Der Patriarch
Er allein gegen das „Imperium des Bösen“ in der Gestalt von Gorbatschow – das Plakat des Dokumentarfilms von Sergei Loznitsa über „Mr. Landsbergis“ (2021) spricht Bände. Vytautas Landsbergis ist international sicher der bekannteste Politiker der jüngeren Geschichte Litauens – und lebt immer noch gut vom Ruhm des Freiheitskampfes vor Jahrzehnten. Der Musikprofessor wurde 1988 zum Vorsitzenden der Unabhängigkeitsbewegung „Sąjūdis“ gewählt. Nach der ersten freien Wahl zum Obersten Sowjet (Parlament) Anfang 1990 übernahm Landsbergis den Vorsitz des Parlamentspräsidiums. Das Land rief seine Unabhängigkeit von der UdSSR aus. Aus der Sąjūdis ging später die Partei „Tėvynės sąjunga“ (Vaterlandsunion) hervor, die auch seit 2020 die Regierung anführt.
Nach 1992 hatte Landsbergis keine wirklich einflußreichen Ämter mehr inne. Bei den Präsidentschaftswahlen 1997 kam er nicht in die zweite Runde. Anders als der letzte KP-Chef Algirdas Brazauskas wurde er auch nicht Regierungschef oder Minister (nur Parlamentsvorsitzender von 1996 bis 2000). 2004 wechselte Landsbergis für zehn Jahre ins EU-Parlament. Die Vaterlandsunion ist fest auf ihren Übervater eingeschworen, und so hatte Landsbergis auch keine große Mühe, seinen Enkel Gabrielius 2015 als Parteivorsitzenden zu installieren (s. hier). Dass der bis dahin politisch völlig Unerfahrene außer dem berühmten Namen zu wenig Qualifikation besaß und besitzt, zeigte das Gerangel um den Transit russischer Waren nach Kaliningrad in diese, Sommer: Außenminister Landsbergis Jun. machte in dem heißen Spiel um Krieg und Frieden eine sehr schlechte Figur.
Landsbergis Sen. wird im Herbst 90, ist aber in den Leitmedien immer noch fast allgegenwärtig – fast kein Tag vergeht ohne Interview und Stellungnahmen des Patriarchen der litauischen Politik. Doch an ihm scheiden sich die Geister: die einen verehren ihn zutiefst, die anderen sparen nicht mit Verachtung und Spott (in Umfragen bewerten ihn etwa Dreiviertel der Befragten negativ). Kein Wunder, dass auch ein Gesetz vom Ende Juni das Land spaltet: Mit knapper Mehrheit erklärte der Seimas Landsbergis rückwirkend zum offiziellen „Staatsoberhaupt“ der Jahre 1990 bis 92 – und das trotz massiver verfassungsrechtlicher Bedenken und zum Entsetzen mancher der noch lebenden alten Mitstreiter. Es ist eben nicht alles Gold, was in Landsbergis Biographie glänzt. Die erste Regierungschefin Kazimiera Prunskienė (heute schwerkrank) musste sich von Landsbergis&Co. Vorwürfe der Agententätigkeit für Moskau gefallen lassen. Doch Landsbergis selbst war in Sowjetzeiten alles andere als ein Dissident, genoß nicht wenige Privilegien wie Auslandsreisen. Vieles spricht dafür, dass er seinen Klassenkameraden und Freund Aloyzas Sakalas an den KGB verpfiff. Sakalas, später Sozialdemokrat der ersten Stunde, landete im GULAG. Mitte Juli verstarb er. Mglw. ließ Landsbergis Anfang der 90er ihn selbst belastendes Material aus den Archiven verschwinden. Alexander Solschenizyn hatte schon recht, wenn er im Der Archipel GULAG schreibt: Es sind nicht hier die Guten, da die Bösen – „der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen“.