Evangelische rücken zusammen

Evangelische rücken zusammen

Pünktlich zur Buchmesse in Vilnius Ende Februar erschien ein einzigartiges Werk: Dvidešimt penkeri religinės laisvės metai 1988–2013 (25 Jahre Religionsfreiheit 1988–2013). In zwei Bänden mit insg. etwa 1500 Seiten gibt der Literaturwissenschaftler und katholische Journalist Paulius Subačius einen genauen Überblick der Kirchengeschichte Litauens der letzten Jahrzehnte. 1988 ist als Beginn gewählt, da knapp zwei Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung des baltischen Staates die Zügel des atheistischen Sowjetregimes sich zu lockern begannen; schon 88/89 konnten einzelne Gemeinden und christliche Werke (neu)gegründet werden, wurden erste Kirchengebäude zurückgegeben, begannen Christen in der Öffentlichkeit wieder stärker in Erscheinung zu treten.

Subačius lässt kaum etwas unerwähnt, auch im Bereich der nichtkatholischen Kirchen. Mit viel Sympathie schildert er z.B. die Geschichte der „LCC International University“, die 1991 als „Christian College“ in Panevėžys begann, dort aber am Widerstand in der katholischen Bevölkerung scheiterte. Das vor allem von Mennoniten geförderte Projekt musste nach Klaipėda umziehen, wo die Stadtregierung weitsichtiger war und nun ein großer Campus das Stadtbild bereichert.

1988-2013

Auch weitere protestantische Initiativen werden vom Autor positiv herausgehoben wie das Journal „Prizmė“, an dem wir selbst 1995–2001 intensiv mitgearbeitet haben. Subačius nennt die Arbeit der „Christlichen Fonds“ in Šiauliai/Ginkūnai, aus dem u.a. das „Evangelische Bibelinstitut“ (EBI) hervorgegangen ist. Er schildert recht ausführlich die Arbeit der Bibelgesellschaft, nennt auch die Litauische Studentenmission (LKSB) oder das „Gute-Nachricht-Zentrum“ (Gerosios Naujienos centras, GNC), das christliches Radio macht in den Medien aktiv ist.

Die wohlwollende Haltung gegenüber evangelischen Kirchen und Werken ist in den beiden Büchern deutlich erkennbar. Jeweils kürzere Kapitel sind der lutherischen und der refomierten Kirchen gewidmet; näher geht Subačius auch auf den Wirbel um die „Sektengefahr“ in den vergangenen Jahrzehnten ein. Wegen der Kontroversen um die charismatischen „Wort-des-Glaubens-“Kirchen wird auch deren Geschichte in einem Abriss dargestellt.

Dennoch dominiert in Dvidešimt penkeri religinės laisvės metai natürlich die Geschichte der Kirche in Land, der römisch-katholischen. Nicht zufällig zieren auch die beiden Erzbischöfe aus Kaunas und Vilnius, Tamkevičius und Bačkis, das Titelblatt; sie waren über die fast gesamt Zeit des behandelten Zeitraums in ihren Ämtern und prägten tatsächlich die jüngere Kirchengeschichte Litauens.

Evangelische Christen werden im Buch sehr fair behandelt, und Subačius spart auch nicht mit Kritik an einzelnen Erscheinungen und Personen in der eigenen Konfession. Jeder Leser erkennt aber auch: die Evangelischen sind eine kleine Minderheit von etwa einem Prozent. Mit fast 80% Anhängerschaft in der Bevölkerung ist die Kirche Roms immer noch die mit großem Abstand stärkste religiöse Institution und Kraft in Litauen.

Die ökumenische Haltung des Autors durchzieht das ganze Buch. Auch die katholischen Hierarchen des Landes äußern sich allermeist positiv zu den ‘Konkurrenten’ im evangelischen Lager. Auf organisatorischer Ebene sind Einigungsbemühungen jedoch weitgehend gescheitert. Subačius zeichnet die kurze Geschichte des Ökumenischen Kirchenrates in Litauen nach, der über Anfänge 1995/96 nicht hinaus kam. Auf protestantischer Seite wird zwar nun die Gründung einer Evangelischen Allianz vorbereitet, doch bisher ist die Einheit dort über Zusammenarbeit in einzelnen Projekten und Werken kaum hinausgekommen.

Sehr positiv bewertet Subačius die große Nähe zwischen römischer und lutherischer Kirche. Tatsächlich verfolgt letztere unter Bischof Sabutis seit 2004 offensichtlich die Politik eines bewussten Schmusekurses mit der dominanten Religionsgemeinschaft. Wo es nur geht wird an katholischen Veranstaltungen teilgenommen (die dann schon mal das Etikett „ökumenisch“ erhalten) und sogar der Wert des katholischen Religionsunterrichts in den Schulen betont, zu dem auch der Bischof seine Kinder bewusst schickt. Das Anschmiegen an die katholische Kirche geht bis ins Äußere (der luth. Bischof seit Kalvanas Jr. mit Stab, Ring, Mitra) und die Anrede (der Bischof ist seit einer Weile „seine Exzellenz“).

Die lutherische Kirche Litauens droht, so ist aus evangelischer Sicht leider festzustellen, zu einem Anhängsel der katholischen zu werden. So wundert es auch nicht, dass der reformierten Kirche der alte Partner, die lutherische, langsam abhandenkommt. Beide Kirchen stehen historisch in Polen-Litauen seit dem Konsens von Sandomir 1570 in Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft, anerkennen gegenseitig Konfirmationen und Ordinationen. (So konnte der lutherisch konfirmierte Autor dieser Zeilen direkt in die reformierte Kirche aufgenommen werden.)

Die lutherische Kirche befindet sich nach Aussagen ihres Bischofs in einem guten und stabilen Zustand, wenn natürlich auch Herausforderungen gesehen werden. Tomas Šernas, der Generalsuperintendent der deutlich kleineren reformierten Kirche, bezeichnet seine Kirche dagegen unverblümt als krank. Sie kann im nächsten Jahr auf 460 Jahre Geschichte zurückblicken, ringt aber ums Überleben. Seit einigen Jahren ist so manchem Verantwortlichen in der Kirchenleitung klar: Wir müssen von anderen lernen und zusammenarbeiten, wo es nur geht. Sonst wird kaum jemand 500 Jahre feiern.

In ganz andere Weise ist die „Wort-des-Glaubens-“ Kirche (Bažnyčia „Tikėjimo Žodis“) gebeutelt. Das anfängliche explosionsartige Wachstum der Kirche führte zu viel Überheblichkeit bei den Leitern. In den 90er Jahren fuhr die Kirche einen straff antiökumenischen Kurs. In diesen Jahren erarbeitete man sich das Etikett der bösen und gefährlichen Sekte, das man heute kaum losbekommt.

In den vergangenen fünfzehn Jahren hat die Kirche sich von der sektiererischen „Glaubens-Bewegung“ ganz gelöst und mehr und mehr reformatorische Lehre aufgenommen. Nach dem Rauswurf des langjährigen Leiters Giedrius Saulytis vor einigen Jahren wegen einer außerehelichen Beziehung geht die Kirche auch nach und nach von einem autoritären zu einem synodalen Leitungsmodell über, hat nun z.B. eine Doppelspitze (Hauptpastor und Vorstandsleiter). Der reformiert geprägte New City Catechism in der litauischen Übersetzung ist Teil der offiziellen Glaubensgrundlage. Jüngst gaben reformierte Kirche und „Wort-des-Glaubens“ gemeinsam das Westminster-Bekenntnis heraus – der Bekenntnistext der Presbyterianer in aller Welt. Manche der „Wort-des-Glaubens“-Gemeinde haben sich inzwischen unbenannt in „Evangelische Gemeinde“.

Beide Kirchen sehen ihre Schwächen und kooperieren daher gerne mit der anderen. Nun, nach Zusammenarbeit in Projekten wie auch dem Evangelischen Bibelinstitut (beide Kirchen gehören zu den Trägern), rücken sie noch enger zusammen.

Am 1. April trafen sich in Panevėžys jeweils vier offiziell delegierte Vertreter der beiden Kirchen zu einer Konsultation über eine nähere Zusammenarbeit. Hauptpastor Gabrielius Lukosius und Vorstandsleiter der „Wort-des-Glaubens“-Gemeinden Ramunas Jukna (Pastor in Panevėžys) waren dabei; von reformierter Seite die Pfarrer Šernas aus Vilnius und Mikalauskas aus Biržai, außerdem die Kuratoren (Laien) Puodžiūnas (Präsident des Konsistoriums) und Holger Lahayne. Bis in den späten Nachmittag tauschte man sich offen und herzlich über die Perspektiven eines gemeinsamen Handelns aus.

Vereinbart wurde, dass man mit einer gemeinsamen theologischen Grundlage beginnt: Šernas wird eine von Lahayne gelieferte Skizze über drei Eckpunkte (Schriftverständnis, Evangelium, Ethik) ausarbeiten. Die Gremien beider Kirchen werden, so Gott will, noch im Frühjahr dieses Dokument diskutieren und womöglich verabschieden.

In einem zweiten Schritt kann dann eine weitere Vereinbarung über konkretere Kirchengemeinschaft erfolgen: Abendmahlsgemeinschaft, Behandlung der Tauffrage, Anerkennung der Ämter, konkrete Kooperationsfelder. Angedacht ist z.B., dass „Wort-des-Glaubens“-Pastoren im Namen der reformierten Kirche Religionsunterricht erteilen oder als Kaplan des Militärs dienen. Denn die reformierte Kirche ist als „traditionelle“ Religionsgemeinschaft in gewisser Weise privilegiert, hat Abkommen mit dem Verteidigungs- und Gesundheitsministerium über Seelsorge in den entsprechenden Bereichen. Ihr fehlt aber Personal, das die „Wort-des-Glaubens“-Kirche in größere Zahl zu bieten hat. Hier können sich evangelische Kirchen gegenseitig ergänzen.

Natürlich bleiben recht große Unterschiede zwischen den Kirchen. Vieles ist allein schon durch den Altersunterschied bedingt – 459 und 28 Jahre. Dies spiegelt sich z.B. im Liedgut wieder, wo der kulturelle Kontrast recht groß ist. Viele in der reformierten Kirchen können sich (noch) nicht vorstellen, dass ein Pastor von „Wort-des-Glaubens“ irgendwelche Amtshandlungen durchführen könnte. In der jungen Kirchen dagegen wollen viele nicht von reformierter Theologie überrollt werden und ihr pfingstlerisch-charismatisches Erbe bewahren.

Die Mitglieder in den beiden Kirchen müssen auf dem Weg zu intensiverer Kooperation mitgenommen und ihre Ängste ernst genommen werden. Für Enthusiasmus ist es daher zu früh. Aber es kann dennoch von einem historischen Treffen am 1. April gesprochen werden. Denn wohl noch nie trafen sich in Litauen – nach Sandomir – offizielle Delegationen von einheimischen evangelischen Kirchen, um konkret über eine Kirchengemeinschaft zu verhandeln.