch Verbote. Es ist äußerst fraglich, ob sich das Problem des Alkoholkonsums wirklich „lösen“ lässt. Historisch gesehen leben wir in Europa seit Jahrtausenden mit dem Alkohol, was es höchst wahrscheinlich macht, dass auch in Zukunft irgendeine Art des ‘Zusammenlebens’ mit der Droge geben wird. Und auch die recht strenge Politik in manchen skandinavischen Ländern, auf die als Vorbild gerne verwiesen wird, führt ja ganz und gar nicht zu alkoholfreien Ländern. Im weltweiten Maßstab liegt so gut wie ganz Europa an der Spitze des Alkoholverbrauchs. Die Unterschiede sind dort graduell, d.h. z.B. die Dänen konsumieren etwas weniger Alkohol als die Litauer. „Vielleicht kann es uns gelingen durch diese Maßnahmen den Verbrauch etwas zu verringern und die allerschlimmsten Auswüchse in Grenzen zu halten“ – so vorsichtig sollte man formulieren.

VINO E GIOVANI

„Vino e giovani“

Die radikalen Abstinenz-Anhänger provozieren mitunter nicht weniger radikale Gegenstimmen. In diese Debatte soll hier nicht eingegriffen werden. Festzuhalten bleibt, dass kulturelle Faktoren allgemein zu wenig beachtet werden. Wir gewöhnen uns in bestimmten Kulturen an bestimmte Drogen wie auch am Beispiel des Kaffees deutlich zu sehen ist. Recht lange wurde der „Türkentrank“ als gefährlich angesehen; heute hat er das Image der gefährlichen Droge gänzlich verloren. Umgekehrt hielt man den Tabak bis weit ins 20. Jahrhundert für weitgehend harmlos (weswegen auch C.S. Lewis oder Dietrich Bonhoeffer viel rauchten, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen); neue wissenschaftliche Erkenntnisse leiteten ein Umdenken ein.

In Litauen werden die heute Cannabisprodukte als todbringend betrachtet (wie auf dem großflächigen Plakaten mit dem Hanfblatt und dem „Ruhe in Frieden“-Buchstaben R.I.P.), was rein kulturell begründet ist: die Pflanze ist uns recht fremd, ein gesellschaftlich geachteter Konsum hat sich bisher nicht herausgebildet. Dabei ist Alkohol objektiv gesehen (s.o.) viel gefährlicher. Selbst in Schweden kann sich ein Erwachsener ohne Problem eine tödliche Dosis Schnaps besorgen. Mit Marihuana hat sich dagegen noch niemand zu Tode gekifft. Natürlich wäre es naiv, Cannabis auf einen Schlag zu legalisieren und z.B. wie Alkohol zu behandeln (der heute deutlich höhere Anteil des Wirkstoffs THC in Cannabisprodukten als noch vor Jahrzehnten führt zu vermehrten psychischen Nebenwirkungen bis hin zu Psychosen). Gesellschaften müssen Umgang mit psychoaktiven Substanzen – vom Kaffee über Alkohol und Tabak bis zu Medikamenten – lernen, was mitunter Jahrhunderte dauern kann. Dazu gehört natürlich unter Umständen neben der Gewöhnung an neue Produkte die Mäßigung von entartetem Konsum. Das Christentum hat hier insgesamt eher mäßigend gewirkt, so dass ausgiebige Trinkgelage wie das symposion der Griechen, später von den Römern übernommen, zwar sicher nicht verschwanden, aber keinesfalls mehr als Ideal galten.

Gott sei Dank können wir von anderen Kulturen lernen. Hier ist aber nicht nur an das schwedische Modell der strengen staatlichen Reglementierung zu denken. Sicher müssen die Erfahrungen der Nachbarn sorgfältig berücksichtigt werden. Paulius Jurkevičius weist aber in „Laikas užtarti vyno šviesolius“ (etwa: Die Zeit ist gekommen, den aufgeklärten Weingenuss zu verteidigen) auf das Beispiel Italiens hin – ein Land, das weltweit am meisten Wein produziert, aber im Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol in Europa weit hinten liegt. Jurkevičius befürchtet, dass die geplanten drakonischen Maßnahmen in Litauen kaum die Säufer treffen; er schlägt vor, „die noch junge und unsichere Gemeinde der Weinkultur zu verteidigen und zu pflegen“.

Er nennt zwei Gründe für den mäßigen Alkoholkonsum in Italien. Da ist zu einem das Trinken beim bzw. zum Essen. Wein wird in Italien und anderen Ländern des Südens stärker als Lebensmittel angesehen und weniger als Rauschmittel. Schon dies allein stärkt Tendenzen der Mäßigung.

Der zweite wichtige Faktor ist die Familie. „Dies ist die effektivste und kostengünstigste Institution der Alkoholprävention. 70 Prozent der Jugendlichen in Italien trinken den ersten Schluck Wein am Tisch, in Anwesenheit von Mutter und Vater. Das älteste Mitglied der Familie schenkt ein. Eine Umfrage der Italienischen Vereinigung für Jugendgesundheit zeigte, dass bei 40 Prozent der Befragten der erste Alkoholkonsum im Alter von etwa 10 Jahren lag, bei 38 Prozent sogar zwischen 6 und 10 Jahren. 26 Prozent derjenigen, die Wein zuerst in der Familie konsumiert hatten, wurden zu sehr selten Trinkenden, 57 Prozent zu gelegentlich Alkohol Konsumierenden, und nur etwa 17 Prozent von diesen hatten einen regelmäßigen und höheren Konsum. Bei denen, die ihre erste Begegnung mit Alkohol in der Gesellschaft von Freunden und Gleichaltrigen hatten, trinken 38 Prozent regelmäßigen oder häufig.“

Radikale Alkoholgegner wischen solche Zahlen gerne vom Tisch: nicht unsere Kultur. Ja sicher! Natürlich kann die italienische Kultur nicht eins zu eins in Litauen kopiert werden. Aber das Beispiel Italiens zeigt doch, dass das Vorbild der Eltern in der Familie ganz entscheidend ist. Eltern müssen einen verantworteten Konsum vorleben. Nur so lernen ihn die Kinder. Einer der Gründe, warum Alkohol so ein ernstes Problem in den postsowjetischen Ländern ist, ist die Schwäche der Familie als Institution. Daher greifen allein staatliche Verbote viel zu kurz und werden kein Problem „lösen“.

Jurkevičius, der seit Jahren in Italien lebt, berichtet, wie „mich vor einer Weile das Nationale Weininstitut Italiens ‘Enoteca Italiana’ einlud, bei einer Weinolympiade Jugendlicher in der Wertungskommission mitzuarbeiten. Über dem Tisch, an dem die Weinproben verkostet wurden, hing ein Plakat mit Aufschrift ‘Vino e giovani’ (ital. Wein und Jugend). Der Sponsor der Veranstaltung war das italienische Landwirtschaftsministerium.“ Sicher ist so etwas in Litauen bisher noch kaum denkbar. Aber warum sollten wir unsere Kreativität immer nur in der Schaffung von noch strengeren Gesetzen austoben lassen und nicht auch einmal in der Pflege eine neuen Kultur des gesunden Alkoholkonsums?