Der Heilige Litauens

Der Heilige Litauens

Am ersten Wochenende im März ist der Rummel in Vilnius immer groß: es ist Kasimir-Messe, auf Litauisch „Kaziuko mugė“. Tausende strömen durch die Altstadt und an zahllosen Ständen auf dem Gediminas-Prospekt vorbei, um Kunsthandwerk und lokale Spezialitäten zu erstehen oder an einer der Bühnen mit Musikgruppen stehenzubleiben. Man könnte fast schon vergessen, dass der Anlass für das Volksfest eine Ablasswoche der katholischen Kirche ist. In der ersten Märzwoche wird dieser Ablass, der Nachlass der zeitlichen Sündenstrafen, seit Jahrhunderten begangen, denn am 4. März wird des Heiligen Kasimirs gedacht. Er gilt als der Schutzheilige des ganzen Landes.

Monarchen galten in heidnischen und antiken Zeiten seit jeher als Mittler zwischen irdischer und jenseitiger Welt. Als halbgöttliche Wesen und oftmals oberste Priester garantierten sie das Wohl des Landes. So wundert es nicht, dass im Christentum die prominentesten Schutzpatrone der Staaten ebenfalls aus königlichen Familien stammten. In Russland wurde Heerführer Alexander Newski heiliggesprochen, in Ungarn König Stephan, und Frankreichs König Ludwig IX. wurde Ende des 13. Jahrhunderts „der Heilige“. Jedes angesehene europäische Fürstengeschlecht war darauf bedacht, seinen Heiligen hervorzubringen.

Kasimir von Polen-Litauen war der Enkel von Jogaila (poln. Jagiello). Der litauische Großfürst hatte 1386 eine polnische Prinzessin geheiratet und damit beide Länder in einer Personalunion verbunden sowie die Christianisierung Litauens eingeleitet. Als zweitältester Sohn von König Kasimir IV. Andreas und dessen Frau Elisabeth von Habsburg rückte Kasimir Jun. in der Thronfolge bald auf den ersten Rang, nachdem sein Bruder König von Böhmen geworden war.

Der Thronanwärter und zeitweilige Stellvertreter des Vaters (deshalb auch immer mit Krone dargestellt) war durchaus begabt für staatsmännische Aufgaben. Doch wahrscheinlich wäre er lieber Priester oder Mönch geworden. Kasimir galt als außergewöhnlich fromm, der Kirche und den Armen zugewandt. Obwohl Prinz hielt er an einem wahrlich asketischen Lebensstil fest und verweigerte wegen eines Gelübdes die Eheschließung. Am 4. März 1484, vor 540 Jahren, starb Kasimir – gerade 25 Jahre alt. Wahrscheinlich hat die Tuberkulose dem geschwächten Körper den Rest gegeben.

Ein sehr religiöser Prinz mit (aus katholischer Sicht) vorbildlichem Lebensstil war ein hervorragender Kandidat für einen Nationalheiligen – und so sollte es dann auch kommen. Unter Papst Leo X. („Luthers Papst“) wurde der Prozess der Kanonisierung in Rom begonnen. Es dauerte dann aber noch bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts: 1604 wurde Kasimir endlich heiliggesprochen – der erste und bisher einzige Heilige Litauens (der aber, wovon auszugehen ist, nur polnisch, deutsch und lateinisch sprach).

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Bildnis des Fürsten mit drei Händen oberhalb des Altars in der Kasimir-Kapelle

„Du bist unsere Hoffnung, du bist unser Schutz“

Rom musste damals in die Offensive gehen, um Litauen nicht ganz an die Reformation zu verlieren. Um 1600 waren immerhin schon an die 40 Prozent der Einwohner im Großfürstentum evangelisch. Die Jesuiten wirkten an der Bildungsfront von der 1579 gegründeten Vilniuser Universität aus, und für die Volksfrömmigkeit brauchte man Heilige und Wunder. In Schriften der Zeit heißt es, dass, kaum war Kasimir gestorben, Wunder am Sarg des Prinzen geschahen: „Die Blinden haben hier ihr Augenlicht wiedererlangt, die Tauben ihr Gehör, die Stummen ihre Fähigkeit zu sprechen, und Lahmen konnten wieder gehen…“ Selbst eine Auferstehung von den Toten wurde Kasimir zugeschrieben. Sie ist in der äußerst prächtigen St. Kasimir-Kapelle der Kathedrale von Vilnius dargestellt.

Das berühmteste von Kasimirs Wundern soll sich 1518 in der Nähe von Polotsk im heutigen Belarus ereignet haben. Kasimir erschien auf einem weißen Pferd und überquerte das Wasser, um dem Heer des Großfürstentums Litauen zu helfen, den angestiegenen Fluss Daugava zu überqueren und das deutlich größere Moskowiter Heer zu besiegen. Und als im Jahr 1604, also der Heiligsprechung, mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod, der Sarg Kasimirs geöffnet wurde, soll vom fast unversehrten Körper des Königssohns ein angenehmer Geruch aus dem Sarg aufgestiegen sein. Auch diese Szene ist in einem Fresko in der Kapelle dargestellt.

Im Jahr der Kanonisierung wurde außerdem der Grundstein für die mächtige Kasimir-Kirche im Zentrum von Vilnius gelegt, ein Steinwurf vom Alten Rathaus entfernt. Im Zarenreich machten die russischen Herrscher aus der Kirche des Nationalheiligen eine orthodoxe Kirche. Und in der Sowjetunion wurde das Gotteshaus sogar zu einem Museum des Atheismus. Heute trägt die Kirche wieder die Krone des Jagellonen und wird vom Jesuitenorden betreut.

Im Jahr 1636 wurde Kasimir schließlich zum Schutzpatron Litauens ernannt. In diesen Jahren wurde auch die überaus reich von italienischen Künstlern ausgestattete Kasimir-Kapelle an der Kathedrale errichtet. In ihrem Zentrum befindet sich ein silberner Sarkophag mit den Überresten des Prinzen und darüber ein Bildnis des Heiligen, in der Hand eine Lilie als Symbol der Keuschheit.

Casimirus

Stich aus dem 17. Jahrhundert mit Szenen aus dem Leben des Heiligen

Der Kasimir-Kult breitete sich weit in Europa aus, gerade in den durch Habsburger beherrschten Gegenden wie Süditalien oder dem heutigen Belgien. Besondere Verehrung genießt er natürlich in seiner Heimat Polen und Litauen. 1610 rief Piotr Skarga, Uni-Rektor und Chef der Jesuiten in Vilnius und der große Gegenspieler des reformierten Andreas Volanus, die Litauer auf: „Verlassen wir uns auf sein Gebet für uns, denn er ist unser Verwandter, unser Hausgenosse, der Sohn dieses Reiches und der Liebhaber seines Volkes…“ Und in einem Gebet aus dem späten 18. Jahrhunderts heißt es: „Himmlischer Kasimir, wir glauben, dass du der besondere Schutzpatron unserer Nation und dieser Heimat beim allmächtigen Gott bist… Du bist unsere Hoffnung, du bist unser Schutz. … denn du bist mächtig“.

Im Verlauf des 17. Jahrhundert gelang es der römisch-katholischen Kirche in Litauen das Ruder noch einmal herumzuwerfen. Während der Gegenreformation wurde der Protestantismus erfolgreich zurückgedrängt. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Erscheinung Marias in Šiluva (einem Zentrum der Reformierten) im Jahr 1608 und die Kanonisierung Kasimirs ein paar Jahre zuvor. Um das Volk zurückzugewinnen, wurde in Europa ein wahrer Boom von wundersamen Phänomenen produziert – bis hin zu den heute seltsam erscheinenden Levitationen von Joseph von Cupertino (1603-1663), der wohl war ein unübertroffener Meister des Fliegens war…

Bis heute ist der Heiligen- und Marienkult untrennbar mit Wundern verbunden. In Litauen gibt es eine ganze Reihe von wundertätigen Gemälden, Reliquien, Stätten, Quellen usw., und besonders verehrt werden die Mariendarstellungen: die „Himmelskönigin“ zieht in Orten wie Šiluva, Žemaičių Kalvarija, Pivašiūnai oder Tytuvėnai bis heute viele Katholiken an. Das erste der Maria zugeschriebenen Wunder am Tor der Morgenröte in Vilnius soll sich 1671 ereignet haben.

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In der Kapelle des Heiligen, im Zentrum der Sarkophag mit den Überresten Kasimirs

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Kasimir-Kapelle (mit runder Kuppel) an der Kathedrale von Vilnius

„Uns genügt Gott und der Mittler Christus“

Weder Luther noch Calvin haben Wunder gewirkt, und niemand hat an ihren Gräbern besondere Wunder erlebt – zumindest ist nichts davon berichtet. Aus katholischer Sicht brachte die Reformation eine wahre Not an Wundern in die evangelischen Länder. Dieser kulturelle Kontrast prägt auch noch die heutigen, säkular beeinflussten Gesellschaften. Und bis heute werden die Katholiken in Litauen aufgefordert, sich an Kasimir um Hilfe zu wenden, da er Gebet erhören kann und will; man solle „eine persönliche Beziehung“ zu ihm pflegen.

Um der einzigen Mittlerschaft Christi willen, wegen des Solus Christus, haben die Reformatoren von Anfang an den Marien- und Heiligenkult abgelehnt. Dass Gläubigen Christus völlig genügt, hat in Ländern mit großer katholischer Mehrheit nichts an Aktualität verloren. In den Schmalkadischen Artikeln schrieb Martin Luther: „Anrufung der Heiligen ist auch der antichristlichen Mißbräuche einer und streitet wider den ersten Hauptartikel [über Gott] und tilgt die Erkenntnis Christi. Ist auch nicht geboten noch geraten, hat auch kein Exempel in der Schrift, und sie haben’s alle tausendmal besser an Christus…“

In Zürich drückte es Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger im Zweiten Helveticum (das auch in der reformierten Kirche Litauen Bekenntnisrang hat) so aus: „Darum beten wir nicht die himmlischen oder göttlichen Heiligen an, geben ihnen nicht göttliche Ehre, rufen sie auch nicht an, noch anerkennen wir sie als unsere Fürsprecher und Mittler vor dem Vater im Himmel. Uns genügt Gott und der Mittler Christus, und die Ehre, die wir Gott und seinem Sohn schuldig sind, geben wir niemand anders…“ (V).

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Kasimir-Kirche in Vilnius, erbaut zu Beginn des 17. Jahrhunderts