Das Besondere des christlichen Lebens

Das Besondere des christlichen Lebens

Die reformierte Kirche in Vilnius wurde 1835 erbaut. Äußerlich ähnelt das Gebäude einem griechisch-römischen Tempel. Damals war der Klassizismus in der Architektur in Mode. In der Sowjetunion wurde das Gotteshaus als Kino genutzt; zuvor waren natürlich alle christlichen Elemente des Baus beseitigt worden. 1990 erhielt die reformierte Kirche das Gebäude zurück; die Ortsgemeinde gründete sich neu.

Seit 2019 wird das gesamte Äußere der Kirche mit Mitteln des staatlichen Denkmalschutzes erneuert. Ende Oktober dieses Jahres konnten die Arbeiten an der Vorderfront so gut wie abgeschlossen werden. Über der Eingangstür sind nun die Worte des auferstandenen Jesus „Friede sei mit euch“ zu lesen. An einem sonnigen Herbsttag hob ein großer Kran drei mannshohe Skulpturen auf das Dach. Den Giebel zieren nun wieder zwei knieende Engel und in der Mitte, auf der Dachspitze, eine weibliche Figur. Sie stellt in symbolischer Form die Tugend des Glaubens dar. Über den mächtigen Säulen vor dem Eingang ist in sehr großen Buchstaben die Aufschrift „Soli Deo Gloria“ zu lesen: Allein Gott sei Ehre.

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Der lehrende Jesus – Darstellung der Bergpredigt im Tympanon der reformierten Kirche in Vilnius

Die Fassade der Kirche ‘predigt’ wie kaum eine andere in Litauen. Es ist wohl kein Zufall, dass ein großes Relief im Giebeldreieck Jesu Bergpredigt darstellt. In der Mitte sitzt der lehrende Jesus, links und rechts sind die Zuhörer zu sehen, Männer wie Frauen. Auch ein Kind und eine stillende Mutter sind in Stein abgebildet. Die Bergpredigt Jesu finden wir im Matthäusevangelium, Kapitel 5 bis 7 (und kürzer in Lukas 6).

Der anglikanische Theologe John Stott sah in Matthäus 6,8 die Hauptaussage der Bergpredigt gut zusammengefasst: „Macht es nicht wie sie“ (NGÜ), die Heiden oder Nichtchristen; oder in Luthers Übersetzung: „Ihr sollt ihnen nicht gleichen“. In diesem Vers spricht Jesus über das Gebet, aber in der gesamten Predigt geht es im Grunde um diesen Aufruf an alle Glaubenden: seid anders, unterscheidet euch von der nichtchristlichen Umwelt.

Auf der einen Seite leben Christen genauso wie alle anderen Menschen: sie unterhalten sich in den Landessprachen, kleiden sich wie andere Menschen auch, haben allermeist ‘weltliche’ Berufe, gründen oft Familien, gehen wie andere Bürger wählen, kaufen bei Edeka und Amazon ein usw. usf. Auf der anderen Seite leben an Jesus Glaubende aber auch anders. Zu diesem Anderssein war schon das Volk Israel berufen. In 3. Mose 18,3 heißt es: „Lebt nicht so, wie man in Ägypten lebt…, auch nicht wie man in Kanaan lebt“.

Damals wie heute muss sich das Volk Gottes von seiner Umwelt unterscheiden. Es muss einen Kontrast zwischen christlichen und nicht-christlichen Normen der Moral und des Verhaltens geben. Die Bilder aus der Bergpredigt dafür: „Seid das Salz der Erde“ und „das Licht der Welt“ (5,13–14). Was dies im Einzelnen bedeutet, zeigen die Briefe des Neuen Testamentes. In ihnen sind zahlreiche Anweisungen für ein erneuertes Leben, das Gott gefällt, zu finden.

Die Christen der ersten Jahrhunderte kamen dieser Aufforderung Jesu und der biblischen Schriften nach. Oft handelten sie nach dem Motto „Da machen wir nicht (mehr) mit!“ Das galt z.B. für die Kindesaussetzung. Im wohl doch nicht so zivilisierten römischen Reich war es üblich, ungewollte Neugeborene einfach auszusetzen, also dem Tod zu überlassen. Oft wurde dieser ‘menschliche Abfall’ aufgesammelt, um als Sklaven herangezogen und später verkauft zu werden. Auch die vorgeburtliche Tötung von Kindern war im römischen Reich an der Tagesordnung. Diese Praxis lehnten die Christen, wie schon die Juden zuvor, ebenfalls ab.

Die Römer warfen den Christen so manches vor. In einem antiken Text heißt es: „Ihr besucht keine Schauspiele, nehmt an den öffentlichen Prozessionen nicht teil; die öffentlichen Gastmähler und die heiligen Spiele finden ohne euch statt.“ Mit anderen Worten: ihr seid asozial! Ihr schwimmt gegen den Strom! Die Gläubigen ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie lehnten Gier und Geiz, Lüge und Verleumdung, Ausbeutung der Armen, sexuelle Ausschweifungen und Ehebruch ab. Und natürlich nahmen sie nicht an den heidnischen Kulthandlungen teil, die das ganz öffentliche Leben durchzogen.

Das Leben der Nachfolger Jesu unterscheidet sich von dem der Ungläubigen. In negativer Hinsicht sollen sie der bösen Umwelt nicht gleich sein (6,8). Sie machen vieles nicht mit. Das ist sehr wichtig, genügt aber nicht. Sie werden auch aufgerufen, in positiver Hinsicht das „Besondere“ zu tun (5,47). Das Wort findet sich im Abschnitt der Bergpredigt über die Feindesliebe. Die Liebe zu den liebevollen Menschen in unserem Umfeld, zu unseren Familienangehörigen und Freunden, ist das Normale, das Natürliche. Diese Liebe ist nicht zu verachten, aber sie ist eben nicht das Besondere. Das ist die Feindesliebe. Dazu gleich noch mehr.

Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)

Christen sind dazu berufen, das Besondere oder Außergewöhnliche zu tun. Das betonte auch Dietrich Bonhoeffer. Der bekannte evangelische Theologe wurde von den Nazis einige Wochen vor Kriegsende gehängt. 1935 bis 1937 bildete er angehende Pastoren im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde aus. Im Rahmen dieser Lehrtätigkeit entstand Bonhoeffers Buch Nachfolge. Es erschien erstmals 1937. Etwa die Hälfte der Schrift ist der Auslegung der Bergpredigt gewidmet. Denn gerade in ihr zeigt Jesus, wie er sich die Nachfolge seiner Jünger, aller an ihn Glaubenden, vorstellt.

Die Überschrift des Kapitels, in dem Bonhoeffer Matthäus 5 auslegt, lautet „Vom ‘Außerordentlichen’ des christlichen Lebens“. „Worin besteht ‘das Christliche’?“, fragt Bonhoeffer und führt dann aus: „Das Christliche ist das ‘Sonderliche’,.. das Außerordentliche, das Nichtreguläre, Nichtselbstverständliche. Es ist das, was an ‘besserer Gerechtigkeit’ die Pharisäer ‘übertrifft’, über sie hinausragt, das Mehr, das Darüberhinaus… Wo dies Sonderliche, das Außerordentliche nicht ist, da ist das Christliche nicht.“

Deutliche Worte, über die wir heute vielleicht auch stolpern. Was heißt dies nun? Grundsätzlich ist das Besondere des christlichen Lebens vor allem eins: Der Nachfolger Jesu will seinem Herrn immer ähnlicher werden. Er will in „Das Bild Christi“ verwandelt werden. So heißt auch das letzte Kapitel in Bonhoeffers Buch. Das ist nun wirklich etwas Besonderes; denn ein Nichtchrist hat so ein Interesse überhaupt nicht. Er will Jesus gar nicht ähnlicher werden. Der Christ dagegen weiß: der Mensch wurde zum Ebenbild Gottes geschaffen; allerdings hat die Sünde dieses Bild fast bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet, all seine Schönheit zerstört. Wenn Glaubende „wie Christus“ werden, werden sie wieder wahre Menschen, gewinnt das verlorene Ebenbild Gottes wieder Gestalt.

In den beiden letzten Abschnitten in Matthäus 5 zeigt Jesus an zwei Beispielen, was dies praktisch heißt. Von Vers 38 bis 42 geht es um das Böse und die Vergeltung. Wenn Menschen Böses angetan wird, ist die gewöhnliche Antwort diese: sich rächen; es dem Bösewicht heimzahlen, nach dem Motto: wie du mir, so ich dir; einfach zurückschlagen – mit Worten oder Taten.

Jesu Aufforderung „setzt euch nicht zur Wehr“ (V. 39) bedeutet jedoch nicht, sich vom Bösen einfach überwältigen zu lassen. Er sagt ja nicht: wenn euch Böses angetan wird, dann lasst es einfach geschehen (was allerdings auch besser als das Rächen ist); tut einfach gar nichts. Jesus fordert überraschenderweise zum Handeln auf. Er skizziert uns vier kleine Schritte, vier gewaltlose Wege, wie Christen kreativ auf Böses antworten können. Jesus ruft dazu auf, dem Bösen mit einer überraschenden Antwort zu begegnen: Halte die andere Wange hin, gib das andere Kleidungsstück, geh die andere Meile mit, gib den anderen, „der etwas von dir ausleihen möchte“. Er will, dass wir mehr nachdenken und mehr Kreativität zeigen als bloß Zurückschlagen oder gar nichts tun.

Kreativität im Umgang mit dem Bösen ist also eine wichtige Weise, das Besondere des christlichen Glaubens auszudrücken. Der nächste Abschnitt zur Feindesliebe geht noch einen Schritt weiter. In Vers 44 heißt es: „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen“. „Der Feind – das ‘Außerordentliche’“ ist Bonhoeffers Überschrift.  Feindesliebe ist „ein unerträglicher Anstoß“, so seine Worte; „die ungeteilte Liebe zum Feind, die Liebe zu dem, der keinen liebt und den keiner liebt; die Liebe zum religiösen, zum politischen, zum persönlichen Feind“ – das ist wirklich das Besondere und Außerordentliche. Feinde lieben – so etwas tut ‘man’ nicht.

Was ist das Außerordentliche, das die Kirchen in Europa jetzt, während des Krieges zwischen der Ukraine und Russland, tun? Nun, wo Feindschaft in Europa neu aufgebrochen ist? Nach Bonhoeffer darf es nicht fehlen, aber wo ist es? Jesus gibt eine klare Antwort: das Gebet für den Feind. „Das ist das Äußerste“, so Bonhoeffer. Jesus betete vom Kreuz aus für seine Feinde (Lk 23,34), ebenso wie Stephanus bei seinem Martyrium (Apg 7,60).

Ab Vers 44 sind in dem Abschnitt alle Verben in der Mehrzahl – nicht „du“, sondern „ihr“. Das zeigt uns, dass es sich um ein Gebot für das gemeinsame Gebet handelt. Bonhoeffer schreibt: „Im Gebet treten wir zum Feind, an seine Seite… Wir nehmen seine Not und Armut, seine Schuld und Verlorenheit mit auf uns, treten vor Gott für ihn ein. Wir tun nun stellvertretend für ihn, was er nicht tun kann.“

Der Gottesdienst der Kirchen sollte regelmäßig Gebete für unsere konkreten Widersacher, Verleumder und Verfolger enthalten. Insbesondere in Zeiten der Not und Verfolgung, der Vertreibung und des Kriegs sind christliche Gemeinden zum Gebet der Fürbitte aufgerufen: für die persönlichen, weltanschaulichen und politischen Feinde. Wir müssen uns fragen: Schließen unsere Gebete – gemeinschaftlich oder privat – oft genug Gebete für Gegner und Feinde ein? Vom bösen Nachbarn bis hin zu bösen Staatsführern?

Was wäre geschehen, wenn die Christen Deutschlands im Ersten Weltkrieg für die Franzosen und Briten gebetet hätten? Für die Geschwister in den Kirchen der Länder, für die feindlichen Soldaten und für die dort Regierenden? Leider hat man sich vor den Karren des nationalen Hasses spannen lassen. Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ wurde für das Schlachten mißbraucht und umgedeutet: die Liedzeile „und wenn die Welt voll Teufel wär“ wurde auf die verfeindeten Völker umgedeutet.

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Wer weiß, vielleicht wären Millionen weniger gestorben, wenn sich die Kirchen in Europa auf ihren besonderen Auftrag besonnen hätten. Heute ist es verstörend zu sehen, dass auch Christen so wenig aus der blutigen Geschichte Europas und dem Versagen der Kirchen lernen wollen. In Litauen wird nun das „Gebet für die Ukraine“ in allen Kirchen ganz großgeschrieben. Dagegen ist nun gewiss nichts, aber auch gar nichts einzuwenden. Das Problem ist nur: das Gebot Gottes, für die Feinde, auch die politischen und nationalen, zu beten, wird meist geflissentlich ignoriert.

Vers 45 nennt einen Grund für die Liebe zu den Feinden: „Damit erweist ihr euch als Söhne eures Vaters im Himmel“. Die gleiche Verbindung stellt Jesus in den Seligpreisungen her: „Glücklich zu preisen sind die, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (5,9). Alle wahren Gläubigen sind Kinder Gottes. Deshalb sind sie alle aufgerufen, in der Praxis der Feindesliebe zu wachsen.  Alle sollen aktiv Frieden stiften.

Warum ist nun ausgerechnet die Feindesliebe das besonders Christliche? In Vers 45 heißt es weiter: „Denn er lässt seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und lässt es regnen für Gerechte und Ungerechte.“ Gott liebt all diese Menschen, auf die die Sonne scheint, auch die bösen. Selbst in der Natur sehen wir also Gottes Liebe zu den Feinden. Die genannte Liebe führt nicht zum ewigen Heil, aber es ist wirklich Güte Gottes, die auch Ungläubige tagein, tagaus erfahren.

Jesus ermutigt also das zu tun, was Gott selbst täglich tut. Gott tut auch den „Gottesverächtern“ (Röm 1,30), den ihm Ungehorsamen, den Nichtglaubenden Gutes. Gott hat seine ihm feindliche Welt so sehr geliebt, dass Er ihr seinen Sohn gab. Gott zeigt seine Gnade sowohl in der Erhaltung der Natur als auch in der Entsendung seines Sohnes ans Kreuz.

Gott ist Liebe – diese Worte überraschen uns nicht weiter. Aber vergessen wir nicht, dass diese Welt sehr tief gefallen ist und sich im Zustand der Feindschaft gegen Gott befindet (s. Rom 5,10; Kol 1,21; Eph 2,16). Ein Gott, der die Welt liebt, ist ein Gott der ungeheuer große Feindesliebe zeigt. Christus wurde von Gott gesandt, um seine Feinde zu lieben, deshalb werden seine Jünger gelehrt, ihre Feinde zu lieben. Wenn Gott seine Feinde durch Leiden versöhnt hat, dann dürfen diejenigen, die Christus treu nachfolgen wollen, ihre Feinde nicht anders behandeln.

„Die Feindesliebe führt den Jünger auf den Weg des Kreuzes und in die Gemeinschaft des Gekreuzigten“, schreibt Bonhoeffer. Vor dem Kreuz erkennen die Christen, „dass sie selbst unter den Feinden Jesu waren“. Ohne diese Erkenntnis kann keine Feindesliebe entstehen. Denn sie kommt nicht von selbst, sie ist wirklich das Außergewöhnliche. Sie ist gewiss kein Verdienst der Glaubenden. Sie verlangt ein Wunder im Herzen.

Krieg und Frieden beginnen in der Bibel nicht in der großen Politik, sondern im Herzen des Einzelnen. Wer Frieden mit Gott gefunden hat, wird sich in der Nachfolge des großen Friedensstifters auch für Frieden einsetzen – in Familie und Gemeinde, Arbeit und Gesellschaft. Er wird demütig in der Gemeinschaft der Glaubenden bekennen, wie viel Hass noch in unseren Herzen schlummert, und er wird Fürbitte für Widersacher und Feinde tun.

Der Abschnitt der Bergpredigt endet mit einem ungewöhnlichen Aufruf: „Ihr aber sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ In unseren Ohren klingt bei dem Wort „vollkommen“ fehlerlos mit. Der einzelne Christ wäre damit tatsächlich überfordert. Aber auch hier ist wieder die Gemeinschaft der Glaubenden angesprochen: „Ihr“ sollt so sein. Die Kirchen sollen beispielhafte Gemeinschaften des Friedens und der Barmherzigkeit sein. Sie werden zu dieser besonderen gemeinsamen Barmherzigkeit heranreifen, wenn sie gegen Hass zwischen Menschen und Völkern anbeten; wenn sie die einzige Botschaft des Friedens mit Gott klar verkündigen; wenn sie selbst den Frieden verkörpern; und wenn sie das Anstößige und Außergewöhnliche tun – für die Feinde zu beten.