Alte und neue Freunde in der Schweiz

Alte und neue Freunde in der Schweiz

Die zweite Wiege der Reformation

Wittenberg im Ost von Sachsen-Anhalt gilt als Wiege der Reformation. Der Zusatz „Lutherstadt“ macht jedem klar, dass vor allem an diesem Ort der Reformator Martin Luther gewirkt hat. In der Stadt des Thesenanschlags vom 31. Oktober 1531 begegnet die Reformation auf Schritt und Tritt.

Leider wird zu oft vergessen, dass es im deutschspachigen Raum noch weitere frühe Zentren der Reformation gab. Straßburg im Elsass wäre hier zu nennen. Und Zürich in der Schweiz steht in der Bedeutung der sächsischen Stadt im Norden kaum nach. Am Grossmünster von Zürich predigte seit 1519 Pfarrer Ulrich Zwingli ein klares Evangelium: allein aus Gnaden und durch den Glauben an Christus allein werden Menschen gerettet.

In Deutschland brachten die Ablassthesen Luthers einen Stein ins Rollen. In der Eidgenossenschaft war der entscheidende Funke das Wurstessen im Haus des Druckers Froschauer am 9. März 1522. Eine Gruppe von Männern aß während der vorösterlichen Fastenzeit mehr oder weniger öffentlich von einer aufgeschnittenen Wurst. Zwingli verteidigte in einer Predigt und Schrift den bewussten Bruch der kirchlichen (und staatlichen) Fastengebote. Ähnlich wie Luther trat er das Tor zur christlichen Freiheit auf.

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Ulrich (o. Huldrych) Zwingli

In den Jahren 1523 bis 1525 wurde in Zürich schrittweise die Reformation eingeführt. In den folgenden Jahren gingen auch weitere Städte der Schweiz mit ihren Territorien wie Bern, Basel und Schaffhausen auf die evangelische Seite über. Wie Deutschland blieb aber auch die Schweiz konfessionell gespalten. Ein Zusammengehen der Lutheraner und der Reformierten aus dem Süden scheiterte, da es bei einer theologischen Konferenz im Herbst 1529 in Marburg zu keiner Einigung über die Deutung des Abendmahls kam (damals trafen sich Luther und Zwingli zum ersten und letzten Mal).

Nach Zwingli Tod auf dem Schlachtfeld von Kappel 1531wurde Heinrich Bullinger zum „Antistes“ (Hauptpfarrer) von Zürich gewählt. Über 40 Jahre übte dieser sein Amt aus und konsolidierte die Reformation in der Stadt und in der ganzen Schweiz. Bullinger kam zu einer Einigung mit Johannes Calvin, der in Genf wirkte, über die Theologie der Sakramente. Außerdem verfasste er ein Bekenntnis, dass alle Schweizer reformierten Kirchen als einigendes Band annahmen: das Zweite Helvetisches Bekenntnis von 1566.

Dieses Bekenntnis – ausführlich genug und alle wichtigen Lehrfragen abdeckend, aber auch nicht ausufernd – wurde bald in andere europäische Sprachen übersetzt, z.B. auch ins Polnische. In Polen-Litauen (seit 1569 eine Staatenunion) war der evangelische Glaube ebenfalls weit vorgedrungen. Allerdings trat König Sigismund II. August, trotz aller Hoffnungen Calvins und anderer evangelischer Führer, nicht zur Reformation über. Um die eigene theologische Position klar darzulegen, übernahmen die Evangelischen von Polen und Litauen bei der Synode von Sandomir (poln. Sandomierz) im Jahr 1570 das Bekenntnis von Bullinger. In Polen prägte sich daher auch der Name „Sandomirer Bekenntnis“ ein.

Mit dieser wichtigen Synode positionierten sich die polnisch- bzw. litauischsprachigen Evangelischen der Länder und schlugen sich klar auf die Seite der schweizerischen und calvinistischen Reformation. Die Deutschen in den beiden Ländern rechneten sich meist der lutherischen Konfession zu. Eine klare Trennung wurde damit auch von den Antitriniariern, den Leugnern der Dreieinigkeit Gottes, vollzogen. Diese Bewegung war gerade in Polen-Litauen recht stark.

In der litauischen reformierten Kirche gilt bis heute das Zweite Helvetisches Bekenntnis neben dem Heidelberger Katechismus als Bekenntnisgrundlage. Im Jahr 2011 erfolgte eine erste Übersetzung aus dem lateinischen Text ins Litauische. Warum so spät?

In der reformierten Kirche Litauens gab es über Jahrhunderte hinweg nicht wenige Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Weißrusslands und auch noch südlich davon, in der heutigen Ukraine. Dort sprach man polnisch bzw. weißrussisch. Polnisch wurde auch in einigen Pfarreien im eigentlichen Litauen benutzt. Die Synodensprache war bis um 1900 ebenfalls das Polnische. Bis etwa zur Zeit des letzten Weltkriegs beherrschten auch alle Pfarrer diese Sprache. Es gab also keine große Notwenigkeit, das Helveticum ins Litauische zu übersetzen. Der Heidelberger Katechismus wurde dagegen schon im 19. Jahrhundert übersetzt, um das ‘einfache’ Volk im Glauben zu unterrichten.

„Bibel und Bekenntnis“

Die reformierten Kirchen der Schweiz haben im 19. Jahrhundert die Bekenntnisse ‘entsorgt’ und sind seitdem „bekenntnisfrei“. Andere Kirchen, wie in Ungarn, Rumänien, Polen und eben auch Litauen halten weiterhin am schweizerischen Bekenntnis fest. Allerdings muss man eingestehen, dass das Helveticum in unserer Kirche zu wenig bekannt ist und bisher keine tiefen Wurzeln geschlagen hat. Das liegt natürlich auch daran, dass es erst gut zehn Jahre in litauischer Sprache vorliegt. Holger wird daher ab Herbst dieses Jahres den Ältesten der gesamten Kirche in einer 12-teiligen Vorlesungsreihe einen Überblick über die Lehren des Helveticums geben.

Die theologischen Wurzeln unserer litauischen Kirche liegen also u.a. in der Schweiz. In Westeuropa bzw. im deutschsprachigen Raum bestehen bisher nur zur Lippischen Landeskirche gute Beziehung. Seit 1992 verbindet ein Freundschaftsvertrag die beiden evangelischen Kirchen Litauens (lutherische und reformierte) und die Kirche im Osten von Nordrhein-Westfalen. Kontakte in die ‘Urheimat’ Schweiz bestanden so gut wie keine. Zu erwähnen ist vielleicht nur, dass Gottfried Locher, der damalige Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunde (SEK, seit 2020 EKS: Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz) 2007 an den Feiern zu 450 Jahren reformierte Kirche in Litauen teilnahm.

Die Reformierten Litauens bemühen sich einigen Jahren um eine Rückkehr zu Bibel und Bekenntnis. Deutlich wird dies an dem Bemühen, alte wie neue reformatorische Bekenntnistexte in litauischer Sprache herauszubringen. Meist in Kooperation mit anderen Verlagen bzw. Kirchen erschienen nach dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis 2011 eine ganze Reihe anderer Dokumente (Neuauflage des Heidelberger Katechismus, 2014; New City Catechism, 2015; Westminster-Bekenntnis, 2016; Belgisches o. Niederländisches Bekenntnis, 2020).

„Bibel und Bekenntnis“ ist auch der Name des Netzwerks, das 2016 auf Initiative des Evangelisten und Pfarrers Ulrich Parzany (Jg. 1941) entstanden war. Im Herbst 2021 bildete sich in der Schweiz ein unabhängiges Schwesternetzwerk gleichen Namens. Wie in Deutschland vereinigt es Pfarrer und Laien aus dem evangelikal-pietistischen Spektrum, die vor allem Mitglieder der Landeskirchen, aber auch von Freikirchen sind.

In der Schweiz wirkte im Jahr 2019 die Debatte um die sog. „Ehe für alle“ in der reformierten Kirche wie ein Katalysator. Das klare Bekenntnis der SEK-Leitung um Locher zur „Homo-Ehe“ führte damals zum Protest von Pfarrern, gerade aus dem erwecklich geprägten Zürcher Oberland. Mehrere Hundert Theologen und Hirten unterschrieben eine Protestschrift, in der sie den kategorischen Worten Lochers widersprachen und ihre Weigerung ausdrückten, gleichgeschlechtliche Paare kirchlich zu segnen oder zu trauen.

Das Schweizer Netzwerk, in dessen Vorstand u.a. fünf reformierte Pfarrer verschiedener reformierter Landeskirche wirken, veranstaltet zwei Mal im Jahr eine Tageskonferenz, bei der alle Interessierten willkommen sind. Am 16. März in den Gemeinderäumen der reformierten Kirche in Winterthur-Seen ging es um das Thema „Schöpfung und Vollendung“. Einen Überblick über die Referate gibt es hier. Holger nahm auch an der Veranstaltung teil und sagte ein kurzes Grußwort. Er konnte mit einigen Teilnehmern der Konferenz gute Gespräche führen und die Leiter des Netzwerks kennenlernen.

Am folgenden Tag besuchte Holger den Gottesdienst in der reformierten Kirche von Bäretswil, eine halbe Autostunde östlich von Zürich. Seit einigen Jahren ist dort Lukas Zünd als Pfarrer tätig. Vor zwanzig Jahren studierte er übrigens Film im polnischen Łódź. Zünd gehörte zu den Mitinitiatoren des Protests von 2019 und ist einer der Leiter von „Bibel und Bekenntnis“ in der Schweiz. Holger erfreute sich der Gastfreundschaft von Familie Zünd. Er ist angefragt, bei einer der Konferenzen im kommenden Jahr zum Thema Jesus Christus als Referent zu sprechen.

Die Kontakte zu „Bibel und Bekenntnis“ sind für uns neu. Andere Freundschaften in die Schweiz sind dagegen schon Jahrzehnte alt. Seit vielen Jahren pflegt die VBG Kontakte nach Osteuropa. Wie die SMD in Deutschland ist die VBG als evangelikale Studentenarbeit ebenfalls nach dem II Weltkrieg entstanden und ein Gründungsmitglied der IFES. Viele Jahre reiste Hansjörg Baldinger, von der VBG freigestellt für evangelistische Dienste im postkommunistischen Osten, durch Russland, Lettland und Litauen. Für eine erste Hochschulwoche an der Šiauliaier Universität im Herbst 1997 kam er mit einer Gruppe junger Schweizer. Viele Besuche in Litauen folgten noch bis 2010, und fast immer stieg Hansjörg auch bei uns in Šiauliai ab.

Vor vierzehn Jahren übernahm André Tapernoux die Leitung von LINK, der Osteuropahilfe der VBG, da Hansjörg in den Ruhestand ging. André war einige Jahre im IFES-Team von Kaliningrad und spricht daher leidlich russisch. Er arbeitet ehrenamtlich und reist daher auch nicht so intensiv ins Baltikum wie sein Vorgänger. LKSB, die litauische Studentenarbeit im Rahmen der IFES, wird seit vielen Jahren von den LINK-Freunden in der VBG finanziell unterstützt. Wer weiß, ob LKSB ohne diesen treuen Beistand aus der Schweiz heute noch existieren würde. Hansjörg und André traf Holger am 15. März in Zürich. So Gott will, werden die Beziehungen zu evangelikalen Christen in der Schweiz weiter wachsen.

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Mit Hansjörg und André

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„Bibel und Bekenntnis“-Tagung in Winterthur

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Boris Schmidtgall von „Wort&Wissen“ bei seinem Vortrag

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Reformierte Kirche in Bäretswil (ZH)

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Gottesdienst mit Alphorn-Begleitung

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An der Täuferhöhle bei Bäretswil; dort nahmen im 16. und 17. Jhdt. verfolgte Täufer Zuflucht

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Vor der Täuferhöhle mit Pfr. Lukas Zünd

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Zürich mit dem Grossmünster, wo ab 1519 Zwingli predigte

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Relief von Heinrich Bullinger, Autor des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses, am Grossmünster

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Im Grossmünster

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Im Fraumünster

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Den Chorraum des Fraumünsters schmücken Glasfenster von Marc Chagall; hier König David

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In der Predigerkirche, einer der vier reformierten Altstadtkirchen

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