„Ist die Bibel Gottes Wort?“

„Ist die Bibel Gottes Wort?“

Ein ausführlicher Nachtrag zum letzten Post:

Es muss Mitte der 80er Jahre gewesen sein. Unser lutherischer Pastor, geprägt von der Geistlichen Gemeindeerneuerung in Hamburg, wollte die Jugendarbeit auf stabile Füße stellen und gab den aktiven Jugendlichen eine Einführung in die Bibelauslegung. In einem ersten Teil ging es ihm um eine wichtige Unterscheidung: Bibel und Gottes Wort müssen auseinander gehalten werden, und zwar in dem Sinne, dass nicht alles in der Bibel Gottes Wort ist. Seine Darstellung machte für mich wenig Sinn, und sicher nicht nur deshalb, weil ich in Familie und EC anderes zu hören bekommen hatte. Von einem Freund, der sich schon aufs Theologiestudium vorbereitete, wusste ich Ungefähres von der „historisch-kritischen Methode“, und selbst Namen wie „Semler“ oder „Wellhausen“ hatte er mir wohl gesteckt. In jugendlicher Unbekümmertheit widersprach ich dem Pastor, der mich konfirmiert hatte. Mir schien, dass sehr Wichtiges auf dem Spiel stand. Gewiss konnte ich den Theologen nicht überzeugen – aber er umgekehrt auch nicht. Die Diskussion blieb bald stecken, und irgendwie war der Abend gelaufen. Seitdem ist mir klar: Die Frage nach dem Wesen der Bibel hat Konfliktpotential, aber dies sind Konflikte, die nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfen.

Insofern ist es zu begrüßen, dass Wilfried Härle in einem „Worthaus“-Vortrag „Ist die Bibel Gottes Wort?“ zur Sache kam. Der aus Schwaben stammende Theologe, der zuletzt Professor für Dogmatik und Ethik in Heidelberg war, zitiert ebenfalls Luthers Assertio omnium articulorum (mehr dazu s. „Solo oder Sola Scriptura?“). Er bekräftigt eingangs, dass die Bibel Zeugenaussagen von Menschen enthält und wir heute manchmal genötigt seien, zu einzelnen Passagen in ihr nein zu sagen. Zum Beispiel müsse der Aussage in Hbr 6,4 über den Glaubensabfall klar widersprochen werden. Er sagt den Zuhörern jedoch nicht, dass dieser Vers zu denjenigen im NT gehört, die mit am schwierigsten zu deuten sind. Warum soll dann die Ablehnung so klar auf der Hand liegen? Vielleicht ist die Interpretation des Verses falsch? Vielleicht wollte der Autor etwas sagen, was gar nicht so schrecklich ist? Und vielleicht sollten wir besser nach solchen Deutungen suchen, die nicht im Widerspruch zu anderen Texten der Bibel stehen?

Härle zitiert außerdem Jesu Worte in Mk 7,15f über Reinheit und Unreinheit und betont den großen Kontrast in dieser Frage zum AT, das ja zahlreiche Reinheitsvorschriften kannte. Hier stehen wir „vor einer ganz klaren Entscheidungssituation“. Härle weiter: „Wer sagt ‘Für mich ist die ganze Bibel Gottes Wort, das ist alles für mich verpflichtend, und danach versuche ich zu leben’, dann müsste man sagen: Schau doch bloß in deinen Kleiderschrank…“ Er spielt hier auf die Vorgaben des ATs zum Stoff und zur Herstellung der Kleidung an, die wir heute sicher nicht mehr befolgen.

Dies Argument ist allerdings völlig unzureichend. Aus dem Fortschritt der Offenbarung von Israel zur Kirche, also aus unterschiedlichen Bundesregeln, folgt doch noch lange nicht, dass Gebote, die uns direkt nicht mehr gelten, nicht mehr Gottes Wort sind bzw. waren! Dass es einzelne Christen gibt, die die Bibel so plump sehen wie Härle wiedergibt, besagt ja noch gar nichts. Sie deuten die Bibel einfach schlecht. Niemand unter den ernsthaften Theologen ist bis zur modernen Bibelkritik auf den Gedanken gekommen, den Härle hier den theologischen Konservativeren unterschieben will.

Härle zitiert viel Luther und stützt sich natürlich auf die sog. „christozentrische Bibelkritik“ des Reformators. Dabei erwähnt er nicht, dass Luther die Bibel selbst und an sich als Gottes Wort ansah. In der Assertio ist der große Gegensatz ja zwischen den auch „göttlichen“ Schriften der Bibel und den nur „menschlichen“ Schriften der Theologen. Für Luther ist nicht nur der Inhalt der Bibel göttlichen Ursprungs, auch die Worte selbst sind göttlich. Und auch das auch von Härle genannte Auslegungsprinzip Luthers (die Schrift interpretiert sich selbst) wird ja von diesem dadurch begründet, dass der Hl. Geist, also Gott, ausdrücklich Autor der Schrift ist.

Die Bibel habe „keine uneingeschränkte Autorität“, so der „Luther-Fan“ Härle. War das wirklich die Sicht der Reformation? Von dem großen „Bruch zwischen Bruch zwischen Alt- und Neuprotestantismus“ (H.G. Pöhlmann in Abriß der Dogmatik) in der Sicht der Bibel wird bei Härle nichts erkennbar. Es wird einmal wieder so getan, als ob eine gerade Linie von der Reformation zur Universitätstheologie führe.

Erst ganz am Schluss beantwortet Härle die Frage des Vortrags. „Die Bibel ist durch ihren Inhalt Gottes Wort, indem sie Jesus Christus als das Menschgewordene Wort Gottes bezeugt. Indem sie das tut, wird sie und ist sie Wort Gottes.“ Die Bibel sei also im Kern funktionell Gottes Wort. Die Autorität der Bibel sei darin begründet, dass sie die Kraft hat, Glauben zu wecken und Hoffnung zu geben (ähnlich übrigens auch Christian A. Schwarz in Die dritte Reformation, Teil 2, Kap. 2). All dies erinnert an die Aussagen, die Bullinger im Zweiten Helveticum zur Gemeindepredigt macht, die insofern auch Gottes Wort ist, als sie das Wort Gottes recht auslegt und zum Glauben führt und ihn wachsen lässt. Gott nutzt dieses Instrument, um Glauben zu wecken. An sich sind die Worte menschlicher Prediger aber sicher nicht Gottes Wort. Die Predigt bezieht sich zurück auf das göttliche Wort, das seine Autorität wesensmäßig auch, aber nicht nur von seiner Funktion herleitet. Es stimmt ja beides: Weil die Bibel den Glauben wirkt, hat sie Autorität. Aber andersherum gilt genauso – und davon sagt Härle kein Wort: Weil das Wort an sich Gott zum Autor hat, kann es überhaupt so wirken. Weil Gott sich in seinem Wort durch menschliche Zeugen bezeugt, wirkt das Wort der Bibel.

Härle beantwortet die Frage, was die Schrift ist mit dem, was sie tut. Das ist natürlich nicht völlig abwegig, im Gegenteil. Auch in anderen Lebenszusammenhängen können wir ja von Funktionen und Wirkungen auf das Wesen von Dingen schließen. Allerdings muss man mit Schlüssen daraus vorsichtig sein. Wenn nun apokryphe oder esoterische oder alle möglichen anderen religiösen Schriften ‘wirken’ und es in ihnen dabei sogar um Jesus geht – sind sie dann auch Gottes Wort? Oder werden sie zu Gottes Wort? Daher ist eben auch nötig, die göttliche Natur, die Inspiration und die Autorenschaft Gottes ins Spiel zu bringen. Ist Gott in einem wahren Sinne Autor oder Urheber der ganzen Schrift? Ich kann nicht erkennen, dass Härle und andere bei „Worthaus“ dies in irgendeiner Weise unterstützen.

„Darüber solltet ihr mal nachdenken“

Auch „Worthaus“-Gründer Siegfried Zimmer berührte dies Thema in seinem Vortrag „Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann“. Eingangs skizziert er, worin sich alle Christen im Hinblick auf die Bibel einig sind. Anschließend kommt er zu dem Punkt, an dem die Wege in der Christenheit auseinandergehen: „Folgt aus der Wirkungseinheit zwischen Gott und der Bibel, dass die Bibel selbst göttliche Eigenschaften hat?“ Der eine Teil der Christenheit, so Zimmer, sagt dazu ja, der andere nein. „Das ist die entscheidende Frage.“ Hat die Bibel absolute Autorität? Ist die Bibel vollkommen? „Hat die Bibel Anteil an Gottes Absolutheit und Vollkommenheit?“ Ein Teil in allen Kirchen sagt, so Zimmer, fest nein dazu. Die dazu ja sagen, hätten „ein fundamentalistische Bibelverständnis“ wie es laut Zimmer an den Universitäten heißt.

Zimmer

Die Bejahung der obigen Frage sei der „Grundbaustein“ des fundamentalistischen Bibelverständnisses, das Zimmer aber als Irrtum bezeichnet. Er wolle „lieb, fair und klar“ dagegen angehen, denn man tue der Bibel damit keinen Dienst, ja „der Christenheit einen Bärendienst“. Dies Verständnis sei eine „schwere Belastung für die Christenheit“ und hätte zu vielen Spaltungen geführt.

Zimmer spart nicht mit Seitenhieben auf namentlich nicht genannte Lehrende und Autoren im evangelikalen (oder fundamentalistischen) Lager. Sie wüssten manchmal nicht einmal das ABC der Theologie. Zimmer sollte jedoch etwas vorsichtiger im Urteil sein. Denn man betrachte nur die Logik seiner so entscheidenden Eingangsfrage. Aus der Wirkungseinheit zwischen Gott und der Bibel folge nicht, dass die Bibel selbst göttliche Eigenschaften hat, so umformuliert Zimmers These. Und hier kann man nur sagen: Richtig, es folgt nicht daraus! Allein aus der Tatsache, dass Gott die Bibel nutzt und durch sie wirkt, folgt tatsächlich nicht, dass sie göttliche Eigenschaften hat (ähnliches gilt ja für die Predigt, s.o.). Formal ausgedrückt: aus A folgt nicht B. Damit ist aber noch nichts gesagt über die Falschheit von B! Dass B aus irgendetwas nicht folgt, beweist rein logisch noch gar nichts. Es ließe sich noch vieles nennen, aus dem ebenfalls nicht B folgt. Und es lässt sich ja immer noch etwas anderes denken, das schlüssig, kausal oder logisch dazu führt. Vielleicht folgen die göttlichen Eigenschaften ja aus anderen Lehren bzw. Tatsachen? Zum Beispiel aus der Inspiration der Schrift?

Zimmer hat also den Gegensatz falsch, nämlich unterschwellig zu seinen Gunsten formuliert. Die entscheidende Frage ist, ob die Bibel göttliche Eigenschaften hat oder ob sie diese nicht hat. Und dafür sind Gründe vorzubringen, und zwar eigenständig von jeder Seite. Mit der zweiten Hauptfrage („Hat die Bibel Anteil an Gottes Absolutheit und Vollkommenheit?“) geht er dann in die richtige Richtung.  Problematisch bleibt aber die erste, in der ich die richtige Alternative nicht wiederfinden kann.

Anschließend betont Zimmer: Die Bibel ist ein Medium, ein Werkzeug, und „göttlich ist nur Gott“. Würde man der Bibel göttliche Eigenschaften zusprechen, wäre dies Verrat an der Einzigartigkeit Gottes. „Die Bibel gehört in den Bereich der Schöpfung.“ (Dieses Denken ist weit verbreitet und beansprucht meist Selbstverständlichkeit. So gibt ein Nachwuchstheologe aus Freiburg auf seinem „postkonfessionellen Blog“ zu bedenken, „dass wir Gottes Wesen nicht maßgeblich in der Bibel offenbart sehen – ein Buch, egal wie dick es auch ist, als Offenbarung eines unendlichen und unergründlichen Gottes ist eine absurde Vorstellung.“)

Dies Argument muss allein schon deshalb scheitern, weil in Jesus Christus auf Erden Göttliches und Menschliches in einer Person zu finden waren. Die Analogie von Christus und Hl. Schrift wurde und wird von vielen Theologen ins Feld geführt, um das Wesen der Bibel zu erhellen. Sie zeigt klar, dass etwas im Bereich der Schöpfung durchaus göttliche Eigenschaften haben kann. Wenn „das Wort“, der Logos, Fleisch werden kann, warum soll sich dann nicht auch das Reden Gottes in niedergeschriebenen Worten ‘verkörpern’ können?

Gottes Reden ist sicher als göttlich zu bezeichnen. Es hat Gottes Eigenschaften. Wenn Gott nun in natürlichen Worten menschlicher Sprachen mit seinen Geschöpfen redet, dann benutzt er in jedem Fall Mittel. Dies gilt selbst für die akustisch hörbaren Worte Gottes „vom Himmel“. Denn auch dann gebraucht Gott Mittel der geschaffenen Welt wie Grammatik und Schallwellen. Gott gebraucht verschiedenste Mittel, aber in der Schöpfung ist sein Reden immer geschöpflich vermittelt. Der inkarnierte Gottessohn, das leibhaftige Wort, war eben auch ein Teil der Schöpfung. Warum sollte daher schriftlich vermitteltes Reden kein göttliches Reden sein? Vom medialen Charakter der Bibel ist also nicht auf ihre Nichtgöttlichkeit zu schließen.

Etwas später zeigt sich, dass Zimmer eine grundlegende Skepsis gegenüber dem geschriebenen Wort hat. Nur das mündliche Wort, so der Theologe, „geschieht“ oder ereignet sich, „das schriftliche Wort ist schon Dokument“. Letzteres könne man besitzen, festhalten, darüber herrschen; das mündliche Wort dagegen bleibt fremd, man kann es nicht besitzen. Gott wohne daher bevorzugt im mündlichen Wort. Auch Jesus habe ja alles mündlich gesagt. Und einen „Verschriftlichungsauftrag“ hat es nicht gegeben. „Darüber solltet ihr mal nachdenken.“

Nun gibt es tatsächlich einige wenige Äußerungen Luthers, in denen dieser die „lebendige Stimme“ Gottes stark heraushebt. Man beachte jedoch, dass er und die Evangelischen damals in der Auseinandersetzung mit manchen Täufern und Spiritualisten eine Abwertung des geschriebenen Wortes an sich mit aller Vehemenz bekämpft haben. Was Zimmer hier schildert, sind Gedanken, die auf die dialektische oder neo-orthodoxe Theologie des letzten Jahrhunderts zurückgehen; vor allem Emil Brunner ist hier zu nennen. Einen biblischen Beleg für die Verachtung des Schriftlichen bleibt Zimmer schuldig. Dass Jesus selbst keine Schriften hinterließ und kein direkter Schreibbefehl überliefert ist, besagt an sich noch so gut wie gar nichts.  John Frame listet in seinem The Doctrine of the Word of God ausführlich den vielfältigen Nutzen des geschriebenen Wortes auf.

Und zu den Gefahren, die Zimmer nennt, ist nur dies zu sagen: Jede Art der Offenbarung und des Redens Gottes kann von Menschen missachtet, verzerrt und missbraucht werden, auch „mündliches Wort“. Jede Art des Redens hat ihren Zweck, und diese Arten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt und als an sich irgendwie besser oder schlechter bezeichnet werden. Das Zusammenspiel von mündlich und schriftlich wird in den protestantischen Bekenntnisschriften viel besser gefasst, als bei Zimmer hier.

„Futzellehre“

Anschließend setzt sich Zimmer mit der Verbalinspiration auseinander, wonach die Autoren der Bibel bis in die Wahl der Worte vom Hl. Geist geleitet wurden. Daher sehen die Anhänger des fundamentalistischen Bibelverständnisses Gott als den eigentlichen Autor an.

Zimmer zu seiner eigenen Position: Er selbst setzt die Inspiration voraus, habe aber keine Inspirationslehre. „Die Inspirationslehren beginnen im 17., 18. Jahrhundert. Vorher gibt es keine.“ Die Reformatoren, Thomas von Aquin, die Kirchenväter, auch die Bibel – alle hätte sie keine Inspirationslehre gekannt. Sie sei dem Neuen Testament „wesensfremd“.  Die Urchristenheit hatte keine Interesse für so eine „Futzellehre“, hinter der Angst und Sorge und nicht einfaches Vertrauen auf die Kraft der Bibel stehen. In diesem Zusammenhang bekräftigt Zimmer sogar, Gott sei der Autor der Bibel. Man könne aber nicht sagen, Gott sei der „eigentliche Autor“.

Was Zimmer hier macht, ist an Frechheit kaum zu überbieten. Wieder gilt: Diffamierung ist kein Argument. Er will die Inspiration nicht leugnen, wischt aber die Inspirationslehren vom Tisch. Da die uneingeschränkte Autorität wesentlich auf der Inspiration gründet, ist dies natürlich kein Zufall. Hat es nun Lenkung der biblischen Autoren durch Gott gegeben oder nicht? Ist sie biblisch zu begründen oder nicht? Wie ist es denn zu verstehen, dass Gott der Autor der Schrift ist? In welcher Weise ist er das? Wie verhält sich seine Autorenschaft zu der der Menschen? Wer sich darüber Gedanken macht und die göttlichen Autorenschaft nicht rundheraus leugnet, der landet bei verschiedenen Formen der Inspirationslehre.

Außerdem ist es natürlich völliger Unsinn zu behaupten, diese sei ganz eine Erfindung der frühen Moderne. Zimmer hat die Verbalinspiration der protestantischen Orthodoxie im Blick, die ihm natürlich völlig gegen den Strich geht. Aber selbst für diese gilt keineswegs, dass man das Geheimnis des Charakters der Schrift lösen wollte. Ja, die Theologen haben die Inspiration damals intensiv durchdacht, und sie mögen auch in dem einen oder anderen Punkt geirrt haben. Zimmer setzt eine gar zu simple ‘Lehre’ dagegen: Es ist ein Wunder, dass die Bibel erreicht, was sie will. Punkt. Ist das nicht ein enges Denkverbot? Und ist das nicht Diffamierung in frommem Gewand?

Eckhard Schnabel hat völlig Recht: „Die heutige protestantische Theologie hat ein gebrochenes Verhältnis zur Zeit der Orthodoxie.“ Diese ist der große Buhmann, aber Luther sieht man gerne auf seiner Seite. Wo soll aber der große Bruch zwischen Luther und Gerhard, Chemnitz, Quenstedt und Calov sein? Noch einmal Schnabel: „Der angenommene Widerspruch zwischen Luther und den Dogmatikern der Orthodoxie im Blick auf das Schriftverständnis ist eine Konstruktion. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Terminologien sich ändern, die Formulierungen ausgeprägter sind und die Argumente länger werden.“ (Inspiration und Offenbarung; Zimmer hält die Tatsache, dass gr. theopneustos [von Gott eingehaucht] nur in 2 Tim 3,16 vorkommt, für sehr bedeutsam; dazu und allg. zur Inspiration gut Armin Baum in diesem Interview; auf mehrglauben.de heißt es sehr richtig: „Die Verbalinspiration ist das älteste Modell [der Vorstellung von Inspiration]“, Origenes, Augustinus und Calvin werden als Vertreter genannt.)

Von langen Argumenten kann hier bei Zimmer keinerlei Rede sein. Es ist schon vielsagend, was er seinen Zuhörern zumutet: Die Bibel hat eine Grammatik, ist mit irdischem Vokabular verfasst, aber „im Jenseits redet man doch nicht so“. „Die Bibel ist entstanden. Gott ist nicht entstanden.“ „Ein inspirierter Mensch bleibt ein Mensch“, und ein inspiriertes irdisches Buch bleibt ein irdisches Buch. „Die Bibel ist ein sichtbarer Gegenstand“, Gott ist aber unsichtbar; die Bibel haben wir zur Hand, Gott nicht. Das sei ein „fundamentaler“, ein „kategorialer Unterschied“.

Sollen das die Argumente der „modernen Bibelwissenschaft“ sein, um die Nichtgöttlichkeit der Bibel zu beweisen? Man will es nicht fassen und immer fragen: na und? Kommt da noch etwas Intelligenteres? Zimmers Argument reduziert sich auf die banale Aussage: Gottes Reden in der Welt ist von Gott selbst zu unterscheiden. Und was haben wir damit an Erkenntnis gewonnen? Die klare Unterscheidung von Schöpfer und Schöpfung, an die Zimmer hier anspielt, ist fundamental christlich und wird bekanntlich von den Reformierten besonders hochgehalten. Was Zimmer hier jedoch präsentiert, ist eine Art Deismus (oder Idealismus): Gott wird gleichsam im Himmel eingeschlossen. Dagegen ist festzuhalten: Gott und sein Reden können unterschieden, dürfen aber nicht getrennt werden. Wenn Gott in Zeit und Raum redet, wenn er gleichsam seinen Mund aufmacht, dann gebraucht er, wie schon gesagt, irdische Mittel, irdische Grammatik, manchmal Menschen. Dann ist dies Reden göttliches Reden und spiegelt auf verschiedene Weise göttliche Eigenschaften wider und ist in diesem Sinne göttlich.

Außerdem fragt man sich, was das Ganze mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis zu tun haben soll. Der historische Fundamentalismus vor einhundert Jahren verteidigte die Verbalinspiration, das ist wohl wahr. Das macht sie aber noch nicht zu einem echten Kennzeichen dieses Bibelverständnisses. Waren die Vertreter der lutherischen Orthodoxie Fundamentalisten? Zimmer weiß doch nur zu genau, dass verschiedene Versionen der Verbalinspiration der Standard in der Theologiegeschichte waren (dass nur die Autoren oder nur die Sachinhalte inspiriert gewesen seien, sind ja recht junge Ansätze). An dieser entscheidenden Stelle enttäuscht Zimmer auf ganzer Linie!

„Das tut richtig weh“

Als viertes Kennzeichen des fundamentalistischen Bibelverständnisses nennt Zimmer dies: Wie Gott hat auch die Bibel absolute Autorität; ihre Autorität ist Gottes Autorität; was die Bibel sagt, sagt Gott. Damit ergeben sich zwei Autoritätsebenen: Gott und die Bibel auf der einen, menschliche Lehren und Dokumente auf der anderen. Zimmer spricht dagegen von drei Autoritätsebenen: zuoberst die Autorität Gottes, darunter die der Heiligen Schrift, und darunter die der Kirche und ihrer Lehren. Die Bibel, so Zimmer, „ist die oberste irdische Autorität“; sie hat nicht die gleiche Autorität wie Gott. Von der Vollkommenheit eines unsichtbaren Wesens könne man doch nicht auf die Vollkommenheit eines sichtbaren Gegenstandes schließen.

Hinter dem Glauben an die absolute Autorität der Bibel steckt für Zimmer die Angst vor Fehlern. Er betont die Wichtigkeit von Fehlern in menschlichen Texten und beklagt die „unsinnige, ängstliche, kleinkarierte Verquickung von Wahrheit mit Fehlerlosigkeit“. Die Bibel enthalte „hunderte Fehler“ in „relativ unwichtigen Dingen“. Zimmer hält gar nichts von Formulierungen wie „unser Glaube an die Heilige Schrift“; wenn ein evangelikaler Seminardozenten so etwas schreibt, dann habe er von seinem Fach ja wohl keine Ahnung. Solche Sätze tun ihm richtig weh. Zimmer tut alles, um die Bibel von Gott wegzurücken. Die Bibel komme ja auch nicht im Apostolischen Glaubensbekenntnis vor; wir haben ja keine Viereinigkeit!

Die Unterscheidung von drei – und nicht zwei – Autoritätsebenen ist ein Grundpfeiler in Zimmers Lehre und findet sich auch in älteren Texten aus seiner Feder. Er beruft sich offensichtlich auf Luthers „Bibelkritik“. Jesus sei in einem „tieferen Sinn“ Gottes Wort als die Bibel und Herr über das Wort Gottes. Zimmer begründet seinen Ansatz nicht ausführlich, hat aber wohl Sätze wie diese aus Luthers Thesen de fide (1535) im Blick: „Wenn aber die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so treiben wir Christus gegen die Schrift“. Kann aufgrund von solchen Sätzen schon von unterschiedlichen Autoritätsebenen geredet werden? Peter Stuhlmacher erinnert daran, dass diese steilen Aussagen des Reformators „im Blick auf den humanistischen Skeptizismus des Erasmus und den regellosen Auslegungsstil der Schwärmer“ formuliert wurden (Vom Verstehen des Neuen Testaments).

Gerhard Maier betont in Biblische Hermeneutik, dass die Autorität der Bibel aus der Offenbarung begründet werden muss. Auch er schreibt: „Die Autorität Jesu als des lebendigen Gottessohnes ist eine höhere als die der Schrift.“ Aber er meint damit nicht dasselbe wie Zimmer. Maier weiter: „Insofern ist es christologisch begründet, dass wir die Fülle erst im Neuen Testament sehen und das Alte im Licht des Neuen lesen. Und dennoch gilt: gerade dieser Messias und Gottessohn bezeugt die Verlässlichkeit der Schrift und gibt uns diese Schrift, um uns an ihr zu orientieren… Der lebendige Christus hat sich wie der Vater an das Wort der Offenbarung gebunden… Jesu Praxis und Lehre erlaubt es uns nicht, die Schrift und Christus als einen Gegensatz aufzufassen.“

An dieser Stelle müsste natürlich ausführlich das Verhältnis von Jesus zur Schrift untersucht werden (der Klassiker dazu ist immer noch John Wenhams Christ and the Bible). Das Bild ist klar: Christus ist die Erfüllung und der Zielpunkt der alttestamentlichen Schriften und steht insofern ‘über’ ihnen. Die ganze schriftliche Offenbarung hat ihn als Zentrum, sie treibt auf ihn hin, und so ist ja auch Luthers „was Christum treibet“ zu verstehen. Es ist ein schriftimmanentes Deutungsprinzip: die Schrift muss nicht gegen, sondern für Christus, wie durch seine Brille, verstanden werden. Ich denke, dass die ‘bibelkritischen’ Äußerungen Luthers nicht den Zweck hatten, klar unterscheidbare Autoritätsebenen zu schaffen. Es ging ihm um eine Anwendung des „die Bibel erklärt sich selbst“.

Luther unterscheidet ja klar zwischen Gesetz und Evangelium, für ihn sogar das hermeneutische Grundprinzip. Die gesamte Offenbarung steuert auf die Gute Nachricht des Evangeliums Jesu Christi zu. Das Gesetz hat aber seine bleibende wichtige Funktion, darf nur nicht damit vermischt werden. Es steht insofern niedriger als das Evangelium, dass es eben nicht der Höhepunkt der Offenbarung ist und uns nicht rettet. Aber damit ist es ja nicht weniger gut, göttlich oder weniger autoritativ! Die mosaischen Kultgesetze gelten uns Christen nicht mehr, weil wir an den glauben, der diese Vorschriften erfüllte. Sind diese damit nicht mehr Wort Gottes? Die Bergpredigt steht in gewissem Sinne über den zehn Geboten, weil sie gleichsam mehr verlangt bzw. diese autoritativ deutet und so sich auf einer höheren Ebene bewegt. Steht sie damit etwa auf einer anderen Autoritätsebene als z.B. die zehn Gebote?

Es gibt also Arten der Ausdifferenzierung von Autorität in der Bibel selbst, um es einmal etwas gestelzt zu formulieren. Das war allen nachdenkenden Christen und Theologen immer klar. Damit sind wir aber noch nicht bei zwei ganz getrennten Autoritätsebenen. Zimmer müsste erklären, warum sich Jesus so konsequent dem geschriebenen Wort unterordnete. Wenn dies Wort Gottes ist und sich darin die Autorität Gottes ausdrückt, dann macht dies Sinn.

Außerdem fragt man sich, warum diese exakt getrennten drei Ebenen Zimmers nicht früher entdeckt wurden. Aus Luthers Sätzen muss diese Lehre abgeleitet werden, und es ist zumindest sehr fraglich, ob er an solch unterschiedliche Ebenen dabei gedacht hat. Sind diese Ebenen bei anderen Reformatoren nachzuweisen? Warum haben sie keinen Niederschlag in den Bekenntnissen gehabt? Warum haben die lutherischen Theologen diesen Gedanken dann nicht weiterentwickelt? Oder hat es etwa eine anti-lutherische Verschwörung gegeben?

All das will nicht überzeugen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die scharfe Unterscheidung von Autorität Gottes und der der Bibel viel jüngeren Datums ist. Sucht man dann im Fundus der Kirchengeschichte nach Sätzen, die dazu passen, wird man natürlich fündig. John Stott fasst hingegen den reformatorischen Konsens so zusammen: „Die Autorität Christi und die Autorität der Schrift gehen zusammen… Wir müssen uns daher der Autorität der Schrift unterwerfen, wenn wir uns Christus unterwerfen wollen, denn die Autorität der Schrift beinhaltet die Autorität Christi.“ (Evangelical Truth)

Wir wüssten von Gott nichts, wenn er nicht geredet hätte und reden würde. Gibt es eine Kommunikation Gottes mit Menschen, die im Hinblick auf die Autorität über dem geschriebenen Wort der Bibel steht? Es macht doch keinen Sinn zu sagen, Gott steht in der Autorität über seinem Reden. Nach Zimmer dürfen wir die Bibel nicht gegenüber irdischen Autoritäten relativieren, gegenüber Gott schon. Aber woher weiß er denn, nach welchen göttlichen Kriterien er als Mensch die Bibel relativieren kann und Texte wie Hbr 6,4 (s.o. Härle) verwerfen darf? Man muss dann eine Art mystische Jesus-Begegnung jenseits der Schrift konstruieren, die einem so etwas mitteilt. Der Willkür sind dann aber Tür und Tor geöffnet.

Glaube an wen?

Ein weiteres Kennzeichen des fundamentalistischen Bibelverständnisses ist laut Zimmer die Behauptung, die Bibel sei Gottes entscheidende Offenbarung und damit die entscheidende Grundlage des christlichen Glaubens. Er nennt dies eine Halbwahrheit. „Ganz allein Jesus Christus“ sei die Grundlage. Über die Anhänger der fundamentalistischen Position: „Eigentlich glauben die an die Bibel, und weil sie an die Bibel glauben, glauben sie natürlich auch an Jesus Christus.“

Worauf richtet sich rettender Glaube? Zimmer stützt sich nun darauf, dass dies im NT der Glaube an Christus ist, und dies wird gerade von Johannes bevorzugt mit der gr. Konstruktion pisteuein eis oder pisteuein und dem Genetiv ausgedrückt. Zimmer unterscheidet daher kategorisch zwischen Glauben an eine Person und Glauben an Aussagen (oft pisteuein mit Dativ oder hoti). Er leitet davon weiter ab, dass man klar den Glauben an Christus von dem an die Aussagen der Bibel trennen müsse.

Es gibt Lügen mit Statistik, und es gibt Lügen mit Exegese. Nun mag es ja sein, dass eine bestimmte pisteuein-Konstruktion für den Glauben an die Person Jesu gebraucht wurde. Zimmer meint nun, es gäbe hier einen „millimeterscharfen“ Unterschied zu anderen Glaubensobjekten. Hier zieht er jedoch viel zu weitreichende Schlüsse. Natürlich rettet der Glaube an Jesus Christus, doch davon sind ja Aussagen über ihn in keiner Weise zu trennen! Schon der Begriff „Christus“, der Gesalbte, beinhaltet eine Lehre. Glaube an Christus ist Glaube an den Retter, ist Glaube an die Rettungstat und Glaube an die Rettungsbotschaft. So steht das Evangelium als Objekt des Glaubens in Phl 1,27 auch im Genetiv. Und Gott als Glaubensobjekt in Apg 16,34 steht im Dativ. Ein Blick in jede griechische Konkordanz zeigt, wie vielfältig die pistis-Wortgruppe im NT gebraucht werden. Natürlich gibt es hier Gruppen von Gebrauchsweisen, doch man kann sicher nicht behaupten, dass Glaube an Jesus bzw. Gott und Glaube an das Evangelium und Lehren scharf getrennt werden können. Schließlich kann Christus von Lehre und Sätzen über ihn nicht getrennt werden.

Natürlich retten Sätze als solche nicht. Gott rettet Sünder, die Jesus vertrauen. Der Glaube richtet sich auf Jesus, der im Wort mitgeteilt wird. Der Glaube vertraut den Zusagen, die im Wort über Jesus gemacht werden. Glaube an die Person ist nicht von inhaltlichen Aussagen über die Person zu trennen. Zimmer reißt hier auseinander, was zusammengehört.

John Frame hat im schon genannten Buch die verschiedenen Aspekte sehr gut zusammengehalten. Jesus Christus ist das Wort Gottes, der Logos, das Wort in Person. Aber alles Reden Gottes ist sein persönliches Reden. Wir sollen nicht nur auf das Wort hören, sondern alles persönliche Reden achten, annehmen, befolgen, verehren, glauben usw. Weil es Gottes Reden ist, den wir auch achten und verehren sollen, dem wir glauben und vertrauen sollen.

Daher heißt es dann auch im NT, dass Gläubige die Lehre (Apg 2,42; 2 Tim 3,10), „die Gestalt der Lehre“ (Röm 6,17), die „heilsame Lehre“ (1 Tim 1,10), die „heilsamen Worte“ (2 Tim 1,13), die Wahrheit (1 Tim 4,3), das „kostbare Gut“ (2 Tim 1,14) festhalten, darin bleiben, uns daran erinnern, ihnen allen folgen, all dies schützen und bewahren sollen, ja diesen Dingen glauben sollen. Thomas Schirrmacher: „Die Bibel kann gleichzeitig zum Glauben an Gott und zum Glauben an sein Wort aufrufen… Gottes Wort zu glauben bedeutet Gott zu glauben und Gottes Wort nicht zu glauben bedeutet Gott nicht zu glauben.“ In seiner Ethik, Bd. I, stellt der Theologe ausführlich dar, dass die Eigenschaften Gottes im AT wie im NT auch dem Gesetz Gottes und dem Wort Gottes zugesprochen werden. „Obwohl allein Gott heilig… und nur er gut ist…, und es heißt ‘Der Herr ist gerecht’ (2 Chr 12,6), ist auch ‘das Gesetz heilig, gerecht und gut’ (Röm 7,12), weil es aus dem Munde Gottes kommt.“

Zimmer ficht all das sicher nicht an. Er kritisiert mal eben die Lausanner Verpflichtung von 1974, die zuerst von der Bibel und dann von Jesus spricht. In seinen Augen ist diese Reihenfolge „sehr problematisch“. Man dürfe nie die Bibel vor Jesus stellen! Hier kann man nur spitz erwidern, dass der Religionspädagoge Zimmer, der lange an einer pädagogischen Hochschule lehrte, das ABC der Pädagogik der Theologie nicht beherrscht. Denn schließlich haben wir große Freiheit in der Anordnung des Lehrmaterials. Hier gibt es keinerlei Vorschriften, was wann und in welcher genauen Reihenfolge zu verkünden und zu lehren sei.

Sicher, es gibt Dinge, die logisch aufeinander aufbauen. Und es gibt wohl keine Dogmatik, die mit der Eschatologie oder auch der Ekklesiologie anfängt. Manche Bekenntnisse beginnen mit Gott und gehen dann zur Offenbarung über. Bullingers Helveticum beginnt jedoch mit Gottes Reden und der Schriftauslegung. Der Heidelberger Katechismus wieder ganz anders: In einer Art Präambel stellt er die Frucht des Evangeliums, den Trost, an den Anfang; im ersten Teil beginnt er dann aber mit dem „Elend“ des sündigen Menschen. All dies ist mehr oder weniger sinnvoll und vor allem auch an die Situation und die Empfänger gebunden. Ähnliches sehen wir ja schon in den Predigten der Apostel, die je nach Publikum unterschiedliche Ansätze wählten. Dass Lausanne die Schrift an den Beginn setzt, hat vor allem auch damit zu tun, dass sie seit Jahrzehnten hart umkämpft und daher eine klärende Aussage am Anfang durchaus sinnvoll ist.

Zimmer demonstriert hier eine sehr enge und geradezu pseudofromme Sicht, obwohl er doch immer aus der Enge herausführen will.

„Enggeführte Nachwuchstalente“

Zimmer listet die sechs Kennzeichen des fundamentalistischen Bibelverständnisses erst später in seinem Vortrag auf. Als zweiten Punkt führt er an: Die Bibel ist Gottes Wort, d.h. die Begriffe Bibel und Gottes Wort bedeuten das gleiche, sind austauschbar. Dies ist offensichtlich falsch, insofern Gott natürlich auf vielerlei Weise außerhalb der Bibel geredet hat und redet. Daher bedeuten Bibel und Gottes Wort nicht das gleiche; genauso wie Obst und Äpfel nicht das gleiche sind. Was die ‘Fundamentalisten’ aber bekräftigen wollen, ist, dass alle Äpfel auch tatsächlich Obst sind; dass also die biblischen Worte in Gänze Gottes Wort sind. Umgangssprachlich wird unter „Gottes Wort“ meist die Bibel verstanden, und daran ist insoweit nichts auszusetzen, wenn man im Hinterkopf behält, dass dies keine exakte theologische Rede ist.

Auch hier wäre Zimmer wieder zu fragen: Ja, diese Gefahr des plumpen Ineinssetzens mag es ja geben. Aber welcher Unterzeichner der „Chicagoer Erklärung über die Irrtumslosigkeit der Schrift“ – gemeinhin als Dokument des fundamentalistischen Bibelverständnisses angesehen – hat denn Gottes Wort und Bibel als ganz deckungsgleich angesehen? Es ist nicht schwierig, im weiten Bereich des Bibelfundamentalismus unsinnige Thesen zu finden. Um ein fundamentalistisches Bibelverständnis wirklich zu widerlegen, müsste man sich die besten und präzisen Formulierungen von Theologen vornehmen und diese als falsch erweisen. Anstelle der Seitenhiebe auf einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Sätze sollte sich Zimmer auf konkrete Lehren zum Thema von Packer und Schaeffer, von Schirrmacher und Schnabel konzentrieren und diese wirklich fair kritisieren. Ich kann davon in einem Vortrag von immerhin eineinhalb Stunden so gut wie nichts erkennen. Dies zeigt mal wieder: Wenn mehrfach und betont darauf hingewiesen wird, wie „lieb und fair“ man mit dem Gegner umgehen will, dann muss man sich auf Schlimmes gefasst machen. Fair wäre es z.B. gewesen, eine formulierte Selbstdarstellung der ‘Fundamentalisten’ zu betrachten und diese dann Punkt für Punkt argumentativ zu widerlegen.

Zimmer arbeitet jedoch lieber mit der Assoziierung, erkennbar ja schon in der Überschrift des Vortrags. Ich kann nicht erkennen, dass es im Kern um die fundamentalistische Bewegung oder den historischen Fundamentalismus geht. Er berührt diese, wenn es z.B. um die Ablehnung der Evolution (sechstes Kennzeichen) geht. Tatsächlich aber ist nicht der Fundamentalismus als solcher im Visier, sondern das historische, klassische, traditionelle Schriftverständnis. Hat die Bibel selbst göttliche Eigenschaften? Was haben die Denker in der Theologiegeschichte dazu gesagt? Augustinus, von Aquin und Calvin? Zimmer assoziiert das historische Verständnis mit dem Fundamentalismus, von dem sich in Europa ja so gut wie jeder abgrenzt und der nun fast schon für das Böse schlechthin steht. Das fundamentalistische Bibelverständnis muss ja falsch sein! Darauf einzudreschen ist heute kein Problem mehr. Es wäre fair, denn großen Bruch zwischen Alt- und Neuprotestantismus, also vereinfacht gesagt zwischen den Reformatoren und der liberalen Theologie, nachzuzeichnen und nachvollziehbar zu begründen, warum wir heute nicht mehr sagen können, dass die Schrift auch göttliche Eigenschaften hat.

Zimmer setzt an die Stelle von Argumenten lieber die Dramatik: die „Zukunft der Christenheit“ hinge davon ab, ob man sich vom fundamentalistischen Bibelverständnis löse oder nicht. Schalten Sie mal einen Gang runter, Herr Professor!

Besonders beliebt ist schließlich natürlich die Assoziierung von Weite mit dem eigenen Verständnis und Enge mit dem ‘fundamentalistischen’. Wer will schon „eng“ sein? Man dürfe sich nicht in eine „unnötige Enge“ führen lassen, so Zimmer. Eng, engstirnig, ängstlich stellen für Zimmer eine Einheit dar; hinterher kommt dann meist noch Bildungs- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Damit will ja wohl keiner etwas zu tun haben.

Zimmer plädiert für eine „verantwortliche Sicht der Bibel, die nicht enggeführt ist und die nicht andere Formen des Bibelverständnisses verdächtigt“. „Zweidrittel unserer enggeführten Nachwuchstalente können wir im Laufe von sechs Semestern öffnen“, so der Professor über die Lehrtätigkeit an der Hochschule. Darum geht es also. Und so einfach ist das: Offenheit, Weite und Annahme, Risiko, Wagnis und Freiheit werden mit der „modernen Bibelwissenschaft“, also der historisch-kritischen Arbeitsweise an den Unis, verbunden; Dogma, Grenzen und Linien, Angst, Kleinglaube und „Abgrenzungsmentalität“ mit der fundamentalistischen Sicht. Gewiss, das nimmt der fundamentalistischen Sicht den Wind aus den Segeln. Zimmer zeigt damit jedoch, dass er eine viel engere Positionen hat, als er zu erkennen gibt; denn er zwängt die gegnerische Position in ein sehr enges Bett – viele, ja sehr viele, die der „modernen Bibelwissenschaft“ nicht folgen, sind keineswegs engstirnig, ängstlich, bildungsfeindlich usw.

„Was wollte Jesus uns hinterlassen?“

„Endlich eine Theologie, die aufatmen lässt“ – so reagieren viele auf „Worthaus“. Ich glaube aber nicht, dass die „Worthaus“-Theologie auf Dauer die geistliche Atmung verbessert. In einer Sendung aus der Reihe „Fenster zum Sonntag“ des ERF-Schweiz meinte Zimmer im Interview zur Frage „Wer ist Gott?“: „Gott ist erst einmal ein Geheimnis“, er ist verborgen, und „in der Faszination spür ich ihn“. Er hat sich in der Geschichte gemeldet, bei den Propheten und Jesus, und er meldet sich durchaus auch heute. – Hier haben wir den ganzen Salat. Gottes Reden verdampft. Dass wir in der Bibel Gottes klare Selbstoffenbarung vor uns liegen haben, gerät ganz aus dem Blick. Dass Gott für Christen nicht in erster Linie ein Geheimnis ist; dass Christen diejenigen sind, die Gott erkennen (nicht zufällig der Titel von J.I. Packers Bestseller); dass Gott sich an sein geschriebenes Wort gebunden hat und dort erkannt werden will – kaum noch denkbar für Zimmer. Aus der Abschwächung der biblischen Autorität folgt eben fast zwangsläufig die Re-Mystifizierung des christlichen Glaubens wie ja auch bei Rob Bell, Peter Rollins und anderen zu beobachten ist.

Doch es kommt noch schlimmer. „Was wollte Jesus uns hinterlassen?“ wird Zimmer gefragt. Warum, so können wir formulieren, kam er auf die Welt? Inkarnation, Kreuz usw. – wozu das Ganze? Eine Frage, die auf den Kern der christlichen Botschaft abzielt. Zimmer nun: Gott wollte uns durch die Propheten und am stärksten durch Jesus „zeigen, dass er sich mitteilen will; dass er Kontakt mit uns aufnehmen will; dass wir ihm wichtig sind. Und Jesus war eben ein Mensch, der vor allem die Barmherzigkeit gelebt hat; der Interesse an allen möglichen Menschengruppen hatte. Ja ich könnte sagen: Gott wollte uns durch Jesus ein kräftiges Stück zu spüren geben, welche Qualität er hat.“ Sünder erkennen damals wie heute: Gott ist wie Jesus, der sich für uns interessiert, und dann müssen wir unsere „Karten neu mischen“ und unser Verhalten danach ausrichten.

Gott will sich uns mitteilen; er ist an uns interessiert. Ja sicher! Aber ist das wirklich alles?? Diese auf die Kommunikation Gottes reduzierte Gute Nachricht ist aber das Evangelium à la Siegfried Zimmer! „Da solltet ihr mal drüber nachdenken“, kann man da nur den Professor zitieren. Das mag das Evangelium der „modernen Bibelwissenschaft“ und das Evangelium der theologischen Fakultäten an den Unis sein – es ist nicht das Evangelium der Glaubensgrundlage der Ev. Allianz oder der Lausanner Verpflichtung. Und auch nicht das der Reformatoren, die für dieses Evangelium mitunter ihr Leben riskiert und auch eingesetzt haben. Verantwortlichen in der deutschsprachigen evangelikalen Welt, ob nun im Allianzhaus oder Dünenhof, ob nun bei „Spring“ oder beim ERF, sollte dies klar sein. Ansonsten werden sie ihrer Wächterfunktion nicht gerecht. Aber ja, das ist ja dann wieder die ach so verwerfliche „Pass-auf-Mentalität“, die „allgemeine Ängstlichkeit“. Zimmer will aber doch immer, dass man „genau hinschaut“ und dass man keinesfalls blind glaubt. Richtig. Vielleicht sind bei genauerem Hinsehen doch nicht alle Aufpasser und Grenzzieher und Warner so üble Gesellen.

Wir brauchen Aufatmen und Weite, aber wir brauchen vor allem den „frischen Wind der Jahrhunderte“ (C.S. Lewis), d.h. den Schatz der Theologiegeschichte, der wohl als einziger uns vor diesem Gesäusel eines Zimmer mit seinen Gesinnungsgenossen bewahren kann. Es gilt sich zu entscheiden, ob man „problematische Dinge“ in der Bibel zu finden meint, so dass man dann glaubt „die besten Aspekte der Bibel herausziehen“ zu können (Zimmer in einem anderen Video-Beitrag); oder ob man das „geschriebene Wort in seiner Gesamtheit [für] von Gott gegebene Offenbarung“ hält (so die Chicagoer Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit). „Bibeltreue in der Offensive“ sind gefordert, die dem attraktiven und professionell gemachten Angebot von „Worthaus“ endlich etwas entgegensetzen.