Vor 100 Jahren: „Aufstand“ in Memel

Vor 100 Jahren: „Aufstand“ in Memel

Das Deutsche Reich verlor den Ersten Weltkrieg und musste herbe Gebietsverluste hinnehmen. Klar war, dass Elsass-Lothringen wieder an Frankreich fiel; der Bezirk Posen ging an das wiedererstandene Polen. Es kam aber auch ein neues Prinzip zur Anwendung. US-Präsident Wilson sprach in seinem Friedensplan von 1918 vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Eine konkrete Anwendung fand dieser Grundsatz in Volksabstimmungen an den Randgebieten des Reiches. Die Einwohner von Nordschleswig, Oberschlesien und Masuren stimmten 1920 darüber ab, zu welchem Staat sie zukünftig gehören wollten. Schleswig und Oberschlesien wurden geteilt, die polnischsprachigen Masuren votierten für einen Verbleib im Reich.

Die Hafenstädte Danzig sowie Memel/Klaipėda stellten wichtige Sonderfälle dar. Polen benötigte einen Hafen an der Ostsee, doch die Bevölkerung von Danzig wollte sich keineswegs von Deutschland trennen. Die Schaffung der „Freien Stadt Danzig“ aufgrund des Versailler Vertrags 1920 war eine Art Kompromiss. Im nördlichen Teil von Ostpreußen, jenseits der Memel, verfuhr man wieder anders. Es wurde ebenfalls vom Deutschen Reich abgetrennt, aber vorerst im Auftrag des Völkerbundes durch eine französische Besatzung verwaltet. Die Siegermächte des Krieges planten anfangs eine spätere Übergabe an Litauen, das wie Polen ebenfalls einen Zugang zur Ostsee anstrebte.

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1422 legten Polen-Litauen und der Deutsche Orden die Grenze des späteren Ostpreußens fest, die fast 500 Jahre Bestand haben sollte. Das Herzogtum Preußen wendete sich dann fast genau einhundert Jahre später der Reformation zu; die deutschen, litauischen und polnischen Einwohner des Gebiets wurden evangelisch. Über Jahrhunderte bildete sich eine eigenständige Kultur heraus, die sich vom katholisch dominierten Polen bzw. Litauen unterschied. Nach dem Ersten Weltkrieg wollten auch die „Preußisch-Litauer“, wie sie seit dem 18. Jahrhundert genannt wurden, mehrheitlich bei Berlin bleiben. Das lange vom Zarenreich beherrschte Litauen galt in ihren Augen als rückständig und arm. Wie bei den evangelische Masuren spielte der Konfessionsunterschied die wichtigste Rolle: Im katholischen Polen bzw. Litauen wollte man nicht zu einer kleinen und benachteiligten Minderheit werden.

Die neue litauische Republik betrachtete hingegen den ganzen Nordosten Ostpreußens als ethnisch litauische Erde („Klein-Litauen“). Allerdings konnte sie sich mit ihren weit reichenden Gebietswünschen nicht durchsetzen. Im Vertrag von Versailles schnitten die Alliierten nur das „Memelgebiet“ von Deutschland ab. Eine Volksabstimmung wurde nicht durchgeführt, da sie gewiss zugunsten des Reichs ausgefallen wäre.

Frankreich und Großbritannien hofften in den Nachkriegsjahren, dass sich ein starker polnisch-litauischer Staatenbund als Puffer zum bolschewistischen Russland herausbilden würde. Schließlich waren beiden Länder schon einmal, von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Aufteilung 1795, in einer Union miteinander verbunden. Die Litauer hatten aber verständlicherweise kein Interesse mehr daran, den kleinen Juniorpartner in einem Groß-Polen zu spielen. Zwischen beiden Ländern kam es sogar zum Krieg: Litauen verlor 1922 den ganzen Osten mit Vilnius an Polen, konnte aber seine Unabhängigkeit erhalten. Provisorische Hauptstadt wurde Kaunas.

Auf dem Hintergrund dieser neuen Feindschaft änderten die Alliierten ihre Pläne. Für das Memelland sah man nun einen „Freistaat Klaipėda“ unter dem Schutz des Völkerbundes vor, also in etwa nach dem Vorbild von Danzig. Die Deutschen des Gebiets, die in der Stadt Memel/Klaipėda eindeutig die Mehrheit stellten, begrüßten dieses Projekt. Man hoffte, dass dies ein erster Schritt zu Wiedereingliederung in das Deutsche Reich sein würde. Die Anhänger einer Vereinigung von Klein-Litauen mit der Republik Litauen sahen dies völlig anders. Vilnius war schon verloren gegangen – und nun auch noch Klaipėda? In den Augen der Regierenden in Kaunas galt der Ostseehafen für die Landesentwicklung als unerlässlich.

Ende 1922 bildete sich unter den Litauern Ostpreußens ein „Ausschuss zur Errettung des Memelgebietes“. Am 9. Januar 1923 veröffentlichte die Leitung unter Martynas Jankus ein zweisprachiges „Manifest an die Bewohner des Memelgebiets“. Darin wird im Grunde ein Putsch bekannt gegeben: „Von heute an nehmen wir die Macht und die Regierung im Memelgebiet in unsere Hände“. Um der Ausrufung des Freistaats zuvorzukommen, inszenierte die Regierung in Kaunas einen „Aufstand“ der örtlichen Litauer. Tatsächlich kamen rund eineinhalb Tausend Kämpfer ohne Uniformen aus der Republik. Nur ganz wenige litauische Memelländer beteiligten sich an der Erhebung gegen die drohende „Sklaverei“, wie es in dem Manifest hieß.

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Der Zeitpunkt für den „Aufstand“ war gut gewählt, denn die leicht bewaffnete französische Besatzung zählte nur noch einige hundert Mann. Am 10. Januar überschritten die als Freischärler getarnten litauischen Einheiten die Grenze im Süden und besetzten zügig Heydekrug/Šilutė. In Klaipėda selbst kam es jedoch zu stundenlangen Kampfhandlungen mit den Franzosen. Am 15. Januar gaben sich die französischen Einheiten unter Gabriel Petisné der Übermacht geschlagen. Zwölf „Freiwillige“ auf Seiten der Litauer, zwei Franzosen und ein deutscher Polizist fielen. Ums Leben kam außerdem ein unbeteiligtes deutsches Mädchen.

Wenige Tage später verkündete der „Seimas von Šilutė“ den Anschluss an die Republik Litauen. Das diplomatische Tauziehen begann. Der inszenisierte Aufstand hatte Erfolg, da die Alliierten nicht eine militärische Lösung des Konflikts anstrebten. Briten und Franzosen hätten ja ohne große Probleme die internationale Rechtsordnung wiederherstellen können. Ein drohendes Kriegsschiff im Hafen von Klaipėda und ein paar tausend Mann hätten genügt. Aber in beiden Ländern war die Kriegsmüdigkeit groß. Die Briten hatten viele Sorgen in Irland, das sich gerade die Unabhängigkeit erkämpft hatte, Griechen und Türken bekriegten sich usw.

Von litauischer Seite wurde Antanas Smetona ins Memelgebiet entsandt. Der erste Präsident (1919-1920) Litauens war in der Opposition, genoss aber international gutes Ansehen und bewies viel diplomatisches Geschick. Er erreichte den baldigen Abzug der französischen Einheiten und verhinderte ein Aufheizen der Atmosphäre. Litauen wurde die vorübergehende Souveränität über das Gebiet übertragen. Aber erst 1924 konnte  die Memelfrage abschließend völkerrechtlich geregelt werden: am 8 Mai wurde in Paris von den europäischen Siegermächten des Krieges sowie Japan und Litauen die „Memelkonvention“ unterzeichnet. Sie sah eine weitgehende Autonomie des Memelgebietes innerhalb Litauens vor. Die Verwaltung des Landes wurde im „Memelstatut“ im Anhang der Konvention geregelt.

Trotz dieser Übereinkunft kam das Memelland nicht wirklich zur Ruhe. Die litauische Regierung investierte zwar viel in das Gebiet, vor allem in den Ausbau des Hafens, aber die einheimische Bevölkerung mit viel Sympathien für Deutschland konnte nicht gewonnen werden. Die litauischen Behörden verletzten nur zu oft das Memelstatut und gingen vor nach dem Motto „Litauen den Litauern“. Das 1926 im Rahmen des Staatsstreichs in Kaunas verhängte Kriegsrecht wurde im Memelgebiet bis 1938 beibehalten, was die Rechtsautonomie weitgehend außer Kraft setzte und die Grundrechte der Memelländer stark beschnitt. Daher hatten die Nazis in den 30er Jahren ein recht leichtes Spiel, die deutschsprachigen Einwohner des Memelgebiets für sich zugewinnen. Im März 1939 erzwang Hitler die „freiwillige“ Rückgabe des Territoriums von Litauen an Deutschland. Der Diktator sprach selbst auf dem Balkon des Theaters in Klaipėda nach dem „Anschluss“ auch dieses Gebiets.

Adolf Hitler at the mass rally in Memel, 1939 (b/w photo)

Menschenmenge auf dem Theaterplatz in Memel am 23. März 1939

Memel/Klaipėda wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend zerstört. Dem Kampfhandlungen fielen auch die lutherische sowie die reformierte Kirche zum Opfer.  Die großen Türme beider Kirchen waren für Schiffe weithin sichtbar. Nach dem Krieg wurde das Memelland Teil der Sowjetrepublik Litauen. Die Reste der deutschen Bevölkerung, aber auch nicht wenige Memelländer mit litauischen Wurzeln siedelten bis in die 60er Jahre nach Deutschland um. Nur sehr wenige Alteingessene blieben zurück.

Klaipeda,_Monument_to_the_United_Lithuania_-_panoramio

2023 wurde vom Parlament Litauens zum „Jahr des Landes Klaipėda“ erklärt. In vielen Ausstellungen und Veranstaltungen wird an den „Aufstand“ (lit. „sukilimas“) vor einhundert Jahren erinnert. Der Begriff „Aufstand“ hat sich schon lange eingebürgert, wobei nun meist kleinlaut zugegeben wird, dass er inszenisiert war, also tatsächlich keinen Aufstand der Einwohner im Memelland darstellte. Aber bekanntlich schreiben die Sieger die Geschichte, und so steht seit 2003 in Klaipeda ein gewaltiges Denkmal, das die Einheit von Klein- und Groß-Litauen symbolisiert, darauf die Worte der Dichterin Ieva Simonaityte (1897–1978), die im Bezirk Klaipeda geboren wurde:  „Wir sind ein Volk, ein Land, ein Litauen“.

Heute macht sich die litauische Regierung für die Strafverfolgung Putins und seiner Helfer stark und hält das Völkerrecht hoch. Dass im Januar 1923 internationales Recht von litauischer Seite bewusst gebrochen wurde, ist nun leider kein Thema. Der eigene Nationalismus ist eben immer der richtige.