Sola oder Solo Scriptura?

Sola oder Solo Scriptura?

„Eine Krise des Schriftprinzips“

Eine Richtungsstreit in der evangelikalen Bewegung Deutschlands hat inzwischen auch die säkularen Medien erreicht. „Aufruhr unter evangelikalen Christen“  (FAZ), „Im Glauben zerrissen“ (Christ & Welt) oder „Evangelikale ringen um Kurs“ (Deutschlandfunk) lauten die Schlagzeilen. Den Stein ins Rollen brachte ein Interview Michael Dieners, des Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz, mit der „Welt“ Mitte Dezember („Chef der Evangelikalen will Homo-Verdammung stoppen“). Ulrich Parzany, altgedienter Evangelist, reagierte mit einem offenen Brief und initiierte ein Treffen eher konservativer Evangelikaler, das am vergangenen Samstag in Kassel stattfand. Wie von Parzany vorgeschlagen wurde ein „Netzwerk Bibel und Bekenntnis“ ins Leben gerufen – eine Art Dach für die theologisch konservativ geprägten Evangelikalen.

Es waren auch Dieners Aussagen zum brisanten Thema Homosexualität, die die Reaktion auslösten. Schon vor Jahren schrieb Heinzpeter Hempelmann, dass „die Frage nach der kirchlichen Haltung gegenüber den biblischen Aussagen zur Homosexualität… von prinzipiellem Rang“ ist. „Das Gesamtzeugnis der Schrift“ sei „schlicht und einfach eindeutig“. Die Schärfe der Diskussion offenbare „ein tieferliegendes Problem. Sie zeigt eine Krise des Schriftprinzips. Sie stellt uns vor die Frage, was im Konfliktfall die Quellen unserer Orientierung sind und worin bzw. ob wir überhaupt die Autorität der Heiligen Schrift noch begründet sehen.“ (Die Autorität der Heiligen Schrift und die Quellen theologischer Entscheidungen)

Parzany hat offensichtlich ebenfalls erkannt, dass im Hintergrund der Diskussion vor allem auch grundlegende hermeneutische Fragen stehen: Die sieben Thesen in seinem offenen Brief vom vierten Advent des vergangenen Jahres beginnen mit der klaren Feststellung „Die Bibel ist Gottes Wort“. Auf dem Portal evangelisch.de ging Mitte Januar ein Interview mit der Theologieprofessorin Angela Standhartinger auf Parzanys Sicht der Bibel und ihrer Auslegung ein:

„Ulrich Parzany behauptet, dass die historisch-kritische Bibelauslegung der Tatsache nicht gerecht würde, dass die Bibel ‘Gottes Wort und Urkunde seiner Offenbarung’ sei. Würden Sie dem zustimmen?“

Die in Marburg lehrende Theologin: „Die Bibel ist nicht insofern Gottes Wort, als sie von Gott diktiert oder vom Himmel gesandt worden wäre – das unterscheidet die Bibel zum Beispiel vom Koran. Sondern die Bibel vermittelt in vielstimmigen menschlichen Worten das, was Menschen an ihren jeweiligen Orten vom Wort Gottes und seinen Wirkungen in ihrem Leben erlebt und erfahren haben. Die Bibel ist also nicht identisch mit der Offenbarung, sondern Zeugnis von Offenbarungserfahrungen. Da diese Zeugen schon 1800 bis 2500 Jahre vor uns gelebt haben, in antiken Sprachen schrieben und eine uns fremde Kultur voraussetzen, muss jede und jeder, um die Bibel überhaupt lesen und verstehen zu können, auf historisch-kritische Auslegungen zurückgreifen.“

Standhartinger fasst hier die Sicht des universitätstheologischen Mainstreams gut zusammen. Damit wird an dieser Stelle auch ein Kern der innerkirchlichen Konflikte berührt.

Natürlich sagt die Professorin in dieser Antwort (und danach) manch Richtiges: Die Bibel muss ausgelegt werden; sie wurde von Menschen in ferner Vergangenheit und anderen Kulturen verfasst, weshalb ein historisches Verständnis dieser Zeit nötig ist, um die Texte zu verstehen; die Bibel ist nicht direkt vom Himmel gefallen, hat vielmehr auch menschliche Autoren. Niemand leugnet, dass die Bibel aus „vielstimmigen menschlichen Worten“ besteht; dass sich in ihr vielfältige Glaubenserfahrungen widerspiegeln. Es ist auch korrekt, dass die Bibel „nicht identisch mit der Offenbarung“ ist, insofern sie nicht das gesamte Reden Gottes enthält, d.h. es gab und gibt auch vielfältige Offenbarung Gottes außerhalb des geschriebenen Wortes.

Darüber hinaus bekräftigt Standhartinger nun aber, dass die Bibel „Zeugnis von Offenbarungserfahrungen“ ist; in ihr findet sich, was Menschen mit dem Wort Gottes erlebt haben. Das Wort Gottes, die Offenbarung, ist demnach eine Größe bzw. ein Ereignis außerhalb der Bibel selbst. Wieder hat sie Recht, dass natürlich auch Erfahrungen mit dem Reden Gottes (und mit dem Wort, Jesus) in den Heiligen Schriften Niederschlag gefunden haben. Die entscheidende Frage ist nun aber: Ist das alles? Ist die Bibel nur Menschenwort? Finden sich in ihr nur Offenbarungserfahrungen – und keine Offenbarung? Wo ist im Hinblick auf die Bibel das Wort Gottes?

Standhartinger gibt eindeutig zu verstehen, dass die Bibel selbst nicht Gottes Wort ist (was Parzany ja bekräftigt). Und das ist ja auch der große Konsens der modernen Theologie: Die geschriebenen Worte der Heiligen Schrift sind als solche in ihrer Gesamtheit nicht Wort Gottes. Die biblischen Schriften haben mit Offenbarung zu tun, aber sie sind nur Dokumente nachgeordneten Rangs: sie sind nicht in sich selbst und als solche Offenbarung. Die Bibel ist demnach in keiner Weise primäre oder eigentliche Offenbarung. Genau an dieser Stelle tut sich eine Kluft auf, besteht eine Wasserscheide in der Theologie. Hier scheiden sich tatsächlich die Geister, und hier sind deswegen Entscheidungen und Stellungnahmen gefordert.

„Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften… das wahre Wort Gottes sind“

Es ist nun in höchstem Maße ironisch, dass sich die moderne Theologie gerne die historische Forschung auf die Fahnen schreibt, die Geschichte des Bibelverständnisses aber weitgehend ignoriert. Oder nur das in der Theologiegeschichte sieht, was man sehen will. Standhartinger wäre zu fragen: Die Bibel sei in ihrem Wesen „Zeugnis von Offenbarungserfahrungen“ – ist das die historische christliche Sicht? Wo kommt diese Auffassung her? Wie alt ist sie? Jeder ehrliche Theologe muss eingestehen, dass Heinrich Bullinger den klassischen Konsens der Kirche Christi darstellt, wenn er gleich im ersten Satz des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses (1566) festhält: die kanonischen Schriften der Bibel sind das „wahre Wort Gottes“. Weil sie es in sich selbst sind, bekräftigen sie auch ihre Autorität selbst. Weil sie Gottes Wort sind, spricht Gott „auch jetzt noch zu uns durch die heiligen Schriften“.

Die Exklusivität, mit der die Kirche die kanonischen Schriften, die Bibel, betrachtete, macht nur Sinn auf dem Hintergrund des gerade geschilderten Verständnisses. Wenn die Bibel aber im wesentlichen Zeugnis von Offenbarungserfahrungen ist, dann liegt ihre Relativierung auf der Hand. Denn Erfahrungen machen alle Gläubigen bis heute. Warum sollten ausgerechnet diese speziellen in der Bibel geschilderten Erfahrungen so einen besonderen Status genießen? Die Menschen damals haben „Wort Gottes“ erfahren, und so tun wir es heute immer noch. Damit wird die Bibel zu einem bloß hilfreichen, anregenden, beispielhaften Buch. Man könnte ihr allerhöchstens eine gewisse Priorität zugestehen, weil z.B. die Jünger den inkarnierten Gottessohn direkt erfahren haben, wie wir dies heute nicht mehr tun. Ihre Erfahrung mit dem „Wort“ war unmittelbarer. Dies ändert aber an der grundsätzlichen Problematik nichts: mehr oder weniger intensive Erfahrungen mit dem Wort Gottes liegen alle auf einer Ebene. Die Einzigartigkeit der Bibel zerrinnt zwischen den Fingern.

Mit dem von Standhartinger formulierten Grundsatz bricht die gesamte traditionelle protestantische Lehre der Schrift zusammen. So ist die Genügsamkeit der Bibel nicht mehr aufrechtzuerhalten. Eine klassische Formulierung findet sich im Westminster-Bekenntnis (Art. I,6): „Der ganze Ratschluss Gottes in Bezug auf alles, was… zum Heil, zum Glauben und zum Leben des Menschen nötig ist, ist entweder in der Schrift ausdrücklich niedergelegt oder kann durch gute und notwendige Schlussfolgerungen aus der Schrift hergeleitet werden. Zu ihr darf zu keiner Zeit etwas hinzugefügt werden, sei es durch neue Offenbarungen des Geistes oder durch menschliche Traditionen.“ Dies ist aus genau dem Grund so, dass die biblischen Worte in sich selbst Gotteswort sind. Das von Standhartinger geschilderte Verständnis lässt solche klaren Schlüsse in keiner Weise zu. Denn meine Offenbarungserfahrung ist jederzeit in der Lage, den Ratschluss Gottes in der Schrift zu ergänzen oder zu korrigieren.

Standhartinger und Kollegen müssen, wenn sie intellektuell aufrichtig sind, eingestehen: Die Sicht der Kirchenväter und Scholastiker, der Reformatoren, der Pietisten und Puritaner war eine andere; und wir können die Exklusivität, die Autorität und die Genügsamkeit der Bibel mit unseren Voraussetzungen nicht mehr begründen und bekräftigen.

„Dass allein die Schrift herrsche“

Die Bibel ist Wort Gottes. Diese Überzeugung reicht von der Patristik bis ins 19. Jahrhundert, als dieser Konsens auf breiterer Front zu bröckeln begann. Fast zwei Jahrtausende grundsätzliche Einigkeit! Wie konnte sich dann aber die neue Auffassung durchsetzen? Wie konnte es zu diesem Traditionsabbruch kommen? Diese Fragen führen zum Verhältnis von Schrift und Tradition.

Das klassische protestantische Verständnis wird mit dem bekannten Schlagwort sola scriptura zusammengefasst. Wie alle prägnanten Formulierungen kann auch diese missverstanden werden. Auf den richtigen Inhalt kommt es an. Die Übersetzung der beiden lateinischen Worte durch „allein die Schrift“ wird oft so verstanden, dass allein die Schrift Autorität habe, d.h. neben ihr gäbe es keine anderen Autoritäten. Das ist offensichtlich falsch. Evangelische dürfen z.B. nicht den Wert und die Wichtigkeit des langen theologischen Erbes der Christenheit unterbewerten. Die Reformatoren schätzten ja die Werke vieler Kirchenväter. Diese haben durchaus Autorität, doch die Bibel hat oberste Autorität, an ihr als einzigem höchsten Maßstab muss sich alle Lehre messen lassen. Sola scriptura ist wohl besser mit „Allein durch die Schrift“ wiederzugeben, was auf ihre einzigartige Funktion hinweist: an der Spitze ist sie die alleinige letzte Instanz, vor der sich alle Lehren verantworten müssen.

Schon in den ersten Jahren der Reformation kristallisierte sich das protestantische Verständnis von sola scriptura heraus. 1520 reagierte Luther mit der lateinischen Schrift Assertio omnium articulorum gegen die Bannandrohungsbulle von Papst Leo X.  Dort stellt der Reformator fest: „Durch keines Kirchenvaters Autorität – mag er noch so heilig sein – [will ich] mich zwingen lassen, sofern seine Meinung nicht durch ein Urteil der göttlichen Schrift bestätigt worden ist.“ Die Heilige Schrift darf auf keinen Fall beiseitegeschoben werden; es dürfen nicht nur die Kirchenväter befragt werden. Luther weiter:

„Niemand soll also mir die Autorität des Papstes oder irgendeines Heiligen entgegenhalten, wenn sie nicht durch die Heilige Schrift untermauert ist, und niemand soll sofort laut schreien, ich wolle als einziger gelehrter als alle scheinen und die Schrift mit meinem eigenen Geist auslegen… Ich will mich nicht rühmen, ich sei gelehrter als alle, aber ich will, dass allein die Schrift herrsche; ich will nicht, dass sie durch meinen Geist oder durch den Geist irgendwelcher anderer Menschen ausgelegt werde, sondern dass sie durch sich selbst und durch ihren eigenen Geist verstanden werde.“

Allein die Schrift soll herrschen – hier taucht vielleicht zum ersten Mal in der Reformation dies „sola“ auf: solam scripturam regnare. Bei Widersprüchen zwischen den Kirchenvätern „muss nämlich mit der Schrift als Richter das Urteil gefällt werden, was aber nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Heiligen Schrift den ersten Platz geben bei allem, was die Väter betrifft.“

Luther unterscheidet sehr gut zwischen den „göttlichen Worten“ der Bibel und davon abgeleiteten menschlichen Lehren: „Es sollen also die ersten Grundsätze der Christen nur die göttlichen Worte sein, die Worte der Menschen aber Schlussfolgerungen, die von jenen abgeleitet und wieder auf sie zurückgeführt werden und an ihnen geprüft werden müssen. Jene [die göttlichen Worte der Schrift] müssen zuallererst jedem völlig bekannt sein, nicht aber dürfen sie durch Menschen kritisch untersucht werden, sondern es müssen Menschen durch sie beurteilt werden.“

Luther schreibt zwar, man müsse „aller Menschen Schriften beiseiteschieben“, aber damit meint er nicht die Verwerfungen der menschlichen Lehren. Sie müssen als Konkurrenten, die die Bibel überdecken und ihr den Rang als oberste Autorität streitig machen, zur Seite treten. Daher stellt er klar: „Dennoch will ich nicht, dass durch diese Schriften den heiligen Vätern ihr Ansehen entzogen werde…“ Theologisch Arbeitende aller Zeiten stehen unter der Schrift und deuten sie, und davon können und sollen wir lernen: „Nur so weit sollen sie [die Kirchenväter] für uns Beispiel sein, dass, so wie sie selbst sich um Gottes Wort ihrer Zeit entsprechend gemüht haben, so auch wir unserem Jahrhundert entsprechend um dasselbe ringen wollen. Es ist ein einziger Weinberg, aber verschiedene Arbeiter arbeiten in ihm zu verschiedenen Stunden… Es ist genug, von den Kirchenvätern Eifer und Sorgfalt, in der Schrift zu arbeiten, gelernt zu haben.“

Es genügt, so Luther ein paar Jahre später in Vom unfreien Willen, seinen Verstand der Schrift zu unterwerfen. „Was kann jene [die Kirche] entscheiden, was nicht in der Schrift entschieden ist?“, so fragt er rhetorisch Erasmus von Rotterdam, gegen den das Werk gerichtet war. „Menschenbeschlüsse“ sind dagegen alle kritisch zu beurteilen, „urteilslos“ soll man sich Menschen nicht unterwerfen, auch nicht der Kirche (wofür Erasmus plädierte).

Auch Calvin betonte in seinem Antwortschreiben an Kardinal Sadoleto (1539): Man darf „den Konzilen und den alten Kirchenvätern erst dann Autorität beimessen, wenn sie der Norm dieses Wortes entsprechen“. In der Kirche ist „auf Vorgesetzte und Begabtere“ – auf magister, die eben mehr (von lat. magis – mehr) können oder wissen – durchaus in Gehorsam zu hören. Doch aller Gehorsam muss „auf die oberste Regel des Wortes Gottes ausgerichtet sein“.

Genauso wenig wie Gehorsam wird natürlich ein Lehramt als solches von Protestanten nicht abgelehnt. Verworfen wird ein Lehramt (lat. magisterium) mit großem „M“; ein Lehramt, dass sich in der Autorität neben und damit praktisch über die Schrift stellt (auch wenn Rom das natürlich leugnet, s. Dei verbum, 10). Allein diese ist „oberster Richter“ (Westminster-Bekenntnis, I,10), niemand sonst. Gleich zu Beginn der lutherischen Konkordienformel (1577): „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einzige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und beurteilt werden sollen, allein die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind.“

Die Evangelischen betonen also, dass sich alles an der Bibel als der obersten Autorität zu messen hat. Schon in den Berner Thesen (1528) hieß es: „Die Kirche Christi macht nicht Gesetze und Gebote ohne Gottes Wort. Deshalb binden alle Menschensatzungen, die man Kirchengebote nennt, uns nicht weiter, als sie im göttlichen Wort begründet und geboten sind.“ (2) Die Kirche selbst ist in der Schrift gegründet, ist „aus dem Worte Gottes geboren“ (1). Diese Traditionslinie reicht bis zum Bekenntnis der Freien reformierten Synode in Barmen (1934): „Die Kirche ist in der Welt unter der Schrift“. Calvin betonte, dass die Schrift „Gottes eigenes Wort“ ist. Weiter in Inst. I,7,1: „Die Bibel kann nur dann den Gläubigen gegenüber volle Autorität erlangen, wenn sie gewiß wissen, dass sie vom Himmel herab zu ihnen kommt, als ob Gottes eigene Stimme hier lebendig vernommen würde.“ Stärker könnte – gegen Standhartinger & Co.! – nicht betont werden, dass die Bibel wirklich und wesentlich Gottes Offenbarung, sein Wort, ist.

Solo scriptura

Wir sahen schon, dass die Reformatoren durchaus auch Wahrheiten außerhalb der Bibel anerkannten und achteten; die Bibel ist nicht die einzige Quelle von Wahrheit. In seiner berühmten Antwort auf dem Reichstag zu Worms 1521 nennt Luther z.B. auch „klare Vernunftgründe“, denen er sich beugen wolle. Aber die Vernunft muss sich auch wieder der Schrift beugen.

Die Bibel ist nicht die einzige Autorität, aber sie steht im Rang über Bekenntnissen, Traditionen und einem kirchlichen Lehramt. Sie kann nicht irren, anders als Auslegungen, Konzile, Bekenntnisse, der Papst und alle Theologen. Sie allein ist göttlich inspiriert und fehlerlos, herrscht allein. Daher betonen Evangelische, dass die Autorität von Amtsträgern der Kirche nur eine abgeleitete Autorität ist. Sie sind nur dann eine Autorität, wenn sie mit dem Wort Gottes in Einklang stehen – ihre Vollmacht leitet sich von der Schrift ab. Calvin konnte daher betonen: „So nehmen wir die alten Synoden, wie die zu Nicäa, zu Konstantinopel… gern an, wir verehren sie als heilig,… denn sie enthalten nichts als reine und ursprüngliche Auslegung der Schrift.“ (Inst. IV,9,8)

Tradition als solche wird also keineswegs verworfen, im Gegenteil. Es wäre völlig töricht, all die in zweitausend Jahren angesammelten theologischen Lehren in Gänze beiseite zu schieben. Denn darin würde sich ein ungeheurer Hochmut ausdrücken. Schon immer haben Menschen die Bibel interpretiert, und sehr oft haben sie das Wort Gottes richtig gedeutet. Für Protestanten ist Tradition in diesem Kontext der überlieferte Weg der Deutung der Schrift innerhalb der Glaubensgemeinschaft, keine separate Glaubensquelle.

Während der Reformation war daher der Grundkonflikt nicht Schrift gegen (alle) Tradition. Es ging viel mehr um die richtige Zuordnung von beiden: In welchem Verhältnis stehen Bibel und menschliche Lehren? Von katholischer Seite wird den Evangelischen gerne vorgeworfen, ihre Grundsätze würden zu Chaos in der Lehre führen; schließlich darf und soll ja jeder Christ die Bibel lesen und interpretieren. Die Tradition als die ausufernde Deutungen der Schrift korrigierendes Element würden sie aber ablehnen.

Gegen dieses Missverständnis unterstrich schon Bullinger zu Beginn des zweiten Kapitels im Zweiten Helveticum: „Die Auslegung der heiligen Schriften“ ist „nicht dem Belieben jedes Einzelnen anheimgestellt. Deshalb billigen wir nicht alle möglichen Auslegungen.“ Nur das ist „als rechtgläubige und ursprüngliche Auslegung der Schriften“ anzuerkennen, „was aus ihnen selbst gewonnen ist“, und zwar durch „Prüfung aus dem Sinn der Ursprache“, „Berücksichtigung des Zusammenhangs“, „Vergleich mit… weiteren und klareren Stellen“.

Dieser Prozess beginnt in der Kirche aber eben nicht bei null. „Deshalb verachten wir nicht die Auslegungen der heiligen griechischen und lateinischen Kirchenväter, und wir mißbilligen auch nicht ihre Auseinandersetzungen und Abhandlungen über heilige Dinge, sofern sie mit den Schriften überstimmen.“ Bullinger fasst zusammen: „Darum anerkennen wir in Sachen des Glaubens keinen anderen Richter als Gott selbst, der durch die heiligen Schriften verkündigt, was wahr und falsch sei, was man befolgen und was man fliehen müsse.“

Damit ergibt sich natürlich eine Kreisbewegung: Wir lesen die Heilige Schrift aus der Perspektive unserer Traditionen; die Deutungen der Glaubensgeschwister der Vergangenheit helfen uns bei der Interpretation der Bibel, sie beeinflussen in jedem Fall unser Bibelstudium. Die Bibel wiederum formt und prägt, korrigiert und kritisiert die Tradition. Dieser hermeneutische Zirkel kann auch als Spirale gedacht werden, die sich nach oben schraubt. Damit wird veranschaulicht, dass es echten Erkenntnisfortschritt gibt (s. z.B. Grant R. Osborne, The Hermeneutical Spiral).

Diese Kreisbewegung wird zerstört durch solo scriptura; durch die schon oben kritisierte Auffassung, dass die Bibel unsere einzige Autorität sei und wir keine Bekenntnisse und Lehrtraditionen bräuchten, um sie richtig zu deuten. Danach stehe die Bibel nicht nur allein zuoberst, sie steht ganz allein – eben solo. „No creed but the Bible!“ lautet das ‘Bekenntnis’ gerade in so manchen fundamentalistischen Kirchen der USA und anderswo. Auf dem Hintergrund all des Gesagten ist diese Position zu verwerfen. Die Bibel soll zwar groß gemacht werden, doch dieser Ansatz führt geradezu unausweichlich dazu, dass einzelne Menschen groß gemacht werden. Die von der Auslegungsgeschichte abgekoppelten  Theologen, Pastoren und Kirchenleiter deuten dann, wie es ihnen gefällt und in den Sinn kommt – der Auslegungswillkür ist hier nun wirklich Tür und Tor geöffnet und der Weg ins Sektiererische nicht weit.

Bibel und Bekenntnis

Solo scriptura wird meist mit strenggläubigen Gruppen verbunden. Das Phänomen begegnet aber auch am anderen Ende des theologischen Spektrums. Die hermeneutische Spirale der Bibeldeutung funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass an den Kategorien Wahrheit und Falschheit festgehalten wird. Bullinger betonte ja, dass Gott „durch die heiligen Schriften verkündigt, was wahr und falsch sei“. Dies ist absolut grundlegend und entscheidend. Ist die Bibel aber wesentlich „Zeugnis von Offenbarungserfahrungen“, so kann man auch nicht behaupten, dass Gott uns durch sie objektiv Wahres mitteilt. Denn Erfahrungen als solche sind nicht wahr oder falsch, sie werden einfach gemacht oder nicht. Wenn die Bibel mir exemplarische Glaubenserfahrungen vor Augen stellt und mehr nicht (wenn sie z.B. nicht auch noch wahre und autoritative Deutungen dieser Erfahrung liefert), dann kann ich mich davon anregen lassen und sie mir zum Vorbild nehmen – was wahr und was falsch ist, bleibt dann aber ganz außen vor. Für die Personen der Bibel waren dann ihre Erfahrungen ‘wahr’, und für uns heute sind unsere Erfahrungen ‘wahr’. Mit Wahrheit und Falschheit im eigentlichen Sinne hat dies aber nichts mehr zu tun.

Im von Standhartinger formulierten Paradigma führen die verschiedenen Zeugnisberichte von Offenbarungserfahrungen auch zu bestimmten Aussagen über Gott und die Glaubenslehren in der Bibel selbst. Aufgrund ihrer Erfahrungen haben z.B. die Apostel dann ihre Christologie oder Paulus seine Rechtfertigungslehre formuliert. Es ist dann aber nicht mehr möglich, dies als objektiv wahr zu bezeichnen oder dass Gott selbst uns dadurch wirklich Wahres – auch für uns Wahres – tatsächlich mitteilt.

Gehen uns die Kategorien Wahrheit und Falschheit verloren, so haben wir aber auch keine Instrumente mehr in der Hand, um die Deutungen der Bibel in der Vergangenheit zu bewerten. Wenn es in der Theologiegeschichte aber keine echten Wahrheiten mehr zu entdecken gibt, dann wird sie weitgehend uninteressant und kann getrost ignoriert werden.

Man spürt etwas vom Ernst der Lage, wenn man im kirchlichen Kontext, auch im evangelikalen, Aussagen wie diese in den Raum stellt: Der Heidelberger Katechismus sagt in dieser oder jener Frage die Wahrheit. Oder: Diese Position in der Kirchengeschichte kommt der Wahrheit eindeutig näher als jene. Oder: Wer diese oder jene Lehre leugnet (man denke an die Warnung im Athanasium zur Verwerfung der Trinität), ist kein Christ. Es dauert gewiss nicht lange und es wird erwidert: Woher kommt unser Hochmut zu meinen, wir hätten die Wahrheit?

Wenn wir aber in der Kirchen- und Theologiegeschichte nicht mehr einen Schatz von Wahrheiten finden, echten Wahrheiten, wahren Wahrheiten (in Anlehnung an F.A. Schaeffers „true truth“) – wenn auch nicht vollkommene und nicht mehr kritisierbare –, dann werden wir die Wahrheiten der Bibel kaum noch verteidigen können. Wenn die Tradition verachtet wird, wird es auch kaum möglich sein, an der Wahrheit Gottes in der Heiligen Schrift festzuhalten. Die christliche Tradition hat die Wahrheit hochgehalten,  und dies gilt für Katholiken, Orthodoxe und Protestanten.

Keith A. Mathison hat in „Solo Scriptura – The Difference a Vowel Makes“ sehr gut darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert besonders auch liberale Theologen und Geistliche solo scriptura hochhielten. Er nennt Simeon Howard, Charles Beecher und A.B. Gosh. Diese wollten angeblich nur auf die Bibel und nichts anderes hören. Bekenntnisse, Glaubenssysteme, Konzilsbeschlüsse usw. – weg damit. Wird sola scriptura aber zu solo scriptura radikalisiert, wird das Schriftprinzip letztlich abgeschafft.

Die Krise des Schriftprinzips ist also immer auch eine Krise des Bekenntnisprinzips. Denn Schrift und Bekenntnis bilden eben einen Kreis. Die Wahrheit Gottes in der Bibel wird von Menschen gedeutet, die in ihren Lehrdokumenten Wahrheiten formulieren, die wiederum die Wahrheit der Schrift bekräftigen und schützen. Im Ringen um die Deutung der Schrift sind die Bekenntnisse der gesamten Kirchengeschichte unerlässlich.

Bekenntnisse als Wahrheitsquellen haben selbst in den großen und alten Kirchen weitgehend ihre Bedeutung verloren. Wer kommt heute noch auf den Gedanken und fragt: Was haben ‘die Alten’ dazu gesagt? Wer will schon „einbetonierter Standpunktfetischist“ (A. Malessa) sein? Und im theologischen Unterricht wird die Schatztruhe des theologischen Erbes viel zu wenig beachtet. Denn wer will schon einer  „dogmatisch starren Theologie der Sesshaftigkeit“ folgen und sich an „alten Landkarten“ orientieren, „die immer weniger mit der Wirklichkeit zu tun haben, aber wenigstens die Illusion von Ordnung aufrecht halten“ (P. Aschoff)?

Das neugebildete Netzwerk verweigert sich diesem Trend, der vom protestantischen Schriftprinzip nicht viel übrig lässt. Dies ist nur im Doppelpack von Bibel und Bekenntnis zu bewahren. Insofern ist es nur zu begrüßen, dass das Netzwerk beide Aspekte im Namen führt: „Bibel und Bekenntnis“.